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Lilian Horn lag, nur mit einem weißen Bademantel bekleidet, einen Turban um das blonde Haar drapiert, lang ausgestreckt auf ihrem Bett und ließ die Schönheitsmaske, die sie sich aufgelegt hatte, wirken. Sie hatte zwischen den wohlgeformten Zehen Watteröllchen stecken, damit der frische Lack nicht beschädigt wurde, und hielt die manikürten und lackierten Finger gespreizt.

Die Balkontür stand weit offen, und ein leichter Luftzug strich durch das große Zimmer im 9. Stock eines Gebäudes, das im Volksmund der »Sekretärinnen-Silo« genannt wurde. Tatsächlich lebten nur alleinstehende Frauen in den modernen, praktischen Einzimmer-Appartements, wenn auch nicht ausschließlich Sekretärinnen.

Lilian Horn versuchte sich ganz zu entspannen und an nichts zu denken, denn sie wußte, daß das die Wirkung ihrer Maske unterstützen würde. Aber ohne daß sie es wollte, ging ihr das Gespräch mit ihrem Chef durch den Kopf.

Ob er es wohl ernst meinte? Sie war nicht ein bißchen in ihn verliebt, aber das hätte sie wohl kaum daran gehindert, seinen Antrag anzunehmen. Wenn er frei gewesen wäre. Nach einer mißglückten Ehe, die als Liebesheirat begonnen hatte, war sie, so glaubte sie wenigstens, Männern gegenüber sehr sachlich geworden. Kurt Kayser war nicht uneben, kein schöner Mann und auch nicht mehr jung, aber erfolgreich und intelligent. Er konnte einer Frau allerhand bieten: gesellschaftliche Stellung, sorgloses Leben, Schmuck, Pelze, Wochenenden auf Sylt, ein schönes Haus – er hätte ihr das geben können, wenn er unverheiratet gewesen wäre. Aber das eben war er nicht. Er war an eine Frau gefesselt, die nie mehr gesund werden würde, aber trotzdem noch gut und gerne zwanzig Jahre leben konnte. Also hatte es überhaupt keinen Zweck, einen Gedanken an Kurt Kayser zu verschwenden. Er fiel als ernsthafter Bewerber vollkommen flach.

Lilian Horn stützte sich auf die Ellbogen, richtete sich halb auf und warf einen Blick auf das Zifferblatt ihres winzigen Weckers. Die zehn Minuten, die die Maske wirken sollte, waren um. Sie schwang die nackten Beine vom Bett, löste die Wattebänder zwischen den Zehen, stand auf und warf sie in den Papierkorb.

Das Bad war ganz in rotem und schwarzem Plexiglas gehalten – eine Sonderanfertigung – und hatte keine Fenster, sondern nur Leuchtröhren und einen Luftabzug. Lilian Horn spülte sich die hart gewordene Maske mit lauwarmem Wasser ab und cremte sich ein, erst das Gesicht, dann den ganzen Körper.

Nackt betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Beine waren lang, der kleine, feste Busen saß hoch, es gab kein Pfund zu viel um die Hüften, Magen und Bauch bildeten von der Seite gesehen eine wundervolle Linie, und ihr schmales Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen unter den bernsteingelben Augen zeigte keine einzige Falte. Man hätte sie für achtzehn halten können, wenn da nicht eine gewisse Härte gewesen wäre, die von überwundenen Enttäuschungen sprach, eine Erfahrung im Blick, die kein junges Mädchen haben konnte.

Wenn sie lachte, wirkte sie jünger. Sie lachte ihrem Spiegelbild zu und nahm den Turban ab. Sie prüfte die Wurzeln ihres frisch getönten, hellblonden Haares, fand keine Spur von Dunkelheit, ließ die Strähnen befriedigt fallen und kämmte sich.

Sie parfümierte sich und schlüpfte in einen kleinen weißen Seidenslip, zog Perlonstrümpfe an und streifte Strumpfbänder über.

Anschließend besprühte sie ihre sorgfältig ausrasierten Achselhöhlen mit einem Desodorant und legte dann so peinlich genau Make up auf, daß ihr Gesicht, als sie fertig war, einem Kunstwerk glich.

Nachdem sie im Bad Ordnung gemacht hatte, ging sie ins Zimmer zurück, holte ein ärmelloses Kleid aus Goldbrokat aus dem Schrank, stieg von oben hinein und zurrte den Reißverschluß im Rücken zu. Sie wählte goldene Pumps, packte ihr goldenes Abendtäschchen, nahm eine helle Breitschwanzstola vom Bügel und warf sie über einen Sessel. Es war zwanzig Minuten nach acht.

Lilian Horn ging in die Küche und öffnete den Eisschrank. Sie fand eine noch unangebrochene Flasche Wodka und nahm sie heraus. Mit einem Küchenmesser trennte sie die Aluminiumkapsel auf und löste sie vom Verschluß.

Sie stieß einen leisen Schrei aus und zog die Hand zurück. Sie hatte sich in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand geschnitten.

Sofort steckte sie beide Finger in den Mund. Sie lief ins Bad, drehte den Kaltwasserhahn über dem Becken auf und hielt die blutenden Finger unter den Strahl. Aus dem Toilettenschrank über dem Becken holte sie mit der linken Hand einen Alaunstein, mit dem sie die Wunde bearbeitete.

Nach wenigen Minuten hörte die Blutung auf. Die Schnittwunden waren blaß und kaum noch zu erkennen.

Lilian Horn spülte das Becken aus, legte den Alaunstein an seinen Platz und kehrte in die Küche zurück. Sie warf die Aluminiumhülle in den Müllschlucker, schenkte sich drei Finger hoch Wodka in ein Glas und leerte es in einem Zug. Die Haustürklingel schrillte dreimal hintereinander in gleichmäßigen Abständen. Lilian Horn ergriff ihre Stola, ihre Tasche, ihre Handschuhe und verließ die Wohnung. Sie schloß die Tür ab und fuhr mit dem Lift nach unten.

In der Halle erwartete sie Herr Kerst, Leiter der Agentur »Hostessendienst GmbH«, ein unauffälliger mittelalterlicher Mann mit sandfarbenem Haar, einem korrekten dunkelgrauen Anzug und silberner Krawatte. »Pünktlich wie immer«, sagte er, »sehr schön.« Er öffnete ihr die Tür und ließ sie vor sich auf die Straße treten.

Wenige Schritte vom Portal entfernt parkte ein dunkelblauer Mercedes 300. Noch war es hell draußen, trotzdem waren schon einige Fenster im Appartement-Hochhaus erleuchtet.

Herr Kerst legte beschützend eine Hand unter Lilian Horns Ellenbogen. »Vielleicht sollte ich Sie das nächste Mal nicht von hier abholen, Lilian«, schlug er vor.

»Warum denn nicht? Für mich ist es so am bequemsten.«

»Man beobachtet Sie.«

»Wer?«

Herr Kerst machte eine Kopfbewegung in Richtung auf das Haus hinter ihnen. »Ihre Nachbarinnen!«

»Ach die!« Lilian Horn lachte. »Sollen sie doch, wenn es ihnen Spaß macht. Ich habe nichts zu verbergen.«

»Aber …«

»Die Hälfte von denen läßt sich übers Wochenende vollaufen, bloß um die Zeit totzuschlagen. Sollen die ruhig über mich lästern. Die haben mehr Dreck am Stecken als ich.« Herr Kerst öffnete die Türe im Fond des Mercedes, und Lilian stieg ein.

Vorne rechts saß Ruth Fiebig, ein junges Mädchen mit leuchtendrotem, kurz gelocktem Haar. Sie wandte ihr blasses, großäugiges Gesicht Lilian zu und grüßte lächelnd.

»Fein, daß wir wieder mal zusammen sind.«

»Hallo, Ruth!«

Herr Kerst ließ den Motor an und fuhr rückwärts aus der Parklücke auf die Fahrbahn hinaus.

»Hast du eine Ahnung, was heute los ist?« fragte Lilian.

»Bis jetzt noch nicht!« Ruth blickte Herrn Kerst an. »Hoffentlich wird es nicht zu schwierig. Ich bin ziemlich geschafft.«

»Ihr müßt nicht einmal dolmetschen«, versicherte Herr Kerst, »der Auftrag kommt von einem Herrn Schmitt, Firmeninhaber einer Spielzeugfabrik. Vielleicht kennt ihr ihn? Wir haben schon öfters für ihn gearbeitet.«

»Nein«, sagte Lilian.

»Sehr sympathisch, sehr seriös, na, ihr werdet schon sehen. Er hat zur Zeit einen Einkäufer da, einen Herrn aus der Provinz. Dem will er was bieten.«

»Dann fahren wir am besten nach Düsseldorf«, schlug Lilian vor, »denn hier …«

»Nein, nein«, wehrte Herr Kerst ab, »es soll ein kurzer Abend werden. Mit Überstunden ist kaum zu rechnen. Der Gast fliegt morgen zurück.«

»Schade«, sagte Lilian.

»Lilian, die Unermüdliche«, spöttelte Ruth, »wann wirst du endlich die Nase voll haben?«

»Vielleicht, wenn ich alt und klapprig geworden bin! Als ich so jung wie du war, habe ich das Wort Müdigkeit überhaupt nicht gekannt!«

Die Damen waren bester Laune, als Herr Kerst vor der »Taverne« vorfuhr, einem Restaurant im italienischen Stil, das sich durch eine gute Küche, gepflegte Getränke und gesalzene Preise ein anspruchsvolles Publikum geschaffen hatte.

Die »Taverne« lag außerhalb der Stadt, oberhalb des Deiches, und die bunten Lampions, die den kastanienbestandenen Garten beleuchteten, spiegelten sich im Wasser des Niederrheins, der hier schon sehr breit war. Mit einiger Fantasie konnte man sich, besonders in einer so warmen Sommernacht wie heute, an das Mittelmeer oder zumindest an einen der oberitalienischen Seen versetzt fühlen, eine Illusion, die noch durch die weichen Klänge einer kleinen Band verstärkt wurde.

Herr Kerst half erst Lilian, dann Ruth aus dem Wagen und gab die Autoschlüssel dem Portier.

Die Herren warteten in einer braun getäfelten Stube, die, trotz der südländischen Dekoration, sehr deutsch wirkte. Sie hatten an einem runden, blütenweiß gedeckten Tisch gesessen und erhoben sich gleichzeitig, als Herr Kerst, gefolgt von den beiden Hostessen, das Restaurant betrat.

Als sie den Tisch erreicht hatten, begann Herr Kerst die Vorstellung zu übernehmen, und in diesem Augenblick sah Lilian Horn sich einem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann mit braunen, von Lachfalten umgebenen Augen gegenüber.

Ihre Pupillen zogen sich von einer Sekunde zur anderen zusammen, als hätte sie, aus der Dunkelheit kommend, plötzlich in ein loderndes Feuer geblickt. Doch nichts weiter, nicht einmal das Zucken eines Muskels verriet sonst, daß sie diesen Mann kannte. Sie hatte sich bewundernswert in der Gewalt.

Sein Gesicht zeigte einen Atemzug lang äußerste Betroffenheit, dann hatte er sich wieder gefangen.

Als Herr Schmitt vorstellte: »Herr Togler … Fräulein Horn!«, begrüßten sie sich wie Fremde.

Allerdings spürte Lilian Horn jetzt, wie ihre Knie zu zittern anfingen, und sie war froh, als sie sich setzen durfte. Sie fühlte sich elend. Manchmal schon hatte sie sich ausgemalt, wie es sein würde, Hubert Togler zu begegnen. Aber nie hatte sie sich vorstellen können, daß ein Wiedersehen sie so treffen würde. Qualvoll wurde sie sich bewußt, daß sie dieses Kapitel ihres Lebens innerlich noch nicht abgeschlossen hatte.

Hubert Togler plauderte mit Ruth. Er durfte und sollte nicht merken, was in ihr vorging. Ostentativ wandte sie sich Herrn Schmitt zu und versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber sie war so außer sich, daß sie gar nicht richtig aufnahm, was er zu ihr sagte, noch was sie selber erwiderte. Erst als sie einen Cocktail hastig in zwei, drei Zügen hinunter gestürzt hatte, fühlte sie sich besser.

»Noch einen?« fragte Herr Schmitt lächelnd.

Lilian übersah den warnenden Blick von Herrn Kerst.

»Ja, gerne.«

Auch den zweiten Cocktail trank sie sofort aus. Dann merkte sie, daß sich ihre Mundwinkel beim Lächeln verkrampften und die Gesichter um sie zu verschwimmen begannen.

›Ich bin betrunken!‹ dachte sie voller Scham und Schrecken. Sie erhob sich, mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht zu schwanken, und sagte mit einer Stimme, die ihr nicht mehr gehorchen wollte: »Entschuldigen Sie mich, bitte …«

»Lilian, ist Ihnen nicht gut?« fragte Herr Kerst.

Sie lächelte ihr verkrampftes Lächeln. »Doch, doch, ich bin gleich wieder zurück …« Als Ruth sich erheben wollte, winkte sie ab. »Bitte, nicht!«

Mit steifen Schritten verließ sie den Raum. Sie wollte in den Garten, verfehlte die Richtung und fand sich auf der Straße wieder.

Sie zwang sich, tief durchzuatmen, aber das Schwindelgefühl wurde eher stärker als schwächer. Am liebsten hätte sie sich auf den grasbewachsenen Abhang neben der Straße geworfen, den Kopf in die Arme gelegt und geheult.

Aber sie befahl sich, aufrecht zu bleiben, und setzte weiter mechanisch Fuß vor Fuß.

Die anderen saßen schon bei den Horsd’œuvres, als Lilian wieder erschien. Sie wirkte erfrischt und sehr beherrscht, zeigte mit keiner Miene, was in ihr vorgegangen war. Niemand verlor über ihre Abwesenheit ein Wort.

»Ich habe für dich mitbestellt«, sagte Ruth Fiebig, »hoffentlich ist es dir recht.«

»Aber ja, ich danke dir. Du kennst ja meinen Geschmack.« Lilian aß mit gutem Appetit, trank aber mit äußerster Vorsicht von dem trockenen Weißwein, den Herr Schmitt bestellt hatte. Sie plauderte glänzend und gewandt und brachte mit ihren Geschichten die anderen immer wieder zum Lachen.

Als das Dessert abgetragen war, fragte der Gastgeber, ob die Damen einen Kaffee wünschten. Ruth bat darum.

Lilian sagte: »Lieber nicht. Wenn ich eine Bitte äußern darf, ich möchte tanzen!«

Sie blickte dabei Hubert Togler direkt in die Augen.

Er erhob sich, und sie schlängelten sich auf die Terrasse hinaus. Die Band spielte »Moon River«. Lilian lag so leicht wie eine Feder in seinen Armen, daß er sie kaum spürte.

Er tanzte steif und sehr gehemmt.

Sie lächelte zu ihm auf. »Hast du etwa Angst vor mir?«

»Du bist eine gefährliche Frau.«

»Nicht gefährlich genug. Sonst wärst du mir damals nicht entkommen.«

»Ich wußte, daß du mir das vorhalten würdest.«

»Hast du etwa gedacht, ich könnte es jemals vergessen?«

»Lilian!« Seine Stimme wurde laut, und er hatte Mühe, sie zu dämpfen. »Ich habe dich geliebt … ehrlich …«

Sie hob spöttisch die Augenbrauen. »Was kann ich mir dafür kaufen?«

»Ich konnte dich nicht heiraten, Lilian, ich habe mit mir gekämpft, aber, bei Gott, ich konnte es nicht! Ich lebte in einer stockkatholischen Kleinstadt, fast war’s ein Dorf … was glaubst du, was passiert wäre, wenn ich da eine schuldig geschiedene Frau angebracht hätte?«

»Ich weiß nicht. Ich hätte es gern erlebt.« Sie legte ihm den Finger auf die Lippen, als er etwas erwidern wollte.

»Scht, du sollst dich nicht verteidigen. Es ist ja längst vorbei. Ein alter Hut. Ich will dir keine Vorwürfe machen, sondern nur die Atmosphäre zwischen uns bereinigen, damit wir wie vernünftige Menschen miteinander umgehen können. Du wohnst also jetzt nicht mehr auf deinem Dorf?«

»Nein. In München. Ich bin Einkäufer eines Warenhauskonzerns geworden. Verheiratet bin ich inzwischen auch. Meine Frau erwartet ein Baby.«

»Dann kann ich dir also nur noch gratulieren!« Sie strahlte zu ihm auf, während ihr war, als zöge sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.

Das Schicksal der Lilian H.

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