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3.

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Helga war, obwohl sie sich die Decke über die Ohren gezogen hatte, Zeugin dieser Auseinandersetzung geworden. Es war ihr klar, daß Yvonne einen Reinfall auf der ganzen Linie erlebt hatte.

Aber dieser äußerliche Sieg tröstete Helga nicht über die Tatsache hinweg, daß ihre langjährige Freundschaft mit einem einzigen Schlag zerbrochen war.

Und noch etwas anderes machte ihr zu schaffen: sie hatte bis zum heutigen Tag nicht geahnt, daß sie nur Stipendiatin auf Schloß Hohenwartau war. Sie hatte, wie alle, gewußt, daß etwa zehn Prozent der Schülerinnen aus der sogenannten Begabtenreserve stammten und nichts zu zahlen brauchten. Aber Direktor Pförtner verriet niemals, wer zu dieser Gruppe gehörte.

Helga konnte sich auch nicht vorstellen, wie Yvonne es herausbekommen hatte. Vielleicht hatte sie irgendwann eine Bemerkung aufgeschnappt, die nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war, oder vielleicht hatte sie ihren vergifteten Pfeil auch einfach ins Blaue losgeschnellt. Aber Helga machte sich nichts vor.

Sie wunderte sich über sich selbst, wie sie so gedankenlos hatte sein können. Sie war ihren Eltern immer dankbar gewesen, daß sie sie dieses erstklassige Internat besuchen ließen. Aber niemals hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, woher ihr Vater das Geld für eine so kostspielige Erziehung nehmen konnte. Denn obwohl er nicht schlecht verdiente, waren der große Haushalt mit den fünf jüngeren Geschwistern, die Miete des Hauses in München-Trudering teuer genug, um das Monatsgehalt eines Bankprokuristen zu verschlingen.

Sekundenlang hatte Helga den Wunsch, ihre Koffer zu packen und auf und davon zu gehen. In der Stadt hätte sie wie jedes andere Mädchen ein Gymnasium besuchen können, ohne Schulgeld zu bezahlen.

Aber sie verwarf die Idee, aufzugeben, sogleich wieder. Das konnte sie ihren Eltern nicht antun. Außerdem wußte sie, daß sie mit ihrem Abgang Yvonne nur den größten Gefallen getan hätte.

Nein, Yvonne sollte nicht triumphieren. Helga war entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten, und sie war sicher, daß ihr das um so leichter fallen würde, da die meisten in der Klasse auf ihrer Seite standen.

Aber noch etwas anderes wurde Helga in dieser Nacht klar. Sie durfte sich nicht den kleinsten Flirt mit Dr. Herbert Jung erlauben. Sie gestand sich, daß er ihr viel bedeutete. Jedenfalls hatte sie sich so, wie sie jetzt empfand – mit dieser ziehenden, fast schmerzhaften Sehnsucht in der Herzgrube –, immer die Liebe vorgestellt.

Doch ihr Verstand sagte ihr, daß sie sich irren mußte. Doktor Herbert Jung war ein erwachsener Mann, er sah gut aus und war ausgesprochen intelligent – warum sollte er ausgerechnet an ihr Gefallen finden?

Doch: selbst wenn Tweedy Feuer gefangen hatte – wohin sollte das führen? Nicht nur um ihret-, auch um seinetwillen durfte das nicht so weitergehen. Direktor Pförtner war ein gerechter, aber äußerst strenger Mann. Selbst der Schatten eines Verdachtes würde ihm Anlaß geben, dem jungen Lehrer zu kündigen und sie, die Schülerin, vom Internat entfernen.

Die Mädchen auf dem Eliteinternat hatten alles: Tennisplätze, ein geheiztes Schwimmbad, die Möglichkeit zu reiten und Ski zu laufen, ein Fernsehund ein Radiozimmer, sogar ein Heimkino, gutes Essen und erstklassigen Unterricht. Nur etwas war ihnen absolut verboten: der private Umgang mit Wesen männlichen Geschlechts.

Die meisten Eltern zahlten das hohe Schulgeld nicht in erster Linie wegen der guten Erziehung, die ihren Töchtern hier zuteil wurde, sondern vor allem deswegen, weil sie in den gefährlichen Jahren gegen alle Verlockungen der Außenwelt wohl behütet wurden.

Helga wußte, daß sie dieses Gesetz nicht übertreten durfte, wenn sie sich und dem geliebten Lehrer nicht erheblichen Ärger bereiten wollte.

Auf jeden Fall mußte es Schluß mit den privaten Beziehungen zwischen ihr und Doktor Jung sein, Schluß, bevor noch etwas begonnen hatte. Das schwor sich Helga in dieser Nacht. Sie würde sich ihm gegenüber völlig unpersönlich verhalten und jedes Zusammensein unter vier Augen vermeiden, so heftig und schmerzhaft ihr Herz auch bei dem bloßen Gedanken an ihn schlagen mochte.

Sie konnte nicht schlafen. Sie ging nach unten, in die Duschräume. „Ein heißes Bad ist das einzige, was mich wieder auf vernünftige Gedanken bringen kann”, dachte sie.

Sie war gerade dabei, sich nun endgültig für die Nacht fertigzumachen, als der Duschvorhang aufgerissen wurde. Yvonne stand vor ihr, umringt von den anderen Mädchen. Helga sah erschrocken auf. „Wollen wir uns nicht wieder vertragen, Yvonne?” fragte sie schüchtern. „Sieh mal, wir müssen doch mindestens dieses Schuljahr noch miteinander verbringen. Es wird gräßlich sein, wenn wir uns wegen eines Nichts in eine Todfeindschaft hineinsteigern!”

„Das soll es ja auch!” knurrte Yvonne wütend und warf ihren Pullover in hohem Bogen in eine Ecke, „es soll gräßlich werden, du Biest. Du wirst schon sehen, wie es ist, wenn du nichts mehr geschenkt bekommst von mir … wenn du dauernd in deinen blöden Klamotten herumlaufen mußt!”

Jetzt war auch Helgas Friedensbereitschaft erschöpft.

„Und du wirst dich wundern”, gab sie böse zurück, „wie es sein wird, wenn dir niemand mehr den Lehrstoff dreimal vorkaut, bis du ihn endlich kapierst, wenn du niemanden mehr hast, von dem du abschreiben kannst, wenn Fünfer und Sechser auf dich hereinprasseln werden!”

Es dauerte lange in dieser Nacht, bis die Mädchen, beide Groll und Weh im Herzen, endlich eingeschlafen waren.

Eigentlich hatte Helga erwartet, daß Tweedy sich über ihr verändertes Wesen wundern würde. Ohne es sich einzugestehen, hatte sie gehofft, daß er sie bei nächster Gelegenheit fragen würde, warum sie sich so betont zurückhaltend und sachlich gab.

In Wirklichkeit aber schien Dr. Jung nicht einmal zu bemerken, daß sie sich ihm gegenüber betont kühl benahm. Er tat ganz so, wie wenn er vollkommen vergessen hätte, daß sie vor gar nicht langer Zeit in seinen Armen gelegen hatte.

Das war eine bittere Enttäuschung für Helga. Trotz allen Kummers aber war sie doch erleichtert, daß sie ihm wenigstens nicht gezeigt hatte, wie sehr sie sich nach einer Aussprache sehnte.

Sie bedeutete ihm nichts, nun gut, jedenfalls konnte aber auch er nicht wissen, welche Rolle er in ihren Träumen spielte.

Yvonne war durch nichts zu überzeugen, daß es keine privaten Beziehungen zwischen Tweedy und Helga gab. Nach wie vor verfolgte sie die frühere Freundin mit unerbitterlichem Haß.

„Menschenskind, du hast ja eine Meise!” sagte Babsy eines Tages in der großen Pause, als Yvonne wieder einmal ihre Schmährede gegen Helga losgelassen hatte. „Du brauchst die beiden doch nur mal zu beobachten, dann mußt du doch merken, daß nichts zwischen ihnen ist.”

„Denkst du!”

„Nicht nur Babsy, wir alle denken das”, erklärte Ellen.

Yvonne tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Weil ihr behämmert seid! Ihr versteht eben nichts von Liebe! Gerade weil Helga in ihn verschossen ist, benimmt sie sich so stur. Damit wir ihr nicht auf die Schliche kommen. Aber ich werde es ihr schon zeigen, verlaßt euch darauf. Ich werde ihr Tweedy vor der Nase wegschnappen!”

In Wirklichkeit hatte sie noch keine Ahnung, wie sie ihren Eroberungsfeldzug durchführen sollte. In der Klasse, vor versammelter Mannschaft, hatte sie keine Chance, das hatte sie schon herausbekommen. Tweedy überhörte alle verfänglichen Fragen und war gegen kokette Blicke und hochgezogene Röcke völlig immun. Sie mußte auf ein besonderes Ereignis warten, bevor sie ihre Netze auswerfen konnte.

Dieses Ereignis trat bald ein.

Als Yvonne eines Nachmittags während der Studierzeit aus dem Fenster sah – ohne Helgas Hilfe hatte das Lernen für sie ohnehin wenig Sinn –, entdeckte sie auf dem vorderen Tennisplatz zwei Spieler.

Sie erkannte Tweedy, der gegen Fräulein Pförtner spielte. Da wußte sie, daß ihre Stunde gekommen war.

Kaum war die Studierzeit zu Ende, flitzte sie nach oben in ihr Zimmer, kleidete sich in fliegender Eile um, riß ihr Racket aus dem Schrank und stürmte in den Park.

Als sie die Tennisplätze erreichte, war Tweedy noch dort – und zwar allein. Fruäulein Pförtner war gerade dabei, den Geräteschuppen zu verschließen.

„Oh, hallo!” rief Yvonne so unbefangen wie möglich. „Wollen Sie schon gehen?”

Er wandte ihr sein markantes Gesicht zu, leichten Spott in den hellen Augen: „Was dagegen?”

„Ja, zu schade”, sagte Yvonne und schwenkte ihren Schläger, „ich hätte Lust zu einem Match.”

„Machen wir. Ein andermal.”

Yvonne kam näher. „Haben Sie Angst?”

„Vor Ihnen?”

„Nein, natürlich nicht. Aber Sie haben Angst, gegen mich zu verlieren.”

„Unter Mangel an Selbstvertrauen scheinen Sie nicht zu leiden”, sagte Dr. Jung lächelnd.

„Stimmt”, erwiderte sie herausfordernd, „ich hätte auch keinen Grund.”

„Spielen Sie so gut?”

„Auch das!”

Eine Sekunde lang blickten sich Lehrer und Schülerin abschätzend in die Augen.

„Also versuchen wir es, damit ich nicht in den Ruf eines Feiglings komme.”

„Bravo!” rief Yvonne. „Das hatte ich von ihnen auch nicht anders erwartet!”

Yvonne war Tweedy in keiner Weise gewachsen. Seine Bälle kamen präzise, während ihre Treffer mehr oder weniger Glückssache waren. Sie verlor den ersten Satz mit Pauken und Trompeten.

„Es war mir ein Vergnügen”, sagte Dr. Jung lächelnd, „machen wir Schluß für heute.”

„Nach einem Satz?” protestierte Yvonne, „das wäre unfair, ich mußte mich doch erst einspielen.”

„Es ist schon zu finster. Ein andermal gebe ich Ihnen gerne Revanche.”

„Nein jetzt!” Yvonne schmollte. „So was hat es ja noch nie gegeben, daß jemand ein Match nach dem ersten Satz abbricht!”

Dr. Jung gab nach, weil er sich nicht mit Yvonne anlegen wollte.

Sie wechselten die Plätze. Die Dämmerung des Winterabends senkte sich rasch, und bald konnte er Yvonne kaum noch erkennen. Er erwog schon, sie diesen Satz gewinnen zu lassen, damit die liebe Seele Ruhe hatte. Doch dann hätte sie sicher noch auf ein Entscheidungsspiel bestanden. So schmetterte er harte Bälle zu ihr hinüber, so blitzschnell, daß sie sie kaum erkennen konnte.

Plötzlich schrie Yvonne auf, und im gleichen Augenblick sah er sie stürzen. Er ließ den Schläger fallen, hechtete über das Netz und beugte sich über sie.

Haus der gefangenen Herzen

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