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4. Individualität und Todesfurcht
ОглавлениеDer Dialog zwischen den beiden Allegorien der Todesfurcht und der Vernunft spiegelt den inneren Zwiespalt des Individuums an dieser Zeitenwende, an der die alte Ordnung zusammenbricht, wider. Wann immer eine übergreifende Ordnung, die dem einzelnen eine fraglose Stellung in einem Sinngefüge bietet, zusammenstürzt, entsteht ein Individualisierungsschub. Das Individuum wird aus der Ordnung verstoßen und auf sich selbst zurückgeworfen. Genaugenommen steht an dem Wendepunkt, der durch die Pest markiert ist, nicht die ‘Erfindung’ des Individuums auf der Tagesordnung, sondern der Übergang von einer Individualität in eine andere.
Wir haben „zwei Bedeutungen des Wortes ‘Individuum’ zu unterscheiden:
1. das empirische Subjekt, das spricht, denkt und will; das unteilbare Exemplar der menschlichen Gattung, so wie es sich in allen Gesellschaften beobachten läßt;
2. das moralische, unabhängige, autonome und so (wesentlich) nicht-soziale Wesen, wie es in unserer modernen Ideologie von Mensch und Gesellschaft zum Ausdruck kommt.“ (L. Dumont 1991, S. 74)
Nur das ‘unabhängige’ und ‘autonome’ Individuum, das um seine Einzigartigkeit und seine Bedeutung kämpft, trägt in sich den Widerspruch zwischen souveräner Vernunft und Todesfurcht aus: „Das Bewußtsein vom Tode geht gleichen Schritt mit der menschlichen Individualisierung, das will heißen, mit dem Auftreten einzigartiger Individualitäten, die sich von einem persönlichen Zentrum her formen.“ (P. L. Landsberg 1973, S. 16)
In Gesellschaften, in denen der einzelne wesentlich Exemplar der Gattung ist, scheint es kein helles und furchtsames Bewußtsein vom eigenen Ende zu geben: „In diesen Gesellschaften ist das Individuum zu wenig differenziert von seiner Gruppe, als daß es sich durch etwas anderes individualisiert fühlen könnte, als durch die Stellung in dieser Gruppe, seine Funktion im größeren Organismus. Wenn diese Stellung und Funktion nach dem Tod des Individuums auf ein anderes übergehen, so erwirbt dieses Individuum zugleich den Namen und gewissermaßen die Seele des Toten. Die Gruppe hat ein verlorenes Glied regeneriert. Es ist, als ob nichts geschehen wäre. … Der Tod ist wesentlich nur der Übergang einer seelischen Kraft in ein anderes Individuum …“ (P. L. Landsberg 1973, S. 15f.)
Der mittelalterliche Mensch ist nicht nur durch seine Stellung und Funktion in der Gemeinschaft individualisiert. Er ist einzigartig, denn sein Name ist „im Himmel angeschrieben“ (H. Blumenberg 1989, S. 24). Die Vorstellung, daß jedes Individuum in himmlischen Büchern verzeichnet ist, „dient entweder dem Gedanken der Vorherbestimmung der Schicksale oder dem der Abrechnung über die Taten der Menschen.“ (H. Blumenberg 1989, S. 26) Die Auffassung, in das ‘Buch des Lebens’ würden „Verdienste und Sünden eines jeden eingetragen“, es sei „eine Art individuelle(r) ‚Ausweis‘ oder ‚Kontoauszug, den man am Tor zur Ewigkeit vorlegt‘“ (A. Gurjewitsch 1984, S. 89), setzt sich am Ende des Mittelalters durch und etabliert bereits den Gedanken individueller Verantwortlichkeit für die Lebensführung. Ein Bewußtsein vom eigenen Tod ist damit durchaus gegeben. Die Biographie eines jeden Menschen zerfällt jedoch in zwei Teile: „Der erste Teil umfaßt das irdische Dasein, der zweite den Augenblick des Gerichts und der Vergeltung. Die Zeitdauer zwischen … (dem eigenen) Tod und dem Ende aller Zeiten ist niemandem bekannt.“ (A. Gurjewitsch 1984, S. 87) Da sich aber das künftige Schicksal des Individuums im großen Weltgericht entscheidet, richtet sich der furchtsame Blick eher auf das Ende aller Zeiten als auf das eigene Ende.
Die Unverwechselbarkeit des mittelalterlichen Individuums unterscheidet sich grundlegend von der zwiespältigen zwischen Vernunft und Todesfurcht schwankenden Individualität, die sich der Mensch nach der Zeitwende zumutet. Dem mittelalterlichen Individuum war seine Einzigartigkeit von Gott zugesprochen, es fand sich in ihr vor, sie war gleichsam durch göttlichen Spruch über es verhängt. Über seinen Daseinszweck mußte sich der Mensch des Mittelalters nicht beunruhigen, mit Sinnzweifeln sich nicht plagen, und mit seiner Einzigartigkeit hatte er nichts zu schaffen. Seiner Bedeutung konnte er gewiß sein, denn er war als Mikrokosmos Repräsentant des Makrokosmos. Jedes Einzelwesen konnte sich als ‘Miniatur’ der großen Schöpfung auffassen und wissen, daß es die Bestimmung der ganzen Welt in sich trug.
Der auf seine Vernunft pochende neuzeitliche Mensch gewinnt ohne eigenes Zutun, durch sein bloßes Dasein keine Existenz als Individuum. Er muß sich vielmehr selbst erschaffen, sich auf eine „Intensität der Selbstbeziehung“ einlassen, in der er sich selbst „zum Erkennungsgegenstand und Handlungsbereich“ macht, „um sich umzubilden, zu verbessern, … sein Heil zu schaffen.“ (M. Foucault 1986, S. 59) Indem er sich auf seine Vernunft beruft, tritt er heraus aus der heilsgeschichtlichen Ordnung, in der er seine fraglose Stellung, seinen vorherbestimmten Ort, einen zuverlässigen Halt und einen unbezweifelbaren Lebenssinn hatte. Er befreit sich von der göttlichen Vorsehung und unternimmt es, seinem Dasein selbst Sinn und Richtung zu geben. Der einzelne macht sich daran herauszufinden, wozu er und einzig er allein fähig ist. Dem Individuum wird seine Einzigartigkeit zur verpflichtenden Aufgabe: Die „Individualisierung besteht ihrem Wesen nach nicht nur darin, daß Menschen eine hellere und genauere Bewußtheit von ihrer persönlichen Eigenart gewinnen, sondern in der Tatsache, daß sie wirklich eigenartiger werden.“ (P. L. Landsberg 1973, S. 16) Nur in dem Maße, in dem er seine Eigenart und seinen Eigensinn entfaltet, gewinnt der Mensch Lebenssinn. Seine Freiheit besteht darin, sich zu besondern, und sein Risiko darin, an der Selbsterschaffung zu scheitern. Vormodern konnte jemand sein Seelenheil, nicht aber sich selbst verfehlen. Dem neuzeitlichen Individuum ist die ‘Sorge um sich’ so grundlegend aufgetragen, daß seine schiere Existenz, sein bloßes Vorhandensein dabei auf dem Spiel steht. Der Einzigartigkeit des Individuums wird in der Folge ein absoluter Wert beigelegt (M. Foucault 1986, S. 59).
Petrarca läßt seine ‘Vernunft’ noch zugunsten der Tugend der Demut und Gelassenheit argumentieren. Worauf das moderne Individuum wirklich hinauswill, zeigt sich erst eine gute Weile später.
Zum Inbegriff des frühmodernen Selbstbewußtseins ist mir das berühmte Münchener Selbstbildnis Albrecht Dürers aus dem Jahr 1500 geworden. Dafür, daß der Mensch selbst am Ende des Mittelalters ins Zentrum seines Interesses rückte, war die aufkommende Porträt-Kunst, also das Interesse am unverwechselbaren, individuellen menschlichen Antlitz, an sich schon ein Indiz. Daß der moderne Mensch, um sich im Zentrum Platz zu schaffen, Gott daraus vertreiben muß, das verrät das Dürer-Porträt. Unverkennbar ist dieses Selbstbildnis zugleich ein Christusbildnis. Das Haupt ist umrahmt von lang auf die Schulter fallendem, gelockten Haar, der Blick ist unverwandt auf den Betrachter gerichtet. Das Auffallendste aber ist die Gebärde der Hand: Der Maler trägt einen Mantel mit kostbarem Pelzkragen, und die Hand liegt auf der Brust unter dem Vorwand, den Kragen zusammenzuhalten. Dabei ist das Licht auf den überdeutlichen und, fast will es scheinen, überlangen Zeigefinger konzentriert. Die Handhaltung macht es möglich, daß der Finger auf den Dürer-Christus deutet. Den überlangen Zeigefinger kennen wir aus der mittelalterlichen Ikonographie nur an Johannes dem Täufer, der auf den kommenden Messias hinweist. Hier wird der Hinweis zum Selbstverweis. Fast könnte man die Usurpation des Christuskopfes und diese Gebärde blasphemisch nennen, das darin sich ausdrückende Selbstverständnis eine Anmaßung. Wäre da nicht der tiefe Ernst des Blickes. Der gibt eine Ahnung davon, was es kostet, über sich selbst zu herrschen und die Zusage der Gottesebenbildlichkeit so wörtlich zu nehmen, daß der Mensch ‘homo creator’ wird an sich selbst und sich die Last der Verantwortung für die Selbsterschaffung auf die Schultern lädt. „Man kann ebenso sagen, daß Dürer seine Person als Ebenbild Gottes hypostasiert, wie daß er das Bild Gottes vergegenständlicht und vergegenwärtigt, indem er ihm seine Züge verleiht.“ (D. Frey bei H. Theissing 1987, S. 24) Das allein macht den Ernst, der die Gestalt umgibt, jedoch nicht aus. Der Preis für die so weit getriebene Individualisierung ist eine durch nichts gemilderte Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit. Nicht nur, daß sich das Individuum dadurch, daß es sich an die Stelle Gottes setzt, der Hoffnung auf das Jenseits begibt, macht den Tod zu einem endgültigen Ende. Der Anspruch auf Einzigartigkeit macht das individuelle Leben unerhört kostbar und unersetzbar. Das einzigartige Individuum kann in nichts und niemand fortleben, mit seinem Ende ist es unwiederbringlich verloren. Wenn das Leben die einzige Gelegenheit ist, dann steigert sich die Verlustangst ins Unerträgliche.
Zudem ist die Aufgabe der Selbsterschaffung und Selbstverbesserung, die sich das Individuum zur Pflicht macht, prinzipiell immer unvollendet. Für dies Individuum kommt der Tod chronisch zu früh.
Bei der Gebärde des Selbstverweises, die sich der ganz auf sich gestellte Mensch abverlangt, bleibt es nicht. Der neuzeitliche Mensch war der Bürde, die er sich damit auferlegte, nicht gewachsen. Das Individuum kann seiner Unteilbarkeit nicht standhalten. Es unternimmt vielfältige Versuche, sich zu halbieren und nur seine Einzigartigkeit, nicht aber deren Kehrseite, die Todverfallenheit an sich gelten zu lassen.
Die Richtung des Fingerzeigs ändert sich abermals. Er zielt nun auf die Welt da draußen. Nachdem dem Menschen die Jenseitshoffnung abhanden kam, richtete er sich auf Diesseitshoffnung ein. Dabei ist ihm wiederum der Tod im Wege. Überall in der rätselhaften, fremden, feindlichen Welt da draußen liegt er auf der Lauer, immer auf dem Sprung, unberechenbar, allgegenwärtig. Der Fingerzeig auf die Welt wird zur aufgeregten Geste des ‘Haltet den Dieb’. Doch allmählich ernüchtert sich der Blick, wird kühl und abschätzend wie bei einer Musterung von Material. Die Welt da draußen wird zum Projekt. Und der Finger bezeichnet das zu Machende. Wenn der Tod nicht mehr aus der Hand Gottes kommt, dann ist er ein Verhängnis der Natur; oder, wenn man sich die Natur weniger machtvoll denkt, ein Übel, ein Makel, der ihr anhaftet. Der Mensch, der an seine schöpferische und selbstschöpferische Fähigkeit zu glauben begonnen hat, wird sich daranmachen, sich eine zweite, verbesserte Natur zu schaffen: Der Mensch habe die Welt „zwar dankbar von Gott entgegengenommen, sie… ‚dann aber … bei weitem verschönert und verfeinert…‘“ (G. Manetti bei A. Heller 1983, S. 88); oder: der Mensch besitze „… beinahe denselben Genius wie der Schöpfer der Himmel und (könnte) irgendwie auch Himmel machen, wenn er nur die Werkzeuge und das himmlische Material erlangen könnte, da er sie sogar schon jetzt macht …“ (M. Ficino bei A. Heller 1982, S. 88) „Wir können noch im irdischen Leben zum Himmel aufsteigen und vom Menschen zu Gott werden.“ (B. Varchi bei A. Heller 1982, S. 92) Diese Äußerungen sind nicht gerade zimperlich in dem, was ihre Autoren sich und ihresgleichen zutrauen. Und so wird der Widerstand gegen den Tod darauf konzentriert, ihm so viel hiesiges Leben wie möglich abzuringen.
Wir haben festgestellt, daß das Individuum seine Einzigartigkeit mit einem unbesänftigten Todesbewußtsein bezahlen muß. Das soll neuzeitlich nicht gelten. Individualität wird nicht mehr mit der Todes-Verachtung errungen, die, ihrer eigenen Niederlage gegenüber diesem übermächtigen Gegner Minute um Minute gewiß, sich dennoch ans Werk der Selbsterschaffung macht. Die Haltung ist nicht mehr die hoffnungslose, aber stolze Unterlegenheit, der zum Trotz man ‘homo creator’ wird. Die Tragik der Gottesebenbildlichkeit weicht aus dem Blick und macht einer aggressiven Zuversicht Platz. Nicht die standhafte Haltung gegenüber dem Tod, sondern die Aussicht auf unerschöpflichen Lebensreichtum beflügelt die Unternehmungen des modernen Menschen.
Nicht die Verachtung des Todes, sondern seine Verbannung aus der Sphäre des Lebens nimmt man sich vor. Da der Tod einstweilen unausweichlich bleibt, soll wenigstens das Leben, solange es dauert, von ihm gereinigt und die schmähliche Erinnerung an ihn getilgt werden.