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2.

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Ein paar Tage lang regnete es, erst gegen Ende der Woche riß die Wolkendecke auf. Yvonne, Babsy und Ellen beschlossen, in der nachmittäglichen Freizeit auszureiten. Sie forderten Helga auf, mitzukommen. Aber da sie, wie meistens, ziemlich knapp bei Kasse war, konnte sie sich den Spaß nicht leisten und gab vor, keine Lust zu haben.

Sie zog sich mit einem Buch in den Park zurück, und vertiefte sich in ihre Lektüre, Sciencefiction, so packend geschrieben, daß sie sich eifrig auch durch allzu wissenschaftliche Passagen kämpfte. Sie brütete gerade über einer physikalischen Beschreibung, als sie durch eine vertraute männliche Stimme aufgeschreckt wurde.

„Na, Helga, ist es nicht ein bißchen zu kühl für ein Nickerchen im Freien?” fragte Dr. Herbert Jung.

Das Herz klopfte Helga bis zum Halse, als sie langsam aufsah und antwortete: „Ich schlafe nicht, Herr Doktor, ich denke nach.”

„Tatsächlich?”

Sie klappte das Buch zu und ließ ihn den Umschlag sehen. „Ich kann’s nicht so einfach herunterlesen. Manches ist ziemlich hoch.”

Er nahm ihr das Buch aus der Hand und blätterte darin. „Sie interessieren sich für so etwas? Alle Achtung!”

„Ich interessiere mich eigentlich für alles”, behauptete Helga. Obwohl er sie nicht ansah, hatte sie das Gefühl, daß er sich über sie amüsierte, und sie fügte hastig hinzu: „Sie lachen. Es klingt so entsetzlich überheblich. Aber ich fühle mich von allem, was in der Welt vorgeht, betroffen, und finde es faszinierend und spannend.”

„Ich lache Sie keineswegs aus, Helga”, erwiderte er mit seltsam sanfter Stimme. „Ich habe schon öfter bemerkt, daß Sie ungewöhnlich wach und intelligent sind, und das gefällt mir an Ihnen.” Sein Lob berauschte sie und machte sie gleichzeitig verlegen. „Alle in unserer Klasse sind so”, behauptete sie, „wir diskutieren über die unmöglichsten Themen.” Sie stand auf. „Aber ich muß jetzt gehen.”

„Schon?”

Helga traute ihren Ohren nicht. Sie hatte sich immer für ein nüchtern denkendes Mädchen gehalten. Aber jetzt kam es ihr tatsächlich so vor, als ob Dr. Jung sich für sie interessierte. Oder hatte Yvonnes überspannte Phantasie sie angesteckt?

Er gab ihr das Buch zurück. „Ich hätte gerne mit Ihnen über Ihren Aufsatz gesprochen. Kommen Sie, machen Sie mit mir einen kleinen Bummel durch den Park, soviel Zeit werden Sie schon noch haben.”

„Doch, gerne”, antwortete sie nach kurzem Zögern glücklich.

Sie gingen ein paar Schritte nebeneinander her, und da sie immer nur ihn anschauen mußte – sein männliches Profil mit der markanten Nase und der breiten Stirn –, stolperte sie plötzlich über eine Baumwurzel und wäre hingefallen, wenn er sie nicht aufgefangen hätte.

Sie spürte die Arme des geliebten Lehrers, ihre Wange berührte den rauhen Tweed seiner Jacke, und der herbe Geruch seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase.

Als er sie losließ, fühlte sie sich taumelig und war über und über rot geworden. „Entschuldigen Sie bitte”, sagte sie.

„Was denn?” fragte er lächelnd. „Hauptsache, Sie haben sich nicht weh getan. Kommen Sie, gehen wir!”

Erleichtert folgte sie ihm in den herbstlichen Park. Weder Helga noch Doktor Herbert Jung ahnten, daß sie vom Schloß aus beobachtet worden waren.

Yvonne, Babsy und Ellen waren vorzeitig vom Pferdestall zurückgekehrt.

Als Yvonne in ihr Schlafzimmer gekommen war, hatte sie das Fenster aufgerissen, um Helga unten im Park auf sich aufmerksam zu machen.

Aber genau in diesem Augenblick war Tweedy auf der Bildfläche erschienen.

Einen Augenblick lang war Yvonne wie vom Donner gerührt. Dann rief sie nach Babsy und Ellen, die sofort alarmiert herbeistürzten. Alle drei beobachteten, wie Helga in Dr. Jungs Arme gefallen war – von oben hatte es ganz so ausgesehen –, und es hatte ihnen den Atem verschlagen.

Erst als die beiden aus ihrer Sicht verschwunden waren, fand Yvonne die Sprache wieder: „So eine Kanaille!” stieß sie wütend hervor; sie war blaß und bebte vor Wut.

„Nimm’s nicht so tragisch”, tröstete Babsy besänftigend, „Helga scheint Tweedys Typ zu sein!”

„Sein Typ! Daß ich nicht lache! An den Hals hat sie sich ihm geworfen!”

„Ein falsches Luder ist sie!” schrie Yvonne.

„Eine Hyäne!”

„Zwei Mädchen und nur ein Mann …”, unkte Babsy, „das wird böse enden.”

„Pah! Was heißt hier … böse enden?” Yvonne lachte verächtlich. „Dieser blöde Tweedy kann mir den Buckel runterrutschen! Was ist er denn schon? Ein armseliger Schulmeister, nichts weiter.”

Babsy grinste. „Ich habe dich schon mal anders reden hören, Darling!”

„Helgas Reize müßte man haben”, seufzte Ellen.

Yvonne trat dicht auf sie zu. „Wovon sprichst du eigentlich?”

Ellen sah sie erstaunt an. „Davon, daß Tweedy eine Auge auf Helga geworfen hat!”

„Wie kommst du denn darauf?” zischte Yvonne.

„Nicht er ist an ihr interessiert, sondern sie stellt ihm nach auf eine geradezu schamlose Weise! Aber wartet nur, ich werde ihr schon zeigen, daß sie das mit uns nicht machen kann. Die wird sich wundern! Das schwöre ich euch!”

Die Gelegenheit, Helga eins auszuwischen, bot sich Yvonne noch am selben Tag.

Um drei Uhr mußten sich alle Schülerinnen der Zwölften Klasse im Studiersaal versammeln, um ihre Aufgaben zu erledigen. Helga kam als letzte, ein wenig atemlos und mit geröteten Wangen.

Sie setzte sich auf ihren Platz neben Yvonne. „Ein Glück, daß die Zirpe noch nicht da ist”, seufzte sie erleichert.

„Hast du Spaß gehabt?” fragte Yvonne mit so scharfer Stimme, daß die anderen Mädchen unwillkürlich aufmerksam wurden.

Helga wollte nicht lügen, sie wollte der Freundin aber auch nicht vor allen anderen es auf die Nase binden, daß sie mit Dr. Jung zusammengewesen war. „Wie man’s nimmt”, sagte sie deshalb ausweichend, und leise fügte sie hinzu: „Ich muß dir nachher was erzählen!”

„Sprich nur laut, daß alle dich hören können!” befahl Yvonne mit erhobener Stimme. „Oder genierst du dich jetzt doch, weil du dich Tweedy so schamlos an den Hals geworfen hast?”

Im Studiersaal wurde es totenstill.

„Das ist nicht wahr!” rief Helga.

Yvonne sprang auf. „Du leugnest? Dann bist du noch falscher und verlogener, als ich geglaubt habe!”

„Aber Yvonne, laß mich doch erklären …”

„Spar dir deine Worte! Ich habe dich beobachtet! Und nicht nur ich! Babsy und Ellen sind meine Zeugen! Wir haben es gesehen, wie du dich Tweedy an die Brust geworfen hast!”

„Ich bin gestolpert”, sagte Helga und spürte selber, daß diese Erklärung nicht sehr glaubwürdig klang.

„Dazu hast du dir aber genau den richtigen Augenblick ausgesucht”, erklärte Yvonne sarkastisch, „zu stolpern, daß Tweedy dich auffangen muß, damit du nicht auf die Nase fällst!”

Helga platzte der Kragen. „Ach, halt doch die Klappe! Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.”

„So glaubst du wirklich?” gab Yvonne zurück. „Du bildest dir also ein, du kannst mit Tweedy herumschmusen wie, wo und wann du willst?”

„Yvonne, ich bitte dich, von Schmusen kann doch keine Rede sein! Wir haben uns unterhalten. Das ist doch kein Verbrechen!”

„Meinst du?” gab Yvonne patzig zurück. „Dann hast du auch sicher nichts dagegen, wenn wir den Fall dem Direktor vortragen.”

„Yvonne!” mahnte Babsy. „Das kannst du nicht tun!”

„Nein, wirklich nicht”, stimmte Ellen ihr zu, „den Fall müssen wir unter uns austragen.”

Aber Helga gehört ja gar nicht zu uns”, erklärte Yvonne schneidend. „Unsere Eltern zahlen für die Schule und den Aufenthalt hier monatlich einen schönen Batzen Geld. Helgas Eltern bezahlen keinen Pfennig. Sie könnten es gar nicht. Helga hat bloß ein Stipendium, auf gut deutsch: wir zahlen für sie mit.”

Helga wurde kreidebleich. „Das wußte ich nicht”, sagte sie tonlos.

„Dann wird’s höchste Zeit, daß du Bescheid weißt. Du bist hier bloß geduldet, hast du mich verstanden? Und wenn du noch einmal aus der Reihe tanzt und versuchst, die erste Geige zu spielen, dann kannst du deine Koffer packen und abhauen. Von mir aus dahin, wo der Pfeffer wächst!”

Eisiges Schweigen herrschte im Studiersaal der zwölften Klasse. Als Fräulein von Zirpitz gleich danach hereinrauschte, wunderte sie sich über ihre mustergültigen Schülerinnen.

Als Yvonne am Abend in das kleine Schlafzimmer trat, sah sie verdutzt, daß sich ein ganzer Haufen Sachen auf ihrem Bett türmte, darunter der gelbe Schal und die gelbe Mütze, die sie erst kürzlich Helga geschenkt hatte. Dazu Handschuhe, eine Tasche, Schuhe, ein Pullover, eine Jacke, ein seidenes Tuch, ein Minirock.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Yvonne begriff, was das bedeutete; doch dann packte sie das Zeug und stürmte in den Waschraum.

„Helga!” schrie sie. „Los! Erkläre mir … was soll das?”

Sie stürzte auf die Brausekabinen zu und zog einen Vorhang nach dem anderen beiseite.

Helga stellte die Brause ab, schlüpfte in ihren Bademantel und kam hinter dem Vorhang zum Vorschein.

„Was willst du?”

„Ich will wissen, was das hier soll!” schrie Yvonne und hielt Helga die Arme voller Kleidungsstücke entgegen.

„Ich komme ganz gut ohne deine abgelegten Sachen zurecht”, erklärte Helga ruhig, „ich will sie nicht mehr. Du kannst sie wieder haben.”

„Und was soll ich mit dem Gelump?”

„Von mir aus steck’es dir an den Hut.”

Yvonne kochte vor Wut. Sie fühlte sich blamiert wie noch nie in ihrem Leben. Das konnte sie nicht hinnehmen. Sie rannte ins Wohnzimmer und klingelte Sturm, bis der Hausmeister erschien.

„Hier … nehmen Sie das Zeug”, schrie Yvonne dramatisch, „und verbrennen Sie es!”

Der Hausmeister war einiges gewöhnt und ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. „Unsere Ölheizung ist keine Mülltonne. Ausgeschlossen!” erwiderte er phlegmatisch.

„Dann stopfen Sie den Plunder in die Mülltonne!”

Yvonne drückte dem verblüfften Mann ihre verschmähten Schätze in die Hand und ließ ihn stehen.

Als zehn Minuten später Fräulein von Zirpitz erschien, um nach dem Rechten zu schauen, war Yvonne immer noch nicht ausgezogen.

„Fräulein von Zirpitz”, sprach Yvonne sie an, „ich möchte in ein anderes Schlafzimmer verlegt werden.”

„Darf ich den Grund zu diesem ungewöhnlichen Wunsch erfahren?” fragte die Zirpe.

„Ich will nicht mehr mit Helga das Zimmer teilen.”

„Aber ihr seid doch so gute Freundinnen!”

„Jetzt nicht mehr”, erklärte Yvonne mit fester Stimme.

„Ihr habt euch also gestritten”, stellte Fräulein von Zirpitz ohne Überraschung fest, „so etwas soll vorkommen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Yvonne: versöhnen Sie sich wieder mit Helga, und zwar schnell.”

„Ich denke gar nicht daran!” rief Yvonne aufgebracht.

„Sie vergreifen sich im Ton, mein liebes Kind”, erklärte Fräulein von Zirpitz hoheitsvoll. „Aber davon abgesehen, Sie wissen, daß Schloß Hohenwartau seine Aufgabe nicht nur darin sieht, das Wissen seiner Schülerinnen zu erweitern, sondern sie vor allem auf die Aufgaben des Lebens vorzubereiten. Wenn Sie erst verheiratet sein werden …”

„Ich bin es aber noch nicht!”

Fräulein von Zirpitz überhörte diesen Einwand.

„ … können Sie Ihren Mann auch nicht einfach verlassen, wenn Sie sich einmal mit ihm gezankt haben! Die Ehe erfordert Selbstbeherrschung und Großzügigkeit …”

„Woher wissen Sie das? Waren Sie schon mal verheiratet?” fragte Yvonne frech.

Ein ungesundes Rosa stieg in das graue Gesicht von Fräulein von Zirpitz. Die Schülerinnen hielten den Atem an.

„Sie sind unverschämt, Yvonne”, erklärte sie eisig, „ziehen Sie sich für die nächsten zwei Stunden in den Studiersaal zurück. Ich werde Ihnen eine Lektion erteilen, die Sie auswendig zu lernen haben.”

Yvonne drehte sich auf dem Absatz um, verließ das Wohnzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Haus der gefangenen Herzen

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