Читать книгу Haus der gefangenen Herzen - Marie Louise Fischer - Страница 10

6.

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Als Yvonne mit ihren Eltern nach mehreren Cocktails und einer ausgiebigen Schlemmermahlzeit beschwingt und gutgelaunt wie schon lange nicht mehr in die Oper fuhr, war sie der Verwirklichung ihrer heimlichen Wünsche näher als je zuvor.

Während der großen Pause genoß sie im Foyer der Oper die bewundernden Blicke der Männer und plapperte aufgekratzt mit ihren Eltern. Und dann entdeckte sie in der Besuchermenge ihre schokoladenbraune Klassenkameradin Babsy.

Sie drängte sich vor, um sie zu begrüßen.

Babsy sah reizend aus in einem leuchtend roten Kleid aus Seidenkrepp: ihre großen schwarzen Augen strahlten, als sie Yvonne begrüßte.

„Ist er nicht wundervoll, mein Daddy?” fragte sie ihre Mitschülerin glücklich. „Er hat die schönste Stimme auf dem ganzen Kontinent!”

„Ja, stellt euch vor”, rief Yvonne, „es war Babsys Vater, der den Othello singt. Ich bin auch restlos begeistert.”

Sie hakte sich bei Babsy ein und steuerte zum Buffet. Beide blieben im gleichen Moment unvermittelt stehen.

„Was ist denn nun schon wieder los?” fragte Herr Holzer, der mit seiner Frau dicht hinter ihnen ging, ärgerlich.

„Da, seht doch … Tweedy!” flüsterte Yvonne ganz benommen.

„Das ist Dr. Herbert Jung, unser Lehrer für Deutsch und Englisch”, erklärte Babsy, „der gutaussehende junge Mann da vorn an der Säule.”

Jetzt hatte auch Dr. Jung seine beiden Schülerinnen bemerkt und verbeugte sich knapp in ihre Richtung. Zum erstenmal sahen sie ihn nicht in einem seiner geliebten sportlichen Anzüge, sondern in einem Smoking, und sie fanden, daß er darin noch besser aussah als sonst.

Yvonne stieß ihre Freundin in die Seite. „Komm, begrüßen wir ihn!”

„Aber das können wir doch nicht!” widersprach Babsy.

„Warum denn nicht? Wenn du dich nicht traust, gehe ich auch allein!”

Yvonne hatte Dr. Herbert Jung schon erreicht. „Das ist aber eine tolle Überraschung”, sagte sie und reichte ihm die Hand, „wer hätte geahnt, daß Sie ein Opernfan sind, Herr Doktor Jung!”

Er lachte. „Ich muß zugeben, auch ich hätte Sie überall eher vermutet als in der Oper!”

Yvonne schlug gespielt die Augen nieder. „Da sehen Sie, wie sehr Sie mich verkannt haben!”

Dr. Jung begrüßte jetzt auch Babsy und machte ihr ein Kompliment für die Leistung ihres Vaters.

Aber Yvonne hatte es eilig, sich wieder in den Mittelpunkt zu drängen. „Darf ich Sie mit meinen Eltern bekannt machen, Herr Doktor Jung?” fragte sie.

Es war ihm nicht anzusehen, ob er diesen Vorschlag freudig oder aus purer Höflichkeit akzeptierte.

Er stellte sein Glas ab und folgte Yvonne, die ihn durch das Gedränge zu ihren Eltern führte.

Herr Holzer hatte inzwischen vier Gläser Sekt und für seine Frau einen Platz an einem der kleinen Tische erobert.

Als Yvonne sie mit ihrem Lehrer bekannt machte, zeigten sich ihre Eltern von ihrer nettesten Seite. Herr Holzer drückte ihm gleich das Glas Sekt in die Hand, das eigentlich für Babsy bestimmt gewesen war.

Dr. Herbert Jung reichte es Babsy. „Für Sie!” sagte er lächelnd. „Ich habe meinen Durst schon gestillt!” Sein herzlicher Blick tröstete Babsy über die Zurücksetzung rasch hinweg.

„Aber Sie werden uns doch die Ehre nach der Oper geben, Herr Doktor?” dröhnte Herr Holzer.

„O ja. Sie müssen uns begleiten!” rief Yvonne. „Gehen wir doch ins Blow up, das ist ein irrer Schuppen! Babsy, du kommst auch mit?”

„Nett von dir, Yvonne”, sagte Babsy, „aber ich habe schon eine Verabredung mit meinem Vater.”

„Ach so, das ist natürlich etwas anderes”, sagte Yvonne, keineswegs betrübt, „aber Sie werden uns begleiten, nicht wahr, Herr Doktor?”

„Nicht ins Blow up, sondern in eine gemütliche Weinstube”, schlug Herr Holzer vor.

„Nein, das kommt gar nicht in Frage!” protestierte Yvonne. „Eine Bar ist das mindeste, was ihr mir bieten müßt.”

„Gut, gehen wir in den Night Club”, entschied ihre Mutter, „dort ist es etwas zivilisierter.”

Dr. Herbert Jung sah keine Möglichkeit, sich dieser dreifachen massiven Aufforderung zu entziehen, ohne unhöflich zu erscheinen.

„Mit Vergnügen”, sagte er also mit einer leichten Verbeugung.

„Wunderbar!” rief Yvonne und warf Babsy einen triumphierenden Blick zu.

Sie schwebte in allen Wolken bei der Vorstellung, mit Dr. Herbert Jung zu tanzen und flirten zu können.

Als Yvonne am späten Sonntagnachmittag auf Schloß Hohenwartau eintraf, stürzte sie auf Ellen und Margot zu.

„Stellt euch vor, was ich gestern erlebt habe!” rief sie. „Ob ihr’s glaubt oder nicht … ich war mit Tweedy tanzen!”

Aber ehe sie die Verblüffung ihrer beiden Mitschülerinnen auskosten konnte, passierte etwas, was sie völlig aus dem Konzept brachte.

Das Auto des umschwärmten Lehrers fuhr in den Schloßhof, und ihm entstieg – Helga. Dr. Jung hatte sein Versprechen gehalten und sie wieder ins Internat zurückgebracht. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Yvonne, wie Helga sich ihren Koffer herausreichen ließ und sich bei Dr. Jung fürs Mitnehmen bedankte.

„Das ist doch … wahrhaftig die Höhe!” stieß Yvonne empört aus.

Margot pfiff durch die Zähne. „Hui! Unser Tweedy ist ja ein richtiger Casanova.”

„Dieses Biest, dieses gemeine, hinterhältige Biest!” zischte Yvonne, außer sich vor Eifersucht und voller Zorn, weil sie sich um einen Triumph gebracht sah, mit dem sie ganz sicher gerechnet hatte.

Jetzt kam Helga an ihnen vorbei und gab sich Mühe, so unbefangen wie möglich zu grüßen. „Hallo, da sind wir also mal wieder.”

Yvonne vertrat ihr den Weg. „Wie hast du das gedreht?” fragte sie.

„Was?” fragte Helga und merkte, daß ihre Schlagfertigkeit sie im Stich gelassen hatte.

„Daß Tweedy dich irgendwo aufgelesen hat!”

„Er hat mich nicht aufgelesen”, entgegnete Helga kühl, „sondern von zu Hause abgeholt, wenn du es genau wissen willst.”

„Erkläre mir gefälligst …” Yvonne packte ihre Exfreundin am Arm.

„Bei dir piept’s wohl! Seit wann bin ich dir Rechenschaft schuldig?” Helga riß sich los und verschwand durch das Schloßportal.

„Das wird sie mir büßen!” schrie Yvonne und wollte hinter ihr her.

Aber Margot und Ellen hielten sie zurück.

„Nun reg dich bloß nicht künstlich auf”, mahnte Margot, „ist doch ganz egal, wie es Helga gelungen ist, sich in Tweedys Wagen zu schmuggeln. Tatsache ist, sie hat es geschafft. Ehrlich gestanden, ich hätte ihr so viel Schneid gar nicht zugetraut.”

„Schamlos, wie sie ihm nachläuft!” rief Yvonne und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. „Mit mir war er gestern abend aus … ich schwöre es euch, bei allem, was mir heilig ist!”

„Das wird nicht gerade viel sein”, meinte Margot spöttisch.

Inzwischen waren auch Ilse und Uschi mit einem Taxi eingetroffen und gesellten sich zu der Gruppe. Sofort wurden sie aufgeklärt, worüber Yvonne sich so erboste.

„Aber mit mir hat er getanzt! Mit mir!” schrie Yvonne.

„Da kommt Babsy, sie kann es bezeugen!” Sie raste ihr entgegen, packte sie bei der Hand und zerrte sie zu den anderen. „Du warst doch dabei, als Tweedy mich gestern in der Oper angesprochen hat … und mich gebeten hat, meinen Eltern vorgestellt zu werden … und ganz versessen darauf war, nachher mit mir auszugehen! War’s nicht so?”

„Nicht ganz”, sagte Babsy wahrheitsgemäß, „aber immerhin … ungefähr.”

„Jedenfalls war er mit mir tanzen!” Yvonne tippte sich mit dem Finger auf die Brust. „Mit mir! Und mir gehört er. Wehe dem, der mir dazwischenfunken will! Helga soll was erleben!” Sie wandte sich dem Portal zu und stürmte die breite geschwungene Treppe nach oben.

Die anderen folgten ihr neugierig und voller Sensationslust.

Aber kaum war Yvonne in dem Zimmer, das sie mit Helga teilte, drehte sie sich nur um und befahl: „Laßt uns gefälligst allein!” – Ehe eines der Mädchen protestieren konnte, hatte sie ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Helga und Yvonne waren allein, und es war sekundenlang sehr still im Raum.

Yvonne lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, damit sie nicht von außen geöffnet werden konnte.

Helga tat, als ginge sie Yvonnes Theater nichts an und war, scheinbar in aller Seelenruhe, damit beschäftigt, frische Unterwäsche, Blusen und Pullover in ihren Schrank zu stapeln.

Yvonne beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Was hast du mir also zu sagen?”

„Nichts”, erwiderte Helga beherrscht.

Yvonne mußte an sich halten, um sich nicht auf die ehemalige Freundin zu stürzen. „Ich mache dir einen Vorschlag in Güte”, sagte sie so sanft sie konnte, „erzähle mir, was du mit ihm erlebt hast …”

„Nichts”, sagte Helga wieder.

„… dann werde ich dir verraten, was er mir ins Öhrchen geflüstert hat!”

„Nichts”, sagte Helga zum drittenmal.

Jetzt konnte Yvonne ihre Wut nicht mehr unterdrücken. „Was soll das heißen?! Nichts, nichts, nichts … hast du die Sprache verloren? Anscheinend ist bei dir eine Schraube locker!”

„Höchstens bei dir”, erwiderte Helga auch nicht gerade liebenswürdig, „wenn ich, nichts’ gesagt habe, so habe ich auch ,nichts’ gemeint. Ich habe nichts mit Tweedy erlebt, und du auch nicht!”

„Da irrst du dich aber entschieden! Mit mir hat Tweedy ganz lieb und zärtlich getanzt. Ja, er hat mir eine Liebeserklärung gemacht!”

Es gab Helga einen Stich, aber sie ließ sich nichts anmerken, wie betroffen sie bei dem bloßen Gedanken war, daß Yvonne doch die Wahrheit sagen könnte.

„Ich glaube dir kein Wort”, behauptete sie.

„Und warum nicht? Bildest du dir etwa ein, er könnte sich in dich verliebt haben?”

„Quatsch!”

„Das ist die erste treffende Bemerkung, die ich seit langer Zeit von dir gehört habe! Soll ich dir mal verraten, was Tweedy für dich empfindet? Mitleid, nichts als Mitleid. Das hat er mir gesagt.”

Helga spürte, wie ihr alles Blut zum Herzen schoß.

„Du lügst”, sagte sie mit einer Stimme, die ihr nicht mehr recht gehorchen wollte.

„Nein, nicht ich, du! Du machst dir etwas vor! Wer bist du denn und was hast du denn, daß ein Mann wie er sich für dich interessieren könnte? Denk bloß mal einen Augenblick nach, das ist doch heller Wahnsinn!”

„Und wer bist du?” gab Helga gereizt zurück. „Eine oberflächliche, leichtsinnige, alberne und verwöhnte Person, die sich etwas darauf einbildet, stinkreiche Eltern zu haben. Aber wenn du denkst, daß dich das auch nur einen Hauch liebenswerter macht, dann bist du entschieden auf dem Holzweg!”

„Nur kein Neid! Wer hat, der hat!”

„Du dumme, eingebildete Gans! Nicht für alles Geld der Welt möchte ich so blöd sein wie du!” schrie Helga außer sich.

Im gleichen Augenblick stürzte sich Yvonne mit gespreizten Fingern auf sie und fuhr ihr quer über die Wange. Helga packte ihre Handgelenke und warf sie aufs Bett. Yvonne hakte sich mit dem Fuß um ihr Bein und riß sie zu Boden. Aber Helga zog sie mit sich. Sie wälzten sich kratzend, beißend und schlagend in dem engen Raum zwischen den Betten herum. Yvonne stieß mit dem Kopf gegen die Ecke eines Schrankes und schrie auf.

Erst jetzt bemerkten die Mitschülerinnen, daß die Tür nicht mehr blockiert war, und drängten herein. Vergeblich bemühte sich Babsy, die beiden Kampfhühner zu trennen, es gelang ihr nicht.

Die anderen schrien durcheinander: „Immer feste drauf!” – „Hört doch auf mit dem Blödsinn!” –„Dein schöner Hosenanzug, Yvonne!” – Donnerwetter, die geben es sich aber tüchtig!”

Über all dem Tumult bemerkte niemand, daß Fräulein von Zirpitz sich genähert hatte. Erst als sie sich einen Weg durch die dicht gedrängten Mädchen bahnte, wichen sie erschrocken auseinander. Nur Babsy, Helga und Yvonne merkten immer noch nichts.

„Auseinander!” befahl die Erzieherin mit schneidender Stimme. „Aber sofort!”

Yvonne und Helga richteten sich mühsam auf, klopften sich den Staub ab und holten Atem.

„Keine Erklärungen, bitte! Sparen Sie sich Ihre Worte für den Herrn Direktor! Ich werde diesen ungeheuerlichen Vorfall selbstverständlich melden! Kommen Sie aus dem Zimmer, meine Damen!”

Die meisten Mädchen folgten ihr. Nur Babsy, Yvonne und Helga blieben betroffen zurück. Den nächsten Heimfahrtssonntag hatten sie sich vermasselt, und das war schlimmer als die Schrammen, Püffe und Beulen, die sie abbekommen hatten.

„Was sollen wir jetzt bloß sagen?” jammerte Yvonne.

„Nichts”, sagte Helga, „oder willst du Tweedy etwa hineinreißen?”

„Es würde nichts nützen”, sagte Babsy düster. „Wir sind beim Raufen erwischt worden, und das langt.”

„Stimmt auffallend”, sagte Helga und betrachtete verärgert ihre zerrissenen Strümpfe, „also, Yvonne, wenn du jetzt noch ein Wort über Tweedy verlierst …”

„Schnapsidee! Schließlich liebe ich ihn ja!”

Helga wollte sich erneut auf die Rivalin stürzen, aber Babsy fuhr rasch dazwischen. „Nicht schon wieder!” rief sie beschwörend. „Für heute habt ihr entschieden genug Unheil angerichtet!”

Helga, Yvonne und Babsy ließen die Strafpredigt Direktor Pförtners über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken, sie verteidigten sich nicht, entschuldigten sich nicht und erklärten nichts. Auch als er ihnen verkündete, daß sie am nächsten Heimfahrtsonntag im Internat bleiben müßten, verzogen sie keine Miene, denn sie hatten ja mit dieser Maßnahme gerechnet.

Der Direktor, ein hochgewachsener alter Herr, machte es kurz, als er merkte, daß die drei nicht zum Sprechen bereit waren.

Die Mädchen verließen das Büro etwas zerknirscht.

Niemand ahnte, daß der Direktor längst Bescheid wußte, denn Fräulein Zirpitz hatte ihre Augen und Ohren überall und meldete alles, was sie sah und hörte.

Dr. Herbert Jung sollte nicht so leicht davonkommen wie seine drei Schülerinnen!

Haus der gefangenen Herzen

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