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4Das Schweigen

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Hast du nicht gesagt, es sei dieses Prinzip und jene Kraft? War das nicht gut und schön gesagt? Nie wird jemand wieder so sprechen können von den Strömen und Kräften, den Magneten und Mechaniken und von den Kernen aller Dinge.

Nie wird jemand wieder so sprechen von den Elementen, vom Universum und allen Gestirnen.

Nie hat jemand so von der Erde gesprochen, von ihrer Gestalt, ihren Zeitaltern. In deinen Reden war alles so deutlich: die Kristalle, die Vulkane und Aschen, das Eis und die Innenglut.

So hat niemand von den Menschen gesprochen, von den Bedingungen unter denen sie leben, von ihren Hörigkeiten, Gütern, Ideen, von den Menschen auf dieser Erde. Es war recht so zu sprechen und so viel zu bedenken.

Nie war so viel Zauber über den Gegenständen wie wenn du geredet hast, und nie waren Worte so überlegen. Auch aufbegehren konnte die Sprache durch dich, irre werden oder mächtig werden. Alles hast du mit den Worten und Sätzen gemacht, hast dich verständigt mit ihnen oder hast sie gewandelt, hast etwas neu benannt, und die Gegenstände, die weder die geraden noch die ungeraden Worte verstehen, bewegten sich beinahe davon.

Ach, so gut spielen konnte niemand, ihr Ungeheuer! Alle Spiele habt ihr erfunden, Zahlenspiele und Wortspiele, Traumspiele und Liebesspiele.

Nie hat jemand so von sich selber gesprochen. Beinahe wahr. Beinahe mörderisch wahr. Übers Wasser gebeugt, beinah aufgegeben. Die Welt ist schon finster, und ich kann die Muschelkette nicht anlegen. Keine Lichtung wird sein. Du anders als die anderen. Ich bin unter Wasser. Bin unter Wasser.

Und nun geht einer oben und hasst Wasser und hasst Grün und versteht nicht, wird nie verstehen. Wie ich nie verstanden habe.

Aus: Ingeborg Bachmann: Undine geht


Undines Welt ist sprachlos vor der Fülle der Benennungen.

Nach wie vor ist eine offene Frage, weshalb über Tausende von Jahren in der Hauptsache das Schweigen die weibliche Geschichte ausmacht. Einerseits waren sie real- geschichtlich untergeordnet und ideengeschichtlich aus der Definition des Menschen ausgeschlossen, andererseits wurde nur selten bewusst über den unklaren geschichtlichen Status der Frauen nachgedacht. Das Schweigen selbst fordert zu Projektionen und Ideen heraus. Es gibt viele Phantasien und Ideen, die das Schweigen an sich betreffen:

Ionesco, einer der großen Vertreter des Absurden Theaters notierte in seinem Tagebuch: „das Wort hindert das Schweigen daran zu sprechen.“ Zu fragen ist, ob es das Wort an sich ist, das dieses Schweigen provoziert oder nicht vielmehr ein bestimmtes Begriffsinventar, das Verstummen macht, weil es in sich dem Schweigenden fremd ist, es in seiner Wesenheit nicht erfasst und ausgrenzt, nicht anspricht und ihm den Weg nicht ebnet zum Sprechen.

Wittgenstein gar formulierte den extremen Gegensatz von der klaren Darstellung des Sagbaren, den logischen Sätzen, die die Welt abbilden und dem Denken über den Ursprung dieser logischen Sätze in der Philosophie, die das nicht Sagbare bedeute. Das Unsagbare zeige sich. Was sich zeigt, kann nicht gesagt werden; es ist das Mystische. Die Logik erfährt nach Wittgenstein hier ihre Grenze. Ihre Grenze ist die Grenze unserer Welt. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Zu fragen ist, ob eine Sprachgrenze, eine Grenze der Fremdheit und Befremdung zwischen der Welt des Weiblichen und der Welt des Männlichen, die aufgrund der Dominanz der männlichen Sprache und ihrer Parameter, die sich in wechselseitiger Vernetzung stets neu konstituiert und Welt konstruiert, aufzufinden ist, die wesentlicher Grund für das Verstummen des Weiblichen in der Geschichte war.

Silvia Bovenschen:

„Meist jedoch blieb das Schweigen der Frauen unbemerkt, es wurde zugedeckt vom Lärm der nie unterbrochenen stellvertretenden Rede über das Weibliche.“

Denn tatsächlich ist die Geschichte voll von fiktiven Entwürfen: „nur in der Fiktion, als Ergebnis des Phantasierens, des Imaginierens, als Thema ist es üppig und vielfältig präsentiert worden; als Thema war es eine schier unerschöpfliche Quelle künstlerischer Kreativität; als Thema hat es eine große literarische Tradition. Die Geschichte der Bilder, der Entwürfe, der metaphorischen Ausstattungen des Weiblichen ist ebenso materialreich, wie die Geschichte der realen Frauen arm an überlieferten Fakten ist.“ (Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, a.a.O., S.11)


Zu thematisieren ist an dieser Stelle die Frage nach der Gleichheit und Differenz in der Frage des Männlichen und des Weiblichen.

Hier zeigt sich ein nach wie vor unerlöster Streit, denn die auf prinzipielle Gleichheit pochenden, sich auf ein allgemein Menschliches berufenden Theorien leugnen die unterschiedliche Geschichtlichkeit der Geschlechter. Nicht selten bestehen sie darauf, die Frau zu dem zu machen, was der Mann schon ist, nämlich Mensch in der von der abendländischen Kulturtradition vorgeprägten Begriffsgeschichte. Die Suche nach einer Selbstbestimmung des Weiblichen als Differenz wird andererseits jedoch wieder unter Berufung auf ein „Wesen oder eine Natur der Frau“ zu fixieren versucht, womit wiederum der reale Status des Weiblichen festgeschrieben wird. Der Versuch im Sinne einer Egalitätstheorie Geschlecht als Kategorie grundsätzlich zu dekonstruieren, will großteils den gesellschaftlichen Status der Frauen verändern und ihn dem der Männer anpassen, ohne die ungleichgewichtigen geschichtlichen und ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Geschlechter zu beachten, was zu einer Verabsolutierung männlicher , scheinobjektiver, von Frauen mitkonstruierter Kultur beitragen könnte, in der das Weibliche nicht einmal mehr als Absenz, als Schweigende, als noch in ihrem Anspruch Einzulösende denkbar ist, was in etwa den gegenwärtigen inneren Globalisierungsprozess beschreibt. Dagegen stellen sich die Bedürfnisse der Männer weiterhin ihre Sehnsüchte und Ängste auf Frauen als das Andere zu projizieren und gleichzeitig die Frauen in ihrem Schweigen zu belassen. Klaus Theweleit leistete Bedeutendes, Inhalte und Formen dieser Sehnsüchte und Ängste in ihrer Vermitteltheit mit dem männlichen „Sein in der Welt“ zu präsentieren. (Klaus Theweleit: “Männerphantasien“; Frankfurt am Main 1977). Aus diesen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Ängsten entwickeln sich ‚Ergänzungstheorien’, die das Weibliche als Ergänzung und Erfüllung, aber auch Bedrohung des Männlichen begreifen.

Silvia Bovenschen zeigte an konkreten Beispielen der Literaturgeschichte des 18.Jahrhunderts klar, wie reale Frauen gegen die fiktionalen Bildproduktionen vom Weiblichen ausgespielt bzw. in diese zu integrieren versucht wurden.



Eine der wesentlichen Konstituenten zur Bestimmung des eigenen Weltbildes in der abendländischen Kulturtradition ist die Kategoriebildung und die Zergliederung des Ganzen in seine Bestandteile zum Zwecke der Benennung und Ordnung, wie dies schon in der griechischen Antike erfolgte. Es erfolgte eine positive Bestimmung und Benennung dessen, was Natur, was natürlich sei, was der Geist sei, wie er sich zur Materie verhalte, Materie wurde als Begriff eingeführt um eine unbeseelte Natur zu definieren, die man erkennen, mit der man operieren, mit der man planvoll umgehen konnte. Es gibt von Aristoteles bis herauf in die jüngsten Produktionen der Philosophiegeschichte und seien es die Versuche der feministischen Philosophie wie Herta Nagl-Docekal zahllose Publikationen, was denn nun das Wesen dieses Natürlichen der Natur und des Natürlichen des Menschen ausmache. Es gab die lebendige Auseinandersetzung und den Streit, welche der Positionen denn nun noch vernünftiger und geistreicher, der Sache selbst gerecht werde. Zugrunde liegt eine Auffassung von Welt, die ich als eine Art der Festkörperphysik benennen möchte. Es scheint als wäre das Benannte und Erkannte in seinem Sosein verfügbar, es wäre nun leichter möglich sich in dieser Welt zu bewegen, da eine gewisse Ordnung geschaffen wäre. Im Verstand wurde sozusagen aufgeräumt. Ob man sich die Welt nun dynamisch aktiv wie Hegel (und Hegel leistet mit seiner Philosophie selbstverständlich einen wichtigen Beitrag zum Verständnis, was Weisheit ist und wie sie entsteht, auch wenn er die Frauen ausschließt.) oder starr wie Aristoteles vorstellte, es schien leichter möglich mit der wirklichen Wirklichkeit, deren Chaos nun in der Erkenntnis gebannt schien, zu verfahren. Die Benennung schafft Orientierungshilfe.

Natur scheint das Andere zu sein und ist doch dem Geist gleich, der in ihr seine eigene Logik erkennt.


Möglicherweise ist es stärker eine Geschichte des Vollzugs, in dem Sprache Handlungselement in der Kommunikation oder Sakralelement im Sinne von Sprachmagie darstellt, weniger jedoch Ordnen von Begriffen oder Benennen von Sein und seinen Elementen. Im Handeln natursichtiger Völker der Gegenwart wie sie von Ethnologen untersucht, aber auch von Schamanen selbst bezeugt werden, spielt Sprache eine völlig andere Rolle als in der Welt der abendländischen Kulturtradition. Im Sinne unmittelbarer Präsenz im gegenwärtigen Augenblick, die durch Trancepraktiken verstärkt wird, werden alle Sinne geöffnet für die sinnerfüllte Wahrnehmung im außerbegrifflichen Raum, in dem das Wort einen Bestandteil des Tuns darstellt und beispielsweise dazu genützt wird, Bildwelten hervorzurufen, um unmittelbare Erkenntnisse zu ermöglichen und die Seele, den Geist und den Körper im Sosein zu erreichen, in Schwingung und somit in Wandlung zu versetzen, um Veränderung zu bewirken.

In der Interaktion mit dem begrifflosen Kind, das wie z.B. Selma Fraiberg oder Bruno Bettelheim untersuchten, was auch bereits Jean Piaget feststellte, in einer magischen Beziehungsstruktur von Welt lebt, die auch als Animismus bezeichnet werden könnte, ist Benennen stets performatives Setzen von Sprechakten, stets Vollzug, was mir aus der nahen Erfahrung im Umgang mit Kindern völlig vertraut ist. Ich weiß nicht, auf welchen Wegen John L. Austin zur Theorie der Performativität von Sprechakten gefunden hat, denn tatsächlich wird überall auf der Welt bei allen so genannten, ‚Magie’ praktizierenden Völkern bewusstes performatives Sprechen praktiziert, um Veränderungsprozesse in Gang zu setzen und Erwünschtes in der Welt zu materialisieren. Über diesen Weg haben performative Sprechakte auch Eingang in die Schrift und das Ritual der Weltreligionen gefunden, sind aber auch auf Theaterbühnen konstituierend, wo sie helfen ‚Fiktion’ zu realisieren, denn auch das Theater und die Poesie entstammen ursprünglich dem Ritus des Beschwörens.


Eine Methode dieses performativen Tuns, das im Übrigen nicht auf das Sprechen beschränkt bleibt, sondern auch das Schweigen und das Handeln, also alle Ebenen der Kommunikation umfasst, ist beispielsweise der nun in der Netzwerktheorie enthaltene Begriff des Empowerment, eine Methode, die eindeutig aus dem Bereich bewussten weiblichen und magischen Handelns stammt. Es ist dies die Methode in allen Lebensäußerungen des Sprechens, Schweigens und Handelns jemandem ein gutes Bild von sich zu vermitteln. Auch unausgesprochen in kleinsten Gesten, im Unterton, in Mimik und Gestik, vermittelt sich dieses Bild, sofern der oder die BildspenderIn sich bewusst darauf eingestimmt hat. Dieses Bild entfaltet im Anderen performative Energie und materialisiert sich. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Schüler, deren Lehrer - ob gerechtfertigt oder nicht - überzeugt waren, dass diese intelligent sind, nach einer bestimmten Zeitspanne einen wesentlich höheren Intelligenzzuwachs aufwiesen als Schüler, von denen angenommen wurde, dass sie unterdurchschnittlich begabt sind. Das ergibt sich dadurch, dass die Sprechhandlungen, die nonverbalen Gesten, die Aufmerksamkeit, die Zeiträume, die die Lehrer einem so positiv eingeschätzten Kind zuführten, dieses intensiv fördern. Durch bewusste und aktive Imagination und Meditation besteht die Möglichkeit sich auf ein positives Bild einzustimmen, das den Anderen in seinem Sosein bestmöglich erreicht. Im Sinne destruktiver Schadensmagie besteht natürlich auch die Möglichkeit ein völlig negatives oder abwertendes Bild einzuspeisen, das dann ebenso Wirkung entfaltet, was sich zumindest darin äußert, dass die so auf allen Ebenen „behandelte“ Person zu leiden beginnt, da sie die dunkle Empfindung hat, dass sie nicht vorkommt, dass sie nicht wahrhaft erkannt wird, sie kann Schuldgefühle entwickeln, Selbst- oder Fremdhass entwickeln oder geistig oder/und körperlich erkranken. Eine völlig neutral und sachlich, ausschließlich in Begriffen der Logik behandelte Person jedoch wird zutiefst verunsichert. Ist es nicht so, dass von vielen Frauen diese Kunst des Performativen bis in die kleinste Geste perfekt beherrscht wurde und teilweise noch wird? Sowohl, was die „Schadensmagie“ im Konkurrenzkampf betrifft wie auch das Empowerment, das sich im Stärken der Kinder oder anderer Familienmitglieder, vor allem aber der Männer äußert, die dies meist nicht reflektieren, waren oder sind teilweise noch immer Frauen außerordentlich wissend, sodass im Volksmund die Weisheit herrscht: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau.“ Beleuchtung, Nahrung, Berührung, Heilmittel sind weitere Bereiche performativen Handelns, die, ob bewusst oder unbewusst gesetzt, Situationen und Stimmungen wandeln. Dass ein Teil dieser Kunst nun von Frauen bewusst zur Netzwerkbildung in eigener Sache verwendet wird, gehört zu den Entwicklungen der Moderne und den Möglichkeiten des Gender-Managements. Im Übrigen sind Klang, Ton, Musik, und auch Bild, Mythos/fantastische Erzählungen und Symbol auf den feineren Ebenen des performativen Tuns weitere Möglichkeiten bewusst oder unwissend Veränderungsprozesse in Gang zu setzen und Materialisationen zu erwirken, was in unserer westlichen Zivilisation im ‚magischen’ Handeln der Werbung, bzw. der Medien insgesamt leicht beobachtbar ist. In Schulen setzt sich die Erkenntnis durch, dass seelische Wärme den Kindern mehr an sozialer Kompetenz eröffnet. Wann man herausgeforscht haben wird, dass positive Zuwendung enorm intelligenzfördernd ist, steht noch aus. Ob sich hier der Bruch aus der Nazizeit zeigt, weiß ich nicht, wäre aber denkbar. Gudrun Brockhaus stellt in ihrem Aufsatz über die Pädagogik der NS-Pädagogin Haarer dar, dass die Mütter, denen sie Macht zuschreibt, „Fassungslosigkeit, Schmerz, Abscheu, pures Entsetzen und Ekel“ empfänden angesichts des animalischen, fremden Wesens Kind mit seinen „Triebäußerungen und seiner Unvernunft, insbesondere mit seiner Unsauberkeit“. Laut Haarer ist das Kind „ein gefährlicher Gegner, der übermächtig wird, wenn man ihn nicht von Anbeginn radikal bekämpft. Von der Geburt an muss die Mutter mit diesem Kampf beginnen. Wenn sie ihr Erziehungsregime nicht mit absoluter Konsequenz und Härte durchsetzt, wird das Kind seinen Vorteil nutzen und sich mit seinen Ansprüchen ausbreiten, bis die Mutter völlig erschöpft und aufgerieben ist. Ein, zwei Mal nachgeben und schon ist ‚der kleine aber unerbittliche Haustyrann fertig.‘ ‘(Haarer: Deutsche Mutter, S. 165) “(zitiert nach Brockhaus: Muttermacht und Lebensangst, in Mütterliche Macht und väterliche Autorität, S.72)

Diese Form der Feindseligkeit dem Kind gegenüber ist jedenfalls in manchen „Abrichtungsmethoden“, die auf Liebesentzug und Abwertung beruhen, spürbar und auch in der logikversessenen, sachlichen Erziehung zu erkennen. Es ist die Abwertung des prälogischen, des emotional-sinnlichen Bereichs, der hier mit dem Kind unterdrückt und beschämt werden soll.


Die Stille als Konstituierendes der primären Erfahrung und Erkenntnis äußert sich beispielsweise in einem gleichnishaften Text buddhistischer Herkunft (1.Jh.n.Chr.)

„Der Weise Nagasena sagte zum Griechenkönig Milinda, als dieser ihn fragte, wer er sei: ‚Ich bin als Nagasena bekannt. Das ist aber nur ein Name, eine Benennung, eine landläufige Bezeichnung, denn eine Person wird dadurch nicht erfasst.’

Darauf sagte der König: ‚Wenn es keine Person gibt, wer ist dann dieser Nagasena? Sind es seine Haare, sein Fleisch, sein Herz, seine Eingeweide, sein Blut, seine Galle, sein Gehirn?“ ‚Nein, o König!’

‚Ist es seine Empfindung oder seine Wahrnehmung oder seine Willensregung oder sein Bewusstsein?’ ‚Nein, o König!’

‚Dann bilden wohl Körper, Empfindung, Wahrnehmung, Willensregung und Bewusstsein zusammen den Nagasena?’

‚Nein, o König!’

‚Soll Nagasena etwa außerhalb dieser Faktoren existieren?’ ‚Nein, o König!’

‚Soll denn das Wort ‚Nagasena’ schon Nagasena selber sein?’ ‚Nein, o König!’

‚Dann existiert Nagasena also gar nicht in Wirklichkeit?’

Da fragte Nagasena den König: ‚Bist du zu Fuß oder mit dem Wagen gekommen?’ ‚Mit dem Wagen.’

‚Dann erkläre mir, was ein Wagen ist. Seine Deichsel? Oder die Achse? Oder die Räder? Oder der Wagenkasten?’

Als der König alles verneint hatte, fragte Nagasena: ‚Soll etwa der Wagen außerhalb dieser Dinge existieren oder der Name ‚Wagen’ der Wagen selbst sein?’

‚Nicht doch, o Herr!’

‚Nun, was ist denn dieser Wagen? Du sprichst die Unwahrheit. Der Wagen existiert gar nicht.’

Da sprach der König zu Nagasena: ‚ Ich lüge nicht. In Abhängigkeit von Deichsel, Achse, Rädern usw. entsteht der Name, die Bezeichnung, das Wort ‚Wagen’.

‚Ganz richtig, o König. Gerade so entsteht in Abhängigkeit von Körper, Empfindung, Wahrnehmung, Willensregungen, und Bewusstsein der Begriff und das Wort ‚Nagasena’. Eine Wesenheit/Person ist da aber nicht vorzufinden.“ (Milindapantha: zit. nach Konrad Meisig: Klang der Stille. Freiburg/Basel/Wien, 1995, S.120f)


Natürlich könnte man nun schlussfolgern: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile und hätte dann eine logische Operation ausgeführt. Doch dies folgt wieder dem abendländischen Zwang zur Kategoriebildung, zur Verallgemeinerung und zur Begriffsbildung. Die andere Möglichkeit wäre in einen interaktiven Dialog mit der Person Nagasena einzutreten, an der der König in seiner Ganzheit und Nagasena in seiner Ganzheit sich austauschen und dabei Neues erleben, Erfahrungen mit sich und dem anderen machen oder Erkenntnisse haben im Wechselspiel von Schweigen, Sprechen und Tun in erlebter Gegenwart.


Zusammenfassend könnte man also sagen, der Weg der Mehrheit der Frauen wie der magischen Welt ist trotz manch gegensätzlicher theoretischer Auffassungen mehr ein Weg der primären Erfahrung und des Tuns als ein Weg des Analysierens, Benennens und der Begriffe zum Zwecke der Ordnung der Welt in Abgrenzung.


Erfahrung mit Licht, Farbe Zeichen, Nahrung, Heilung, Klang, Ton, Musik, Mythos, Bildwelten, Gesten, Mimik, Schweigen und Sprechen im Sinne des performativen Tuns führt zu Weisheit. Beinahe alle Weisheitsschulen der Welt legten daher größten Wert auf die mündliche Tradierung ihres Wissens und maßen trotz der Erfindung der Schrift dieser nicht die zentrale Bedeutung bei. So formulierten beispielsweise die Sufis diese Haltung zur Tradierung von Wissen in dem Satz, man könne ja auch nicht einen Kuss mit einem Brief senden.

Jede/r die/der beispielsweise ‚Empowerment’ praktiziert hat, weiß, wovon ich spreche. Doch jemand, dem solche Praxis völlig fremd ist, der möglicherweise halbherzige Versuche mit mäßigem Erfolg macht, wird zutiefst daran zweifeln. Wie erklärt man jemandem, der keinen Apfel kennt den Apfel? Erfahrung mit den damit verbundenen Erkenntnissen erwirbt man durch Übung, durch Praxis, dies erfordert jedoch einen öffentlichen Raum, die solcher Praxis Gewicht gibt, setzt also Weisheit der Mächtigen voraus. Ja, setzt voraus, dass den Lebensformen der Frauen, der Völker, dem eigenen Volk selbst Weisheit innewohnt, die sich an die Vernunft anschmiegt. Empowerment ist nur ein kleiner Ausschnitt der möglichen Strategien, denn das Reich der Poesie, der Musik, des Bildhaften, des Sinnlichen und der Bewegung ist voll von solchen Bezugsfeldern des Performativen, des Wandelns von Realität, die wechselweise wie in einem Netzwerk aufeinander einwirken.

Frauen und ihr Erbe

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