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Zwischen Entorientalisierung und Europäisierung – ein Historikerstreit
ОглавлениеAmérico Castro
Der bleibende Einfluss von Juden und Morisken auf die spanische Kultur und das Lebensgefühl ist u.a. von Américo Castro (España en su historia. Cristianos, moros y judíos, 1948) verteidigt worden. Es geht ihm um ein Spanien, das neben der christlichen auch eine islamische und vor allem jüdische Prägung beibehalten hat (vor allem in den alumbrados, den Mystikern, den Asketen) und diese auch anerkennen sollte. Aus diesem Grund sei das spanische Christentum „ganz anders als die europäische Religion“. Hinter jeder Geistesgröße dieser Zeit (von Vives über Las Casas bis Cervantes) vermutet Castro – bald mit sicherem Gespür, bald nach dem Prinzip, dass der Wunsch der Vater des Gedankens ist – einen Converso. Das orientalische Erbe findet sich auch in der Alltagskultur und Lebensart: in der Sprache (z.B. in Höflichkeitsfloskeln, in der Vorliebe für das Wehklagen, in der Vieldeutigkeit der Volkssprache oder in der barocken Fülle in Lobreden und Beschimpfungen), in der Gastronomie (bei den in Olivenöl fritierten Speisen und honigsüßen Desserts), in der Baukunst und in kulturellen Bräuchen (z.B. im nur in Spanien existierenden Mudéjarstil, in der Vorliebe für die mit weißem Kalk getünchten Fassaden und Wände sowie für den Schatten und das Wasser, die farbenprächtigen Pflanzen und die Blumen in Töpfen).
Claudio Sánchez-Albornoz
Die Entorientalisierungsthese basiert nicht so sehr auf dem Abschied von kulturellen Bräuchen, sondern auf dem Willen Spaniens, die in der westlichen Christenheit „anomale“ religiöse Situation des Mittelalters mit großen jüdischen und islamischen Minderheiten unter christlicher Herrschaft zu beenden. Für Claudio Sánchez-Albornoz (España. Un enigma histórico, 1956) entspringt Spaniens Größe dem Geist des Christentums, sodass Spanien wesentlich zur abendländischen Kultur gehöre, ja sogar mehr als die anderen europäischen Nationen; denn schließlich habe Spanien als Grenzland zum Islam ca. 800 Jahre lang um diese Zugehörigkeit kämpfen müssen und als einziges christliches Land den Islam aus eigener Kraft zurückgedrängt.
Die Entwicklung auf dem Weg zu einem ausschließlich katholischen Land nach 1492 wurde begleitet von einer zunächst begeisterten Aufnahme der kulturellen und religiösen Trends aus dem übrigen christlichen Europa (devotio moderna, italienischer Humanismus, Erasmianismus), die Ende der 1550er aus Angst vor dem Protestantismus in die Krise geriet (s. Kap. IV) und eine katholisch-tridentinische Identität eigener Prägung entstehen ließ.
Mit der Vertreibung von Juden und Morisken gab Spanien dem übrigen christlichen Europa zu verstehen, dass man sich ihm zugehörig fühlte. Mit dem Wahn der Limpieza de sangre (s. Kap. VI) nährte Spanien aber selbst den Verdacht, dass viele Christen jüdischer und islamischer Herkunft waren. So stand Spanien für andere Europäer, die Juden und Muslime noch weniger als die Spanier unter sich geduldet hätten, in einem zweifelhaften Ruf. „Treulose Juden, Marranen“, rufen die Römer den Spaniern beim Sacco di Roma (1527) zu. Besonders ärgerlich war, dass selbst Papst Paul IV. (1555–1559), der die Spanier aus Italien abzudrängen suchte, diese als ein Volk von durch fremdes Blut abgewertete Barbaren bezeichnete. Man könnte viele andere Beispiele aus den mit Spanien verfeindeten Ländern als Belege für die Tatsache anführen, dass das Antispanientum auch eine kulturell-rassistische Komponente hatte (s. oben Kap. I, Leyenda negra).