Читать книгу Das Leben als letzte Gelegenheit - Marianne Gronemeyer - Страница 8

1. Am Anfang war die Pest

Оглавление

Der Kulturhistoriker Egon Friedell wagt in seiner ‘Kulturgeschichte der Neuzeit’ eine auf das Jahr präzise Markierung des Beginns der Moderne: „das Konzeptionsjahr des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr der ‚schwarzen Pest‘“ (E. Friedell 1976, Bd. 1, S. 63). Und: „die Geburtsstunde der Neuzeit wird durch eine schwere Erkrankung der europäischen Menscheit bezeichnet …“ (E. Friedell 1976, S. 96). Natürlich hat man sich dieses Schicksalsjahr nicht als eine Art historischen Urknall vorzustellen, nicht als eine einzige letzte Ursache, die einen buchstäblichen und vollständigen Neuanfang bewirkt. Das Jahr 1348 ist ebensosehr ein metaphorisches Datum wie der 11. November 1619, als das cartesianische Zeitalter eingeläutet wurde. Friedell geht, nachdem er seine gewagte Äußerung über den Beginn der Neuzeit gemacht hat, sogar so weit, die Pest überhaupt nicht als deren Ursache, sondern als ihre erste und spektakulärste Folge zu beschreiben: Nicht die Pest war die Ursache der Neuzeit, sondern „es verhielt sich gerade umgekehrt: erst war die ‚Neuzeit‘ da, und durch sie entstand die Pest.“ Und Troels-Lund zitierend fährt er fort: ‚„Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Krankheiten ihre Geschichte haben, so daß jedes Zeitalter seine bestimmten Krankheiten hat, die so früher nicht aufgetreten sind und ganz so auch nicht wiederkehren werden.‘ Dies läßt sich offenbar nur so erklären, daß jedes Zeitalter sich seine Krankheiten macht, die ebenso zu seiner Physiognomie gehören wie alles andere, was es hervorbringt: sie sind gerade so gut seine spezifischen Erzeugnisse wie seine Kunst, seine Strategie, seine Religion, seine Physik, seine Wirtschaft, seine Erotik und sämtliche übrigen Lebensäußerungen, sie sind gewissermaßen seine Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiet des Pathologischen“ (E. Friedell 1976, S. 96).

Zugegeben, dieser Gedanke hat etwas Bestechendes für uns Menschen des späten 20. Jahrhunderts. Unsere epochenspezifischen Erkrankungen: Krebs, Herzinfarkt, Aids, Allergien und viele mehr erscheinen ja tatsächlich wie gemacht für uns oder als gemacht von uns: wenn nicht gar als Fluch der Unterwerfung der Natur, der eigenen wie der anderen. Aber ebenso wie es natürlich unsinnig wäre, die ‚schwarze Pest‘ zur All-Ursache der Moderne zu erklären, ebenso unredlich ist es, sie zur reinen Folge eines neuen Geistes umzudeuten.

Der Pesterreger fügt sich der Krankheitstheorie, nach der eine Epoche sich ihre Krankheiten macht, eben doch nicht so leicht ein, wie die durch Vergiftung von Erde, Luft und Wasser bedingten Gesundheitsschäden.

Wenn auch die ‘schwarze Pest’ nicht die Ursache der Neuzeit ist, so ist sie doch eine folgenschwere Erschütterung für das Bewußtsein und das Lebensgefühl der Menschen des 14. Jahrhunderts. Ihre Unheimlichkeit, ihr entsetzliches Ausmaß, ihre Rätselhaftigkeit, ihr unaufhaltsames, stetes Vordringen, dem die Schreckenskunde immer schon vorauseilt, ihr Verebben und Wiederaufflammen hat mindestens eines grundlegend geändert: das Gesicht des Todes. Vormals war der Tod „nah und vertraut und zugleich abgeschwächt und kaum fühlbar“ (Ph. Aries 1987, S. 42). Ein ganzes Ensemble von Haltungen und Ritualen hatte ihn über Jahrhunderte gezähmt.

Der ‘schwarzeTod’ ist unvertraut und ungezähmt. Er ist wild und schrecklich und berechenbar nur in seiner unerbittlichen Vernichtungswut. Angesichts des Massensterbens, das mit der Pest hereinbrach, versagten alle Gewohnheiten und Rituale, die sonst dem Sterbenden ein Hinscheiden im Seelenfrieden ermöglichten: Der normale, also der vertraute Tod ließ dem zum Sterben Bestimmten ‘Zeit zur Vorahnung’ (Ph. Aries 1987, S. 14). „Der Todgeweihte allein ermißt die Frist, die ihm noch bleibt… Er fühlt, ‚daß seine Zeit gekommen ist‘“ (Ph. Aries 1987, S. 14). In besonderen Fällen bestimmt sogar der Sterbende den Zeitplan seines Hinscheidens. Die Vorahnung war die Voraussetzung dafür, daß der Tod eine zwar „furchtbare, aber doch wohl oder übel erwartete und willig hingenommene Notwendigkeit“ (Ph. Aries 1987, S. 19) sein konnte. Deshalb galt der plötzliche Tod als eine besondere Strafe Gottes. „In dieser mit dem Tode so vertrauten Welt war der plötzliche Tod häßlich und gemein; er flößte Angst ein – ein fremdartiges und schreckliches Phänomen, über das man nicht zu sprechen wagte“ (Ph. Aries 1987, S. 20). Aber nicht nur der plötzliche Tod ist fremd und bedrohlich, auch der einsame Tod ohne Zeugen und Zeremonien ist ein häßlicher Tod. „Der Sterbende muß den Mittelpunkt einer Versammlung bilden“ (Ph. Aries 1987, S. 30). Er nimmt Abschied von den Menschen, die ihm nahestehen, bittet sie um Verzeihung und empfiehlt sie der Fürsorge Gottes. Erst danach erweist er seiner Seele den letzten Dienst mit dem Schuldbekenntnis und der Empfehlung der eigenen Seele in die Hand Gottes. Der ‘schwarze Tod’ kommt plötzlich, wiewohl er dadurch, daß er in der Nachbarschaft wütet, angekündigt wird. Man ist bestenfalls über sein Herannahen in Kenntnis, aber niemand kann ihn nahen fühlen, und darein einwilligen, daß die eigene Zeit gekommen ist. Der Pesttod wurde nicht erwartet, sondern so lange wie möglich verleugnet: „Wenn Ansteckungsgefahr besteht, versucht man zunächst, die Augen davor zu verschließen … Die durchaus berechtigte Angst vor der Pest führte dazu, daß man den Augenblick, in dem man ihr ins Gesicht blicken mußte, so lange wie möglich hinauszögerte. … Indessen kam irgendwann der Augenblick, in dem es nicht mehr zu umgehen war, das Übel bei seinem schrecklichen Namen zu nennen. In diesem Augenblick brach in der Stadt Panik aus“ (J. Delumeau l985, Bd. 1, S. 154ff.).

Der todgeweihte Pestkranke ist auch nicht Mittelpunkt einer Versammlung, er stirbt einsam, er wird gemieden, wie man eben nur die Pest meidet. „Welch ein Unterschied zu der sonstigen Behandlung von Kranken, die in normalen Zeiten von Verwandten, Ärzten und Priestern umsorgt werden! Während einer Seuche hingegen halten die Verwandten sich fern, die Ärzte berühren die Kranken nicht oder so wenig wie möglich oder auch mit einem Stab … All jene, die sich den Pestkranken nähern, besprengen sich mit Essig, parfümieren ihr Kleider und tragen bei Bedarf Masken; … Die Priester erteilen aus der Ferne die Absolution und reichen das Abendmahl mittels eines flachen Silberlöffels, der an einem Stock befestigt ist, der manchmal über einen Meter mißt In Pestzeiten regiert die erzwungene Einsamkeit“ (J. Delumeau 1985, S. 162). „Normalerweise läuft eine Krankheit nach einem bestimmten Ritual ab, das den Kranken mit seiner Familie und seinen Freunden vereint. Der Tod gehorcht seinerseits einer Liturgie.“ Er folgt einem Übergangsritual, „das ordentlich und würdig ablaufen muß. In Pest- … zeiten hingegen wurde unter grauenhaften, anarchischen Bedingungen gestorben, selbst die am tiefsten im kollektiven Unterbewußtsein verwurzelten Bräuche wurden aufgegeben (J. Delumeau 1985, Bd. 1, S. 162f.).

Auch die bescheidensten Bestattungsrituale, die für das Seelenheil des mittelalterlichen Menschen eine große Bedeutung hatten, fallen der Pest zum Opfer. Um sich der gefährlichen Leichen, deren Ausdünstungen man fürchtet, und des unerträglichen Verwesungsgestanks so schnell wie möglich zu entledigen, verscharrt man die herbeigekarrten Leichen notdürftig in Massengräbern außerhalb der Siedlungen; eine Art der Bestattung, die sonst den Verdammten vorbehalten war und die demzufolge entsetzliche Angst einflößte. Die Chroniken berichten über Menschen, die versuchten, sich bei lebendigem Leibe selbst zu begraben, indem sie sich in eine Grube legten und sich, so gut es ging, mit Erde bedeckten (vgl. J. Delumeau 1985, Bd. 1, S. 170f.).

In der Pest also begegnet den Menschen des späten Mittelalters der andere, der wildgewordene, der alles niedermähende Tod, der alle Ordnung außer Kraft setzt, dem weder Rituale noch Haltungen noch Glauben gewachsen sind, der nur die konfusesten Fluchtbewegungen auslöst, welche sich aber ihrerseits als vergeblich erweisen. Über beinah vier Jahrhunderte (bis zum Jahr 1720) fällt der schwarze Tod die Menschen Europas in ungewissen Abständen aus dem Hinterhalt an. Der Bevölkerungsniedergang in Europa während der großen Pest von 1347 bis 1352 wird von den Historikern unterschiedlich beziffert. Die Schätzungen schwanken zwischen 30 und 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Über einzelne Städte und Regionen weiß man genauere Zahlen. Es gab Städte, in denen während eines oder zweier Jahre 50 bis 65 Prozent der Bewohner dahingerafft wurden (vgl. K. G. Zinn 1989, S. 150ff.).

Daß das den vollständigen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung bedeutete, ist offensichtlich. Aber nicht nur die öffentliche Ordnung nimmt Schaden; angesichts dieses Grauens, dieser Trost- und Ausweglosigkeit hält auch die innere Ordnung nicht stand. Aller Hoffnung und Zuversicht, allen Trostes und Gottvertrauens beraubt, fallen die Menschen aufs nackte ‘Rette sich, wer kann’ zurück. In einem unvorstellbaren Ausmaß isoliert die Pest nicht nur die Sterbenden von den noch Lebenden, sondern auch die Lebenden untereinander. Das Mißtrauen grassiert. Jeder andere ist ein potentieller Todbringer auch ohne die geringste erkennbare Feindseligkeit. Die Pest schafft Einzelwesen, Individuen, ohne ihnen doch Einzigartigkeit zu verleihen. Im Gegenteil, vor diesem Massensterben gilt keine Besonderheit, weder Stand noch Alter, noch Verdienst oder Gottesfürchtigkeit. Die Pest ist vollkommen gleichgültig gegen ihre Opfer. Gestorben wird ohne Ansehen der Person. Der Versuch der Kleriker, sie als Gottesgericht zu deuten oder als Ankündigung des großen Endgerichts, ihr so doch einen heilsgeschichtlichen Sinn zu unterstellen und die Menschen zu Umkehr und Buße zu bewegen, schlägt weithin fehl. In Pestzeiten geben sich die Menschen vielmehr einem besonders ausschweifenden Leben hin oder sie verfallen in tiefe Mutlosigkeit, eines so lasterhaft wie das andere, wenn man bedenkt, daß die Desperatio ebenso wie Wollust und Völlerei zu den Todsünden gezählt wird. „Häufig … waren … Trinkgelage und Zügellosigkeiten, die dem leidenschaftlichen Wunsch entsprangen, die letzten Lebenstage ganz auszukosten. Man lebte das ‚carpe diem‘ mit um so größerer Intensität, als man sich gewiß war, eines baldigen, furchtbaren Todes zu sterben.“ (J. Delumeau 1985, Bd. 1, S. 168)

Die Mutlosigkeit findet ihren Ausdruck in einer tiefen Glaubenskrise: „… der Tod (ist) gegen Ende des Mittelalters nicht mehr Hinscheiden oder Übergang, sondern Ende und Verfall… Das physische Faktum des Todes ist an die Stelle der Bilder des Jüngsten Gerichts getreten. ‚Jahrhundertelang hat das Christentum kein Bedürfnis verspürt, das Elend des verfallenden Körpers darzustellen.‘ Warum tritt dieses Bedürfnis dann aber jetzt in Erscheinung? Es konnte nur ‚aus dem Schrecken und aus dem Schmerz entstehen, die der Glaube ausschloß‘.“ (A. Tenenti bei Ph. Aries 1987, S. 166) „Der Glaube an ein ewiges Leben verliert sich, der Tod aber nimmt kein Ende.“ (Jankélévitch bei Ph. Aries 1987, S. 166)

Sicher, der Glaubensverfall hatte schon vor der Pest begonnen, die kirchliche Autorität war bereits unterhöhlt durch innerkirchlichen Zwist, durch zunehmende Verweltlichung des Klerus, durch die Gefangenschaft der Päpste in Avignon. Aber „… erst die Seuche ließ die Unordnung ins ‘Chaos’ umschlagen“ (K. G. Zinn 1989, S. 175) und die Jenseitshoffnung schütterer werden. So richten denn auch die Gelehrten bei der Suche nach den Ursachen dieses unfaßbaren Massensterbens ihre Aufmerksamkeit nicht in den Himmel, sondern an den Himmel. Es entsteht eine Wissenschaft vom Tod. Der Tod wird als Naturereignis gedeutet: „Im Herbst 1348 erstellte die medizinische Fakultät der Universität Paris auf Anordnung König Philipps VI. ein Gutachten, in dem sie, wie es in der Einleitung heißt, sämtliche verborgenen Ursachen der Pest aufdecken wolle, gestützt auf die Lehren der weisesten, alten und modernen Philosophen, Astronomen und Ärzte.“ (R. Dieckhoff 1978, S. 77). Als Ursache werden einerseits kosmische Konstellationen angenommen und andererseits giftige Erdausdünstungen. Entsprechend sind die empfohlenen Schutzmaßnahmen rein weltlicher Natur: Flucht aus der verdorbenen Luft, saure Speisen, Duftmittel gegen den vergiftenden – Gestank, Ausnützung der geheimnisvollen Wirkung von Edelsteinen. Und schließlich die Meidung der Frauen: „Umgang mit Weibern ist tödlich: man soll sie weder begatten noch in einem Bette mit ihnen schlafen.“ (R. Dieckhoff 1978, S. 77)

Mag sich auch diese ‘wissenschaftliche’ Ergründung der Pestursachen verbunden haben mit Spekulationen über das Heraufkommen des großen Weltgerichts, so ist doch Gott als Herr über Leben und Tod und als der, der die Geschichte zu dem von ihm bestimmten Ende hinlenkt, in der gelehrten Welt weitgehend entmachtet. Weder als unmittelbarer Verursacher noch als Heiler wird er angesichts des schwarzen Todes in Anspruch genommen. Auch das einfache Volk findet andere Verursacher für das umgebende Grauen. Weniger daß es sich angesichts eines Strafgerichts Gottes zur Umkehr aufgerufen fühlt, ruft es seinerseits nach Bestrafung derer, die die Krankheit angeblich heimtückisch verbreiten: die Juden an erster Stelle, die Fremden sodann, die Reisenden und Herumziehenden, die Bettlerhorden und Aussätzigen und schließlich der Hexerei verdächtigte Frauen und Männer. Sie alle werden beschuldigt, die Pest ausgestreut zu haben, und gegen sie richtet sich der Haß und Rachedurst und der Vernichtungswunsch des Volkes in seiner panischen Angst. Die Juden, die der Brunnenvergiftung bezichtigt werden, werden zu Tausenden niedergemordet, ja sogar systematisch ausgerottet. „Die Judenverfolgungen zur Mitte des 14. Jahrhunderts während der ersten Pestwelle blieben bis zum Holocaust des 20. Jahrhunderts die größte singuläre Mordaktion gegen die jüdische Bevölkerung in Europa.“ (K. G. Zinn 1989, S. 201)

In den Augen der aufgebrachten mörderischen Menge war das Judenmassaker „aufgrund der allseits zirkulierenden Gerüchte über Brunnenvergiftungen durchaus gerechtfertigt“ (R. Girard 1992, S. 8). Nicht die Pest wird als von Gott verhängt angesehen, an ein solches Strafgericht mag man nicht glauben, aber der Völkermord an den Juden ist nach allgemeiner Auffassung gottgewollt. Durch göttlichen Willen seien die schändlichen Taten der Juden geoffenbart worden, und Gott habe die Übeltäter ihren Bestrafern überantwortet (vgl. auch: die Schedelsche Weltchronik 1979, Blatt CCXXX). Der um die Mitte des 14. Jahrhunderts lebende französische Dichter Guillaume de Machaut schürt die selbstgerechte Pogromstimmung und gibt uns zugleich eine Ahnung von dem angstgetriebenen Haß, der diese Massaker auslöste: „Daraufhin kam ein Saupack,/falsch, verräterisch und abtrünnig:/es war Judäa, das verabscheute,/das böse und ungetreue,/das alles Gute haßt und alles Böse liebt./Sie gaben soviel Gold und Silber/und versprachen den Christen so viel,/daß sie dann Brunnen, Bäche und Quellen,/die klar und gesund waren,/an vielen Orten vergifteten/und viele daran starben;/denn all jene, die daraus tranken,/starben ganz plötzlich./So starben gewiß zehnmal hunderttausend/auf dem Land und in der Stadt,/so daß man inne wurde/dieses tödlichen Vergehens.

Aber jener, der hoch oben thront und weit sieht,/der alles regiert und für alles sorgt,/diesen Verrat geheimhalten/nicht mehr wollte, sondern ließ ihn enthüllen/und verbreiten so allgemein,/daß sie Leben und Gut verloren./Alle Juden wurden vernichtet,/die einen gehängt, die andern in siedendes Wasser getaucht,/die einen ertränkt, den andern abgetrennt/der Kopf mit der Axt oder dem Degen./Und auch viele Christen/starben schmählich dabei.“ (Guillaume de Machaut, bei R. Girard 1992, S. 9f.)

Versuchte man, eines übermächtig gewordenen Todes Herr zu werden, indem man sich selbst zum Herrn über Leben und Tod machte und den Tod über andere verhängte?

Selbst die Buße entartete zu einem grausigen und gottlosen Schauspiel: Kamen die Scharen der Geißler und Flagellanten, „düstere monotone Lieder singend prozessionsweise in unabsehbar langen Zügen in eine Stadt, so wurden sie mit Glockengeläut und von einem großen Menschenzustrom empfangen. … Die Bußübung unterlag einem festen, ziemlich umständlichen Ritual, … (dem) die vom Gesang begleitete blutige Handlung der Selbstgeißelung“ folgte. „Das Ganze war … ein mit einem Publikum rechnendes religiöses Schaustück …, (das) den religiösen Fanatismus bis zum Wahnsinn entzündete.“ (R. Dieckhoff 1978, S. 74f.)

Während also die Gelehrtenwelt der Unheimlichkeit des Geschehens mit wissenschaftlichem Forschen beizukommen trachtete, nahm das einfache Volk seine Zuflucht zum Aberglauben, aggressiven magischen Praktiken und wütendem Haß auf die zu Verderbern ernannten Fremden und Anderen. Die Reichen gaben sich einem gierigen Lebenshunger hin, bemüht, die womöglich knapp bemessene Lebenszeit bis zur Neige auszukosten. Und die Kleriker hielten, sofern sie nicht auch ihr Heil in der Flucht suchten, düstere Gerichtspredigten.

In der Tat, der Tod hatte sein Gesicht verändert. Er hörte auf, ein Geschehen zu sein, in das man sich mit relativer Gelassenheit fügte. Er löste Grauen, Abscheu, Ekel aus. Ihm kam überhaupt der Charakter eines Ereignisses abhanden, er wurde zum Widersacher, zum ärgsten Feind Gottes, aber mehr noch des Menschen. Er nimmt Gestalt an und wird zum großen personalen Gegenspieler, „der wie aus eigener Initiative heraus zu handeln fähig war … Der Tod wurde zur anonymen, aber omnipräsenten eklen Figur.“ (A. M Haas 1989, S. 178) „Während des ganzen christlichen und islamischen Mittelalters wurde (hingegen) der Tod als Folge einer willkürlichen persönlichen Intervention Gottes aufgefaßt. Nicht die Gestalt ‘eines’ Todes erscheint am Totenbett, sondern ein Engel und ein Teufel kämpfen um die Seele, die aus dem Munde der Sterbenden entweicht.“ (I. Illich 1977, S. 207f.) Mit einiger Sicherheit ist das makabre Schauspiel des Totentanzes, das bis ins 18. Jahrhundert hinein die Bildwelt und Phantasie der Menschen bevölkert, als Motiv unter dem Eindruck der großen Seuche entstanden (vgl. J. Delumeau 1985, Bd. 1, S. 173). Im Totentanz tritt der Tod als „unabhängige Gestalt“ auf, „die jeden Mann, jede Frau und jedes Kind ruft; zuerst noch als Gesandter Gottes, bald aber aus eigenem souveränen Recht“ (I. Illich 1977, S. 209). Was Gott in diesem aus den Fugen geratenen Jahrhundert an Macht einbüßt, das wächst dem Tod zu.

Aber eben nicht nur durch die Personalisierung des Todes wird die Macht Gottes eingeschränkt, sondern auch durch seine Verwissenschaftlichung, also seine zunehmende Abstraktheit.

Francesco Petrarca erklärt den Tod zu einem „lebensverneinende(n) Prinzip, der die Würde des Menschen bedroht“ (R. Dieckhoff 1978, S. 73). „Dabei wird der Tod nicht mehr Sold der Sünde, sondern als allein naturnotwendiges Ereignis, unabänderliche Naturgewalt, als Naturordnung, nicht als Strafordnung gesehen …“ (R. Dieckhoff 1978, S. 73). Das heißt: der Tod ist nicht länger ein heilsgeschichtliches Ereignis, ein Übergang zum wirklichen Leben. Es kommt vielmehr die düstere Ahnung auf, daß er endgültiges Ende ist, eine Ahnung, deren Unerträglichkeit man noch lange durch eine immer zaghafter und kleinlauter werdende Jenseitshoffnung zu mildern trachtet. Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägt. Die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod.

Das Leben als letzte Gelegenheit

Подняться наверх