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I. ‘Der Tod tanzt aus der Reihe’

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Am 3. Mai 1990 lese ich in meiner Tageszeitung unter der Überschrift: US-Mathematiker will sein Gehirn einfrieren lassen, die folgende Notiz: „Ein US-amerikanischer Mathematiker kämpft seit Montag vor dem Gericht in Santa Barbara (Kalifornien) um das Recht, seinen Kopf bereits vor Eintreten seines natürlichen Todes einfrieren zu lassen. Thomas Donaldson, der an einem Gehirntumor leidet, will mit diesem Schritt seine Chancen auf eine Heilung nach einer Wiederbelebung erhöhen. Er befürchtet, daß seine Gehirnzellen durch den Krankheitsverlauf zu sehr angegriffen würden, sollte er seinen Krebstod abwarten.

Donaldson sagte, er wolle bereits jetzt seinen Kopf abtrennen lassen. Der Kopf solle dann solange tiefgekühlt werden, bis die Forschung zur Heilung seines Krebsleidens in der Lage sei. Sodann solle sein Haupt auf einen neuen Körper aufgepflanzt werden.“

Diese Meldung fordert geradezu zwingend die maliziöse Feststellung heraus, der Mann sei in einem bedauerlichen Irrtum befangen, er habe den Verstand, um dessen Überdauern er so energisch kämpft, längst verloren. Wahrscheinlich ein Verrückter mit einem Hang ins Makabre. Durchaus denkbar aber auch, daß er an das, was er vor Gericht vertritt, selbst nicht glaubt und nur am Ende eines vielleicht unbeachteten Lebens noch einmal ins Rampenlicht der Öffentlichkeit treten will, und sei es dadurch, daß er sich gründlich am guten Geschmack vergeht.

Dann aber mischt sich auch Ärger in den Sarkasmus. Ärger darüber, daß der Mathematiker es augenscheinlich vermocht hat, einen seriösen amerikanischen Gerichtshof mit seinem abstrusen Hirngespinst zu befassen und eine haltlose Zukunftsspekulation auf niederstem Science-fiction-Niveau mit der Dignität eines Rechtsanspruchs auszustatten.

Ärgerlich ist auch, daß er vermessen genug ist zu glauben, er müsse künftige Zeiten mit seiner Hirnpotenz beglücken und habe das Recht, einen fremden Körper als Gestell zur Anbringung seines Verstandes zu verlangen.

Doch dann keimt im Schatten des ohnehin geteilten Vergnügens ein unheimlicher Verdacht auf, der die Neigung, diese Nachricht mit einer Mischung aus Belustigung und Gereiztheit zu quittieren, als voreilig erscheinen läßt. Die Handbewegung des Beiseiteschiebens bleibt auf halbem Wege stehen, und das Gelächter, mit dem die Nachricht erledigt werden sollte, erfriert; denn Thomas Donaldson ist alles andere als verrückt, er ist vielmehr ein Zeitgenosse. Er ist ein besonders konsequenter Repräsentant des Epochengeistes. Er hat die Lektion der Fortschrittsgläubigkeit profund gelernt und hält sich strikt ans Dogma, daß technisch nichts unmöglich sei. Ihn zum Sonderling zu stempeln, der den Rest der Welt nichts angeht, fällt nur deshalb so leicht, weil er übertreibt. Er überzieht die Erwartungen an das medizinisch-technisch Mögliche und läßt es an der gebührenden Dezenz fehlen.

Worüber aber wird tatsächlich in Santa Barbara zu Gericht gesessen? Scheinbar geht es um das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Aber warum legt Donaldson dann nicht einfach Hand an sich? Warum muß er vor Gericht ziehen, um sich diese letzte Freiheit höchstrichterlich gewähren zu lassen? Weil es darum nicht geht. Der Mathematiker steht nicht als Todgeweihter vor den Richtern. Auch fällt es dem Zeitungsleser nicht ein, ihm mit dem Mitgefühl und Respekt zu begegnen, die einem Todgeweihten zukommen. Was Donaldson unverfroren vor Gericht einfordert, ist ein verbrieftes Recht auf Auferstehung. Und worauf sich diese Forderung gründet, ist der unbeirrbare Glaube an eine technisch herstellbare Unsterblichkeit.

Donaldsons Klage vor dem Gericht von Santa Barbara belehrt uns darüber, daß die Zeit reif ist für die „ungeheuerliche Tatsache, daß der Mensch sich in einen ‘homo creator’ hat verwandeln können“, was „die nicht minder unerhörte (Tatsache einschließt), daß er sich selbst in einen ‘Rohstoff’ also in einen ‘homo materia’ verwandeln kann“ (G. Anders 1988, S. 21). An die Möglichkeit der technischen Neukonstruktion des Menschen wurden wir durch die Erfolgsmeldungen über medizinische Großtaten schleichend gewöhnt. Der Mathematiker verlangt nur eine besonders weite Auslegung dessen, was in der Ersatzteilmedizin längst als das Gebotene erscheint: „Intensivstationen in amerikanischen Kliniken sind zunehmend mit Gehirntoten belegt, die als Organbank für Transplantation weiter beatmet werden“ (I. Illich 1988/89, o.S.). Daß der menschliche Körper unter bestimmten Bedingungen als Ersatzteillager benutzt werden darf und soll, ist im medizinischen Alltag gang und gäbe.

Wie sehr Donaldson nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen seiner Anmaßung Repräsentant des Zeitgeistes ist, wie sehr er die Zeichen der Zeit erkannt hat, wird deutlich, wenn wir ihn einem anderen Zeitgenossen gegenüberstellen. G. Anders nennt ihn einen modernen Hiob. “What a shame”, stößt dieser New Yorker Geschäftsreisende verärgert im Luftraum über dem Atlantik aus, ‚„was hier alles zwischen Schottland und Kanada herumliegt! Und dabei ist es nichts! Nichts als nichts! Aber ausgedehnt muß es sein! Dazwischenliegen muß es! Gerade gut genug für Luft und Wasser! Wozu das gut sein soll!… Und diese Zeit! Um nichts besser! Ebenfalls nichts! Aber dauern muß sie! Zwischen Abflug und Ankunft! Gerade gut genug für Warten und Dösen! Wozu das gut sein soll? … Nichts als Vergeudung, der Raum! Und nichts als Zeitverlust, diese Zeit!‘“ (G. Anders 1988, S. 339f.)

Der moderne Hiob rechtet mit seinem Herrgott über eine unter ökonomischen Gesichtspunkten – welche auch sonst? – unerhört verpfuschte Schöpfung. Wer immer das zu verantworten hat, war ein miserabler Kalkulator. Unter Effizienzgesichtspunkten ist das ganze Machwerk eine einzige Katastrophe. Und zur Effizienz fühlt sich dieser Geschäftsmann allerdings berufen. Das größtmögliche Fortkommen in der kürzestmöglichen Zeit erscheint ihm als seine Bestimmung, vor der er sich zu bewähren hat. Effektivität zeichnet ihn aus vor allem, was sonst kreucht und fleucht zwischen Himmel und Erde. Sie macht den Kern seines Wesens aus. Durch sie gerät er auf die Höhe seiner Möglichkeit als Mensch. Und dann dies: es fehlen die minimalen Voraussetzungen dafür, daß er seiner Bestimmung nachkommen kann. Überall werden ihm Entfernungen und Dauer zum Hindernis in seinem aufrichtigen Bemühen, zu werden, was er werden kann und werden soll. Überall Verzögerungen, überall Stockungen, die die Verausgabung seiner Energie hemmen. Das ganze Leben ein einziges Tempo-Limit.

Es fällt wahrscheinlich leichter, diesen Beschwerdeführer als Zeitgenossen wiederzuerkennen, als den anderen aus Kalifornien, wiewohl es zeitgemäßer ist, vor Gericht als Kläger aufzutreten, als vor Gott als Ankläger. Wenn wir aber über diese metaphysische Peinlichkeit einmal hinwegsehen, dann liegt das von – nennen wir ihn mit G. Anders – ‘Hiob’ vorgebrachte Anliegen durchaus auf der Linie aller möglichen Bestrebungen und Projekte, mit denen wir auch sonst zahllose ernsthafte Menschen (zumindest in unseren Breiten, aber mittlerweile auch andernorts) befaßt sehen. Daß alles, was dauert, zu lange dauert, ist eine verbreitete Sorge. Daß Fortbewegung besser schnell als langsam vonstatten gehen soll, ist kaum strittig; daß das Schnelle dem Langsamen überlegen ist, keine Frage. Jede Beschleunigung – ein Sieg über die träge Natur; jede Bezwingung von Dauer – ein Triumph der Technik. Was im Dienst der Geschwindigkeit steht, muß sich nicht groß rechtfertigen, es sei denn, es behindere andere Geschwindigkeit.

Der Zeitgeist ist ungeduldig, vor allem das. Thomas Donaldson ist auch ungeduldig, ungeduldiger noch als ‘Hiob’. Ihm dauert das Leben selbst zu lang, jedenfalls das, was ihm davon übrig ist. Er will nicht nur schneller irgendwo sein; er will unverzüglich am Ende sein. Indem er sein Ende beschleunigt, indem er Zeit spart, um genau zu sein, sich Zeit erspart, will er sich selbst aufsparen für ein aussichtsreicheres Dermaleinst. Ihm geht es nicht darum, seine viel zu kostbare Gegenwart nicht mit Warten und Dösen zu verschleudern. Er hält sich im Gegenteil mit der Gegenwart überhaupt nicht mehr auf. Sie erscheint im Lichte seiner Tempoansprüche als hoffnungslos träger Zeitmodus. Er eilt ungestüm voraus in die Zukunft, um sie halbwegs unversehrt zu erreichen. Er läuft nicht einfach mit der Zeit um die Wette, sondern mit seiner Vergänglichkeit. In seiner Zeitrechnung wird Zeit gleichbedeutend mit Zukunft. Gegenwart ist bereits der Schnee von gestern, nicht wert, daß man viel Gedanken, geschweige denn Leben daran verschwendet. Und Vergangenheit schließlich kommt in dieser Zeitrechnung gar nicht mehr vor. Daß es ein Leben auch vor dem Tod gebe, läßt er zumindest für seine Person und für seine Lebensumstände nicht gelten.

Lassen wir uns also vorläufig darauf ein, in Donaldson und ‘Hiob’ keine spektakulären oder gar pathologischen Einzelfälle, sondern ziemlich normale Gegenwartsmenschen zu sehen, und den Geschwindigkeitsrausch, in dem die beiden befangen sind, für einen hervorstechenden Zug unserer Gegenwart zu halten. Dann erhebt sich die Frage, wie das Leben so unter Zeitdruck geraten konnte. Warum mußte es so auf Trab gebracht werden? Die entwaffnend einfache Antwort lautet: weil es zu schade ist, um es zu vertrödeln.

Das in den beiden Beispielen anvisierte Schnellverfahren zur Absolvierung eines Menschenlebens ist ersichtlich so auf die Spitze getrieben, daß es sich unvermeidlich ins Gegenteil der Absicht verkehrt. Man mag das bizarre Hochgeschwindigkeitsunternehmen je nach Geschmack und Standpunkt kontraproduktiv nennen oder pervers, anmaßend oder frevlerisch, hybride oder ganz einfach dumm, weil es den feinen Unterschied zwischen Qualität und Quantität verkennt. In jedem Fall erscheint es als eine Verirrung des Menschen, der hoch hinauswill: die Nachfahren des Prometheus sind auf Abwege geraten und haben die Anmaßung zu weit getrieben. Wenn wir die Vorgeschichte dieser Übertretung zu rekonstruieren versuchen, dann mag die Nacht vom 10. zum 11. November des Jahres 1619 ein historischer Augenblick von einigem symbolischen Gewicht sein. „Damals begann gerade der Krieg, der noch dreißig Jahre dauern sollte. Descartes hatte sich als Soldat in Deutschland anwerben lassen. Jene Novembernacht verbringt der 23jährige in einem Winterquartier in der Nähe von Ulm. In dieser Nacht wird er von drei Träumen heimgesucht, die er sorgfältig notiert und interpretiert. Und im Zwielicht seiner von Wachheiten unterbrochenen Träume drängt sich ihm die Gewißheit auf, sein Leben auf vernünftigen, der Mathematik verwandten Wahrheiten aufzubauen. Zwar kennt er diese Wahrheiten noch nicht, aber ihrer Ermittlung will er all seine Kräfte widmen“ (W. van Rossum, 30. Nov. 1990, S. 37).

In der Rückschau wird dieses Erwachen des Protagonisten moderner Denkungsart schlechthin zur Metapher für den Anbruch der Moderne, die freilich im Jahr 1619 schon ein gutes Stück über das erste Morgenlicht hinaus ist, wenn wir sie mit den großen Erfindungen und Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhunderts beginnen lassen. Die schrillen Töne jenes 500jährigen Jubiläums der Moderne, das die Ankunft des Columbus in der ‘Neuen Welt’ feierte, sind ja noch kaum verklungen.

Der morgenfrische Entschluß zu vernunftgemäßer Weltveränderung erscheint im nachhinein als die Grundgebärde der Neuzeit. Die ‘fortgeschrittene’ Gegenwart, ob sie nun als mißraten gilt oder als gelungen oder als eine schwer durchschaubare Mixtur aus beidem, wird durchaus in der Kontinuität dieses bedeutungsträchtigen und folgenreichen Erwachens gesehen.

Einer liebgewordenen Denkgewohnheit zufolge betrachten wir den Hochbetrieb, der uns umgibt, das atemberaubende Tempo der Weltveränderung als die aberwitzige Vergrößerung der schon von Beginn an großen Geste, mit der der moderne Mensch die Bühne der Neuzeit betrat: erhobenen Hauptes, taten- und erkenntnisdurstig, durch und durch Akteur. Im Erwachen aus dem Dämmerzustand seiner vormodernen Existenz hatte ihm zu dämmern begonnen, wozu er fähig war, nämlich zur Umgestaltung der Welt nach seinen Plänen und nach seinem Willen. Dem ‘Grand Lever’ des neuzeitlichen Menschen folgte der erste kühne Schritt in den Fortschritt, an dessen Ende wir Heutigen uns vorzufinden glauben. Das neue Lebensgefühl war begleitet von Selbstbewußtsein und Zuversicht. Selbstermächtigt und selbstermutigt machen sich die Akteure der ersten Stunde daran, das Menschenmögliche zu inszenieren.

Das Bewußtsein ihrer Könnerschaft wurde ihnen zur heiligen Pflicht. Um nichts weniger ging es ja, als um die Nachbesserung einer unvollkommenen Schöpfung: „Es wäre zu wenig, wollte man sagen, daß die Moderne die menschliche Geschichte von nun an selber zu machen versprach. In ihrem heißen Kern will sie nicht nur Geschichte machen, sondern Natur. … Das entscheidende Thema der Neuzeit ist die zu machende Natur“ (P. Sloterdijk 1989, S. 23). Die große Pose des ersten Auftritts wurde zur heroischen Gebärde, denn der moderne Mensch begann, die volle Verantwortung für die Vervollkommnung seiner Welt und seiner selbst zu übernehmen und beugte sich unter den selbstgesetzten Optimierungsimperativ. Die Neuzeit beginnt mit der „Revolte des Subjekts gegen seine … (einstige, M. G.) Passivität“ (P. Sloterdijk 1989, S. 28). Am Beginn stand das befreite Aufatmen der Tatkraft, heute sehen wir die Welt unter der Atemlosigkeit, in die sie durch ihr überhitztes Tempo geriet, kollabieren. Dies scheint die Logik, die den Anfang mit dem Ende verbindet: was sich heute bedrohlich zusammenbraut oder bereits zusammenbricht, ist die Folge der Grandeur, die von Anfang an im Spiel war und die eben jetzt an ihrer Selbstüberschätzung krankt.

Wie nun aber, wenn es alles ganz anders war; wenn es nicht kühn, sondern kläglich begann; wenn der Aufbruch eher in Fluchtrichtung stattfand; wenn nicht große Entwürfe geschmiedet, sondern starke Bollwerke gebaut wurden; wenn statt des Erwachens in die Morgenröte der Vernunft ein böses Erwachen am Anfang stand; wenn nicht befreiter Atem in die Lungen, sondern Urschrecken in die Glieder fuhr; kurz: wenn nicht prometheischer Geist, sondern Todesangst die Moderne inspirierte?

Das Leben als letzte Gelegenheit

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