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2. ‘Cherchez la Mort’

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Die Suchbewegung des ‘Cherchez-la-mort’, die hier zur Selbstaufklärung der Moderne empfohlen wird, ist fremd und ungewohnt, eine Zumutung sogar. Daß das ‘Projekt der Moderne’ eine Antwort auf eine traumatische Todeserfahrung sein könnte, paßt nicht in die Selbstauffassung des modernen Menschen. Bei den zahllosen Versuchen, die innersten Beweggründe dieses ‘Projekts’ aufzudecken, hat man sich lieber ans Leben gehalten. Sei es, daß man den neuen Weltentwurf aus den Ideen, Erfindungen und Entdeckungen des späten 15. Jahrhunderts erstehen sah, aus dem ungestümen Forscherdrang, der die Welt rotieren ließ; sei es, daß man die abgestreiften Fesseln der alten von der Kirche beherrschten Ordnung zum Ausgangspunkt der Erklärung machte; sei es, daß man den Ameisenfleiß, den die protestantische Ethik freisetzte, ins Zentrum der Überlegungen rückte, sei es, daß man den Geist der Moderne als Überbau aus den überreif gewordenen ökonomischen Verhältnissen aufsteigen sah. Der Gedanke, daß das grandiose Unternehmen der vernunftgemäßen Weltgestaltung ein Reflex auf die demütigende Todesverfallenheit des Menschen sein soll, ist seinerseits so kränkend und erniedrigend, daß die Gesellschaftstheorie sich ihm versagt hat.

Aus dem gezähmten Tod wurde der verschämte Tod, über den man aus Rücksicht schweigt.

Der moderne Mensch fühlt sich als Macher und Könner durch und durch. Allenfalls beugt er sich den selbsterzeugten Sachzwängen, in denen er immerhin dem Werk seiner Hände und seines Hirns begegnet, wenn auch auf beklemmende Weise. Die Einsicht aber, daß er in letzter Instanz nicht agiert, sondern reagiert auf eine Macht, die er nicht selbst gesetzt hat und der er nichts gleich Mächtiges entgegenzusetzen hat, ist so anstößig und so lähmend zugleich, daß er sich in seinem Alltagsgeschäft und in seinen Betrachtungen über das Leben dadurch nicht irritieren und den Schneid abkaufen lassen will.

Der Rückblick auf das aus den Fugen geratene Jahrhundert der schwarzen Pest war der Frage gewidmet, wie die Lebenserfahrung einer Epoche – auch die Sterbeerfahrungen während der Pestzeit waren ja Lebenserfahrungen – das Todesbewußtsein prägen. Ebenso bedeutsam ist aber die umgekehrte Frage: welche Lebensäußerungen, welche kulturellen Leistungen, welche Vorstellungen vom Leben sind die Antworten auf die jeweiligen epochalen Todesbilder? Welchen Dienst erweisen die verschiedenen Lebensäußerungen den Menschen für die Bewältigung ihrer Todesfurcht, den einzelnen und ganzen Gesellschaften? Welche Gestalt darf der Tod annehmen, um den Bogen des für erträglich Gehaltenen nicht zu überspannen? Wird er geleugnet, ausgesperrt, überdröhnt, überlistet, vergessen, geduldet oder willkommen geheißen? Und wie wirkt der mißhandelte, geduldete oder willkommene Tod auf die Lebenden zurück?

Der Tod drückt dem Leben auch dann seinen Stempel auf, wenn er abschlägig beschieden, wenn der Dialog mit ihm verweigert, wenn er grob vor die Tür gesetzt wird. Er vermag sich in jedem Fall Geltung zu verschaffen.

Was macht es aber für einen Unterschied, ob wir das, was sich an Katastrophischem heutzutage um uns zusammengebraut hat, zurückführen auf ein panisches Entsetzen oder auf einen kühnen Aufbruch? Die Dinge werden ja dadurch keinen Deut besser oder schlechter. Auf welche Weise werden wir klüger, wenn wir die eine Perspektive gegen die andere vertauschen? Klüger vielleicht gar nicht. Eher noch ratloser als wir es ohnehin schon sind. An der Bestandsaufnahme ändert sich wenig, ob wir die Gefahren, in die sich die abendländische Zivilisation hineinmanövriert hat, nun so oder so betrachten. Wenn wir aber nach den Notausgängen aus diesem Sachzwanggefängnis Ausschau halten, dann wird sich unsere Blickrichtung ändern müssen, je nachdem, ob wir unsere Gesellschaft kranken sehen an den Auswüchsen einer hybrid gewordenen Vernunft oder an den Ausgeburten einer panisch gewordenen Todesfurcht. Es ist durchaus möglich, daß es bei aller Skepsis leichter wäre, eine entgleiste Vernunft zur Vernunft zu bringen, als eine nachmetaphysische Todesangst zu besänftigen. Wenn sie die übermächtige Antriebskraft der modernen Zerstörungsbereitschaft ist, dann schwindet die Hoffnung, daß die Industriegesellschaft an den von ihr erzeugten Widersprüchen genesen könnte. Und es ist fraglich, ob die „methodische Selbstanwendung des wissenschaftlichen Zweifels“, der „auf die immanenten Grundlagen und externen Folgen der Wissenschaft selbst ausgedehnt“ wird (U. Beck 1986, S. 254), überhaupt hinabreicht in die Abgründe, aus denen die moderne Weltverbesserungsobsession aufstieg. ‘Reflexive Modernisierung’ als neue Phase des Projektes der Moderne setzt voraus, daß die Moderne ihre Wurzeln nicht in einem panischen Lebensgefühl, sondern in einem souveränen Entschluß hat und darum auch durch einen souveränen Entschluß revidiert werden kann.

Nur wenn in Betracht gezogen wird, daß die ‘schwarze Pest’ das Verhältnis der Menschen zum Tod nachhaltig ändert und daß das veränderte Verhältnis seinerseits eine geschichtsmächtige Kraft ist, kann diese Heimsuchung des 14. Jahrhunderts als Geburtsstunde der Neuzeit angesehen werden. Natürlich wird auch nach der Pest noch unter den heilsamen Bedingungen des gezähmten Todes gestorben; in Einzelfällen sogar bis in unsere Tage und unsere todfeindliche Kultur hinein. Aber geschichtlich durchgesetzt hat sich der heillose Tod mit seinen verheerenden Folgen.

Das Leben als letzte Gelegenheit

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