Читать книгу Haus der gefangenen Herzen - Marie Louise Fischer - Страница 8

4.

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Yvonne hielt das Bein angezogen und jammerte: „Mein Fuß! Ich weiß nicht, was passiert ist! Ich fürchte, ich habe ihn mir gebrochen!” Ihre großen blauen Augen standen voller Tränen.

Dr. Herbert Jung bückte sich über sie, griff ihr unter die Arme und richtete sie auf. „Versuchen Sie mal, ob Sie gehen können.”

Sie machte einen Schritt und sackte dann mit einem neuerlichen Schrei in seinen Armen zusammen. „Verzeihen Sie mir … oh! Ich kann nicht. Es tut entsetzlich weh!”

Er hob sie hoch und trug sie zu einer Parkbank am Rande des Tennisplatzes hinüber. Sie schlang beide Arme um seinen Hals. Als er sie sanft niederlegen wollte, zog sie mit einem plötzlichen Ruck sein Gesicht zu sich herunter und drückte einen heftigen Kuß auf seine Lippen.

Aber da hatte er sich schon von seiner Überraschung erholt, und es gelang ihm, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Armes Kind”, sagte er spöttisch, „Sie scheinen einen Schock erlitten zu haben. Vielleicht sogar eine Gehirnerschütterung. Ich werde die Ärztin benachrichtigen müssen.”

„Sie sind gemein! Oh, wie gemein Sie sind!” rief Yvonne.

„Mit gesunden Sinnen wären Sie zu einer solchen Fehlhandlung doch gar nicht fähig gewesen”, erklärte Tweedy mit gespieltem Ernst, „eine wohlerzogene junge Dame wie Sie! Ausgeschlossen!”Er wendete sich ab.

„Wohin gehen Sie?” rief sie verzweifelt.

„Hilfe holen”, sagte er ruhig, „da Sie nicht auftreten können, bleibt Ihnen vorerst nichts übrig, als da zu bleiben, wo Sie sind.”

„Bitte”, flehte Yvonne, „bitte bleiben Sie!”

Aber er blieb nicht stehen, hörte nicht einmal auf sie, sondern schritt rasch und zielbewußt in Richtung Schloß davon. Auf halben Weg begegneten ihm Helga, Babsy und Ellen, die zwischen Studierzeit und Abendbrot durch den Park schlenderten, um frische Luft zu schöpfen. Die Dämmerung hatte sich inzwischen wie ein blauer Schleier gesenkt, und gerade als die vier aufeinander trafen, gingen die Laternen an.

„Gut, daß ich sie treffe!” rief Dr. Jung. „Yvonne hat einen Unfall gehabt. Sie hat sich den Fuß verknackst oder gebrochen, was weiß ich. Es wäre nett, wenn Sie sich um Sie kümmern würden!.”

Die drei Mädchen sagten gar nichts und blickten ihn nur aus weit aufgerissenen Augen an.

Ihm wurde es unbehaglich. „Warum starren Sie mich denn so an, als ob ich ein Gespenst wäre?” rief er.

„Ihr Mund ist mit Lippenstift verschmiert, Herr Doktor”, erklärte Babsy geradeheraus.

Tweedy suchte hastig ein Taschentuch und beeilte sich, die verräterischen Lippenstiftspuren wegzureiben. „Na so etwas”, sagte er, „wie kann das bloß passiert sein?”

„Ja, das ist die Frage”, ließ sich Ellen trocken vernehmen.

„Bevor wir das Problem lösen, sollten wir aber erst mal nach Yvonne schauen.”

Sie brauchten nicht weit zu laufen, da kam ihnen Yvonne schon mühsam humpelnd entgegen, die Ärmel ihres knallroten Pullovers dekorativ um den Hals geschlungen, den Tennisschläger unter dem Arm.

„Nanu!” rief Babsy, „du kannst wieder gehen? Wir fürchteten schon, es hätte dich ernstlich erwischt!”

„Halb so wild! Tweedy war bloß so besorgt um mich, er wollte unbedingt, daß ich liegenbleibe.”

„Und um dich zu trösten, hat er dir einen Kuß gegeben”, konnte Helga sich nicht verkneifen zu sagen.

„Das wollte ich euch eigentlich nicht verraten”, behauptete Yvonne mit strahlenden Augen, „aber wenn ihr es schon wißt …”

„Es war nicht zu übersehen”, sagte Babsy, „du solltest es mal mit einem kußechten Lippenstift versuchen.”

„Oh, und er ist so ins Schloß gelaufen?” rief Yvonne mit gespieltem Erschrecken.

„Nein, da muß ich dich enttäuschen”, sagte Helga kühl, „Babsy hat ihn darauf aufmerksam gemacht.”

Yvonne hängte sich bei Babsy ein. „Wie lieb von dir. Ich möchte wirklich nicht, daß Tweedy meinetwegen Schwierigkeiten bekommt.” Sie lächelte bedeutungsvoll. „Obwohl er – unter uns gesagt – ganz schön frech war.”

„War’s denn schön?” fragte Ellen.

„Ich habe ihn natürlich abblitzen lassen! Was denkt ihr denn?”

„Der Lippenstift war aber ziemlich eindeutig!”

„Einen Kuß durfte ich ihm wohl gönnen, ohne mir etwas zu vergeben, ich wollte mal ausprobieren, wie weit er gehen würde. Aber als er an meinen Knöpfen fummelte …”

„Das lügst du, Yvonne!” rief Helga empört.

„Ich kann verstehen, daß du das nicht gerne hörst, meine Liebe”, erklärte Yvonne von oben herab. „Aber du darfst mir schon glauben, daß Tweedy ziemlich dreist und unverfroren versucht hat, mit mir anzubändeln.” Sie seufzte. „Eigentlich fand ich es ganz nett. Endlich mal ein richtiger Mann. Trotzdem mußte ich ihm eine schmieren, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen.”

„Dann ist unser Tweedy ja ein schlimmer Draufgänger”, sagte Babsy ziemlich fassungslos.

„Ach, ich kann ihn verstehen.” Yvonne hängte sich jetzt auf der anderen Seite bei Ellen ein. „Weil ich endlich weiß, wie verschossen er in mich ist, seit dem ersten Schultag. Es hat ihn unendliche Überwindung gekostet, sich vor der Klasse zusammenzunehmen. Der Arme!”

„Und was war dann mit Helga?” bohrte Babsy. „Die hat er doch auch in die Arme genommen!”

„Kavaliersmäßige Hilfestellung. Nicht wahr, Helga?” flötete Yvonne.

Helga schluckte, bevor sie antwortete: „Ja, ich kann Tweedy nichts nachsagen. Er hat mir weder eine Liebeserklärung noch einen unsittlichen Antrag gemacht.”

„Wußt ich’s doch”, rief Yvonne triumphierend. „Er hatte es von Anfang an nur auf mich abgesehen! Wenn du ihm einen Gefallen tun willst, Helga, dann such doch bitte seinen Schläger, den hat er auf dem Tennisplatz fallen lassen, als ich stürzte. Bring ihn in den Schuppen und schließ ab.”

Ohne Helgas Antwort abzuwarten, wandte sie sich an Babsy und Ellen. „Und euch verrate ich inzwischen, wie es war. Sicher könnt ihr eine Menge lernen.”

Flüsternd und kichernd zogen die drei anderen ab.

Helga hatte sich selten so elend gefühlt.

Die Geschichte von Yvonnes Abenteuer breitete sich im Internat wie ein Lauffeuer aus, und Yvonne sonnte sich in ihrem Ruhm. Trotz ihrer blühenden Phantasie machte sie sich aber nichts vor: vom Ziel ihrer Wünsche war sie noch weit entfernt.

Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann, den sie anhimmelte, nicht auf sie fliegen sollte. Wenn Tweedy noch nicht Feuer gefangen hatte, so konnte das nur daran liegen, daß er fürchtete, seine Stellung zu verlieren.

Mit allen Mitteln – mit verfänglichen Fragen, vertraulichen Anspielungen und großen Augenaufschlägen – versuchte sie, ihn im Unterricht aus der Reserve zu locken, und in der Freizeit lauerte sie ihm überall auf. Aber sie hatte Pech. Dr. Herbert Jung verhielt sich in der Schule völlig unpersönlich, und es gelang ihr auch nie mehr, ihn allein zu erwischen.

Während sie sich noch den Kopf darüber zerbrach, wie sie ihn becircen könnte, kam ihr der Zufall zu Hilfe. Ihre Mutter schrieb ihr, daß sie sie am letzten Heimfahrtsonntag vor den Weihnachtsferien nicht abholen könnten, sondern ihren Vetter Hans, der das Landschulheim besuchte, darum gebeten hatten.

Hans kam Yvonne wie gerufen. Er sah phantastisch aus und fuhr einen tollen roten Flitzer. Zwar war er nicht gerade eine geistige Leuchte – mit zwanzig Jahren war es ihm noch nicht gelungen, das Abitur zu machen –, aber das konnte ihm niemand an der Nase ansehen. Außerdem spielte es, wie Yvonne fand, keine große Rolle, da seine Eltern stinkreich waren und er später die väterliche Firma übernehmen sollte.

Vergnügt den Brief ihrer Mutter schwenkend, stürmte sie in das Wohnzimmer der zwölften Klasse. „Ich hab’s geschafft!” rief sie, „endlich geschafft.”

„Was denn?” fragte Babsy.

„Mein Freund holt mich am Samstag ab! Meine Eltern sind endlich mal verhindert.”

„Neuanschaffung?” fragte Margot ziemlich gleichgültig.

„Nein, ihr kennt ihn schon. Hans Mayr, der mit dem süßen roten Auto!”

„Keine unüble Type”, erklärte Margot anerkennend.

„Hui!” rief Kicki. „Da wird Tweedy aber platzen, wenn er sieht, daß du noch andere Eisen im Feuer hast.”

„Soll er doch”, sagte Yvonne wegwerfend, „meine Kragenweite ist er sowieso nicht.”

Helga ärgerte sich über diese Unterhaltung, denn sie durchschaute Yvonnes Plan. Es hatte ihr schon auf der Zunge gelegen, verlauten zu lassen, daß Hans Mayr Yvonnes Vetter und ein ziemlich unbedarfter Boy war, aber solche Bemerkungen wären nur boshaft und billig gewesen. Also zog sie es vor, den Mund zu halten.

Yvonne gestaltete die Ankunft Hans Mayrs und ihre gemeinsame Abfahrt zu einem imposanten Theaterauftritt.

Als der rote Sportwagen in den Burghof kurvte, stürzte Yvonne vor und dirigierte Hans mit schwenkenden Armen zu einem zentralen Parkplatz. Sobald der Wagen stand, riß sie die Tür auf, fiel Hans um den Hals und küßte ihn leidenschaftlicher, als es die Schulordnung erlaubte. Sie sah reizend aus in ihrem maigrünen Hosenanzug, und Hans war von der unerwartet herzlichen Begrüßung sichtlich angetan. Er hielt sie auf Armeslänge von sich, musterte sie voll Wohlgefallen und umarmte sie gleich darauf von sich aus noch einmal stürmisch.

Aber die Wirkung der Szene verpuffte. Im Hof herrschte ein unübersehbares Durcheinander von ankommenden und abfahrenden Autos, und jedes der Mädchen war mehr als genug mit sich selbst beschäftigt.

Nur Helga hatte oben vom Wohnzimmerfenster einen ungestörten Überblick. Yvonne und Hans waren ihr ziemlich schnuppe, aber sie mußte wissen, wie Tweedy reagieren würde. Gleichgültig? Eifersüchtig? Wütend? Spöttisch?

Doch Yvonne kam es natürlich nur darauf an, daß Dr. Herbert Jung sie zusammen mit Hans Mayr sah. Zuerst blickte sie ganz vorsichtig aus den Augenwinkeln nach links und rechts, aber als sie ihn nirgends entdecken konnte, hielt sie offen nach ihm Ausschau.

„Komm schon”, drängte Hans Mayr, „laß uns abhauen.”

„Nein, nein!” wehrte sich Yvonne, und mit einer plötzlichen Eingebung sagte sie: „Tut mir wahnsinnig leid, aber ich muß noch mal rauf, ich habe was vergessen!”

„Weiber”, knurrte Hans und zündete sich eine Zigarette an.

Natürlich hatte Yvonne nichts vergessen, sie wollte nur die Chance erhöhen, daß Tweedy sie und Hans und den Sportwagen doch noch entdeckte. Sie lief die breite Treppe hinauf bis zum zweiten Absatz und spähte durch das breite Bogenfenster in den Hof.

Aber Dr. Herbert Jung tauchte nirgends auf, und als Hans seinen Zigarettenstummel zu Boden warf, hielt Yvonne es für besser, ihn nicht länger warten zu lassen.

So lief sie also zu ihm, begrüßte ihn noch einmal mit bühnenreifer, inniger Umarmung und flüsterte:

„Verzeih mir, daß es so lange gedauert hat!”

Dann stiegen sie endlich ins Auto.

Hans Mayr gab Gas und schoß mit einem solchen Satz rückwärts, daß einige Mädchen kreischend zur Seite sprangen. Er wendete und brauste mit Karacho den kurvenreichen Schloßberg hinab. Dabei hielt er das Steuer mit der linken Hand und legte den rechten Arm um Yvonnes Schultern.

„Und was machen wir nun mit dem angebrochenen Tag?” fragte er.

Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.

„Was denn schon? Du bringst mich auf dem schnellsten Weg nach Hause.”

„Ich höre wohl nicht recht? Nach der enthusiastischen Begrüßung!”

„Ich habe mich riesig gefreut, dich wiederzusehen! Aber jetzt laß mich um Himmels willen los und leg beide Hände dahin, wohin sie gehören.”

Er lachte nur. „Leider augenblicklich unmöglich, ich muß ja fahren!”

„Flegel!” Sie gab ihm mit dem Ellbogen einen Puff in die Rippen.

„Mach das nicht noch einmal”, warnte er, „sonst knallen wir gegen einen Baum!”

Vor Schreck schmiegte sie sich scheinbar gefügig an ihn.

„So ist es recht!” sagte er anerkennend, „du bist schon ein süßer kleiner Käfer, falls du dich nicht darauf kaprizierst, die Kratzbürste zu spielen.”

„Hm, hm”, murmelte sie nur, „fahr vorsichtig.”

Er spielte mit der freien Hand in ihrem Haar. „Wann wird es endlich mal was mit uns beiden?”

„Was willst du mehr”, sagte sie, „wir sind gute Freunde … oder etwa nicht?”

„Freunde! Klingt richtig erhebend!” Er zupfte an ihren Locken.

„Aua! Du ziepst mich!”

Er lachte. „Wir sollten ein bißchen in den Wald fahren”, schlug er vor.

„Wozu?”

„Um zu schmusen natürlich!”

„Du spinnst wohl! Ich kann mir was Schöneres vorstellen! Am hellichten Tag? Noch dazu bei der Kälte?”

„Mach die Augen zu, dann wird es dunkel, und wenn ich den Motor laufen lasse, frierst du nicht.”

„Hör auf mit dem Quatsch”, sagte sie ungeduldig, „du weißt genau, daß meine lieben Eltern mit der Stoppuhr in der Hand zu Hause warten.”

„Dann hatten wir eben eine Panne.”

„Das nehmen sie uns nicht ab. Blöd mögen sie ja sein, aber so blöd doch nicht.”

Er seufzte, gab Gas und bog in die Autobahn ein. „Warum machst du es mir so schwer, Baby?” sagte er. „Du weißt doch genau, daß ich auf dich stehe.”

„Sehr schmeichelhaft”, erwiderte sie, „trotzdem habe ich nicht die Absicht, jemals mit dir zwischen Armaturenbrett und Rücksitz herumzuknutschen.”

„Verlangt ja kein Mensch. Du könntest mich zu Hause besuchen. Ich schaukele es schon, daß ich meine Eltern ins Kino oder sonstwohin schicke.”

„Aber meine sind wie Kletten.”

„Ach was! Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Du brauchst bloß ja zu sagen, dann werde ich die Sache schon arrangieren.”

Yvonne schwieg.

„Los … sag ja!” drängte er.

„Zu was?”

„Zu einem kleinen Match. Du verstehst mich ganz genau.”

Sie suchte nach einer Antwort, die ihm ihren Standpunkt klarmachen sollte, ohne ihn zu verletzen. „Hör mal, Hans”, sagte sie zögernd, „versteh mich richtig, wir sind so gute Freunde, daß ich …” „Also du hast Angst!” sagte er beleidigt. „Quatsch! Wovor denn?”

„Was weiß ich! Vor einem Kind oder sonst etwas! Hast du es noch nie getan?”

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