Читать книгу Das Leben als letzte Gelegenheit - Marianne Gronemeyer - Страница 10

3. Lebensspanne und Lebensverachtung

Оглавление

Der Tod, der die Würde des Menschen verletzt und der nicht mehr dem Willen Gottes, sondern einem launigen Schicksal oder einem ehernen Naturgesetz gehorcht und schließlich auch aus eigener Machtvollkommenheit handelt, ist entweder ein Verhängnis oder ein Skandal. Man kann ihm mit Klage begegnen oder mit Verachtung, mit Gleichmut oder mit Geringschätzung des irdischen Lebens, mit Empörung oder Rebellion; man kann ihm schließlich die Stirn bieten und ihm den Kampf ansagen. Auf alle diese Antworten sind die Menschen in ihrer Verstörung durch das blinde Wüten des Pesttodes verfallen. Anfangs waren es eher die kleinmütigen Reaktionen, mit denen sie die Todesfurcht zu beherrschen versuchten. Die großspurigen folgten später. Zuletzt gewann die Kampfansage an den Tod die Oberhand.

„Keine Zeit hat mit solcher Eindringlichkeit jedermann fort und fort den Todesgedanken eingeprägt wie das fünfzehnte Jahrhundert … Aus dem großen Gedankenkomplex, der um das Sterben kreist, konnte diese Zeit in ihr Bild des Todes eigentlich nur einen Zug aufnehmen: den Begriff der Vergänglichkeit.“ (J. Huizinga 1975, S. 190)

Nicht nur der Totentanz, in dem der Tod unterschiedslos Menschen jeden Standes und Alters in die Polonaise zwingt, taucht als Sujet in der bildenden Kunst auf, sondern auch der verwesende Körper. Es ist, als sollte der Schrecken der bevorstehenden Zersetzung des eigenen Körpers gebannt werden durch die denkbar drastischste Ausmalung dieses Vorgangs in Wort und Bild: „Bis tief ins sechzehnte Jahrhundert hinein zeigen die Grabmäler die abscheulich variierten Darstellungen der nackten Leiche, verwest oder zusammengeschrumpft, mit verkampften Händen und Füßen und klaffendem Munde, mit den sich ringelnden Würmern in den Eingeweiden.“ (J. Huizinga 1975, S. 193) Es nähme wunder, wenn dies nicht die realistischen Bilder wären, die die Pest der kollektiven Erinnerung unauslöschlich eingebrannt hatte. Tod und Verwesung üben aber nicht nur auf die Bilderwelt eine unwiderstehliche Faszination aus, sie scheinen auch in das Gemüt und in das Selbstgefühl hineinzukriechen. Der lebendige Körper erscheint fast wie ein Trugbild, unter dessen Oberfläche sich die Auflösung unaufhaltsam vollzieht. Das ganze Leben wird zu einer Art Doppelleben, das immer schon stirbt, während es noch gelebt wird. Nur die deckende Haut ist den Augen gnädig, darunter aber ist der Verfall am Werk.

Die makabre Darstellung des faulenden Leibes geht auf ältere Traditionen zurück. Auch früher schon war der Körper, insbesondere der Frauenkörper, verunglimpft worden als ‘Dreckbeutel’, der nichts als ‘Unrat’ enthält. Damit sollte den Leuten die Fleischeslust vergällt und die Begehrlichkeit ausgetrieben werden, damit sie gefeit wären gegen Laster und Versuchungen aller Art. Wenn jetzt, nachdem der himmlische Lohn für ein rechtschaffenes und gottgefälliges Leben fragwürdig geworden ist, das Leben dennoch seiner Nichtswürdigkeit überführt wird, dann spielt wohl auch der Wunsch, daß man sich den Schmerz der Vergänglichkeit lindern will, eine Rolle. Wenn das Leben nichts taugt, dann muß man auch seine Hinfälligkeit nicht bejammern. Es liegt eine gewisse Beruhigung darin, das verächtlich zu machen, was man nicht haben kann. Daher die Bereitwilligkeit, sich schon zu Lebzeiten als Würmerfraß zu fühlen. Die Verhöhnung des Lebens dient nicht dazu, den Lebenshunger niederzukämpfen, sondern dazu, die Todesfurcht zu mildern.

In die Resignation und die grelle Drastik des Lebensekels mischen sich aber auch Töne der Klage über die Zerbrechlichkeit der Schönheit und der Lebensblüte. Man zeigt sich angewidert von der Häßlichkeit des Alters, und der Abscheu vor dem Alter nährt den Neid auf die Jugend: „So wird Eure Schönheit sich in Häßlichkeit wandeln,/Und Eure Gesundheit in düstere Krankheit,/… Habt Ihr eine Tochter, so werdet ihr für sie ein Schatten sein;/Sie wird gesucht und begehrt werden,/Die Mutter aber von jedem verlassen.“ Und: „Was ward aus dieser glatten Stirn,/Diesen blonden Haaren, den gewölbten Brauen,/… Und diesen schönen blutroten Lippen? …/Die Stirne runzlig, die Haare grau,/Die Brauen kahl, die Augen erloschen …“ (J. Huizinga 1975, S. 197f.)

Diese bittere Klage straft die Lebensverachtung Lügen, in ihr meldet sich der Lebenshunger. Mit ihr wird die Entdeckung der Lebensspanne vorbereitet, die es zu nutzen gilt; nicht um vorbereitet zu sein auf das große Weltgericht, nicht zur Rettung der Seele, sondern zur Ausschöpfung eines höchst diesseitigen Lebensgenusses.

Nicht nur mit Gezeter, Klage und Lebensekel versucht diese Zeit sich zu entlasten von dem Bann der Todesfurcht, auch die Vernunft wird bemüht, um der Vergänglichkeit und dem Verfall den Schrecken zu nehmen. Francesco Petrarca, der den Gedanken des skandalösen Todes, der die Würde des Menschen verletzt, zu denken wagte, zieht daraus im Alter dann doch nicht die Konsequenz, sich trotzig gegen den Tod zu empören, sondern erklärt den stoischen Gleichmut für das vernunftgemäße Verhältnis zum Tod, wiewohl er sich darüber klar zu sein scheint, daß die Gelassenheit gegenüber dem Tod eine hohe und schwer erlernbare Kunst ist. In seinem Spätwerk ›Von der Artzney bayder Glück des guten und widerwertigen‹ läßt er die Vernunft mit der Todesfurcht argumentieren. Wie eloquent und gelehrt aber die Vernunft den beharrlich und stereotyp immer wieder vorgebrachten Satz: Ich fürchte mich vor dem Tode’, zu entkräften versucht, die Todesfurcht behauptet sich gegen alle Vernünftelei wie ein Kind, das sich nicht reden lassen will: ‘Ich forcht mich jetzo seer vor dem tod’. Der Vernunft bleibt zu guter Letzt doch nur das Argument übrig, daß die Furcht des Todes die Furcht vor der eigenen Natur ist und daß der Mensch nun einmal „sey ein sterblichs thier“ (F. Petrarca 1984, S. CLI).

Das Leben als letzte Gelegenheit

Подняться наверх