Читать книгу Das Schicksal der Lilian H. - Marie Louise Fischer - Страница 8
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ОглавлениеDr. Michael Sturm tastete sofort nach dem Hörer, als das Telefon schrillte, nahm ihn ab, lauschte kurz und sagte: »Schon verstanden. Ich komme.«
Im Zimmer war es sehr dunkel, die Vorhänge waren zugezogen.
Er knipste die Nachttischlampe an. Eva, seine Verlobte, lag neben ihm, zusammengerollt wie ein Kind, die dunklen Lokken zerzaust, die geschlossenen Augen verquollen von vergossenen Tränen. Er betrachtete sie liebevoll.
Die Eröffnung, daß aus der erhofften Berufung nach Kiel und damit aus der nun schon so lange angestrebten Heirat vorerst nichts werden würde, hatte sie schwer getroffen. Sie war außer sich geraten und hatte ihm wilde Vorwürfe gemacht. Wie üblich hatten sie sich heftig gezankt, und wie üblich hatten sie sich genauso heftig wieder versöhnt.
Jetzt schwebte ein kleines Lächeln um ihre Lippen. Es widerstrebte ihm, sie zu wecken und in die widrige Wirklichkeit zurückzurufen. Er überlegte, ob er nicht leise aufstehen und sie weiter schlafen lassen sollte. Seine Mutter sprach zwar nicht darüber, aber sie wußte sicher längst, daß er sie manchmal mit zu sich herauf nahm. Er war sicher, daß sie der Situation gewachsen sein würde. Vielleicht würde es sogar ganz gut sein, wenn die beiden Frauen sich einmal in der Früh, und ohne daß er dabei war, begegneten. Möglicherweise würde sich ihr Verhältnis dadurch entspannen. Vorsichtig schwang er sich auf die Bettkante.
Aber schon wurde Eva wach oder zumindest halbwach. »Was ist?« murmelte sie.
Er beugte sich zu ihr hinunter. »Gar nichts«, flüsterte er ihr zu, »schlaf ruhig weiter.«
»Wie spät ist es?«
»Noch sehr früh«, raunte er ihr ins Ohr und entzog sich behutsam ihrem Griff.
Aber jetzt schlug sie die blauen kindlichen Augen auf, klappte die Lider ein paarmal auf und zu und fragte:
»Warum stehst du da?«
»Ich muß fort, Eva.« Er gab ihr einen raschen Kuß. »Sei mir nicht böse, ich bin eben angerufen worden.«
Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf und hielt die Decke vor ihre Brust gepreßt. »Und da wolltest du mich hier alleine lassen!?«
»Ich habe es nicht über mich gebracht, dich zu wecken, Liebling.«
»Du bist mir ja ein feiner Kavalier! Und wie hätte ich aus der Wohnung rauskommen sollen?«
»Durch die Tür.« Während er ihr Rede und Antwort stand, war er schon dabei, sich mit wenigen, geübten Griffen anzuziehen.
»Und dabei wäre ich prompt deiner Mutter in die Arme gelaufen!«
»Nun reg dich bloß nicht auf«, sagte er und schlang sich seine Krawatte um den Hals, »was wäre schon dabei gewesen? Meine Mutter ist gar nicht so, wie du denkst. Ich wette, sie hätte kein Wort gesagt.«
»Aber gedacht hätte sie sich ihren Teil!« Eva sprang mit einem Satz aus dem Bett. »Dreh dich gefälligst um, wenn ich mich anziehe!«
Er wandte sich dem Spiegel zu und stellte im schwachen Licht der Nachttischlampe fest, daß sein Bart sehr nützlich war, wenn er, wie heute, aus dem Schlaf gerissen wurde und keine Gelegenheit mehr hatte, sich zu rasieren.
»Es ist peinlich genug für mich«, schimpfte Eva, »wenn ich mich nachts auf Zehenspitzen mit dir hier heraufschleichen muß! Daß du mich dann aber noch so einer Situation aussetzen magst, ist wirklich unglaublich! Es ist dir also ganz egal, was deine Mutter von mir hält.«
»Sie hat dich sehr gerne.«
»Das glaubst du doch selber nicht! Für die wäre es ein Fest, mich hier bei dir zu erwischen!« Sie zog sich ihr bunt getupftes Kleid über den Kopf.
»Wenn du weiter so schreist«, sagte er, »ist sie bestimmt gleich da!«
Darauf entgegnete sie nichts mehr, preßte nur noch trotzig die Lippen zusammen und warf ihm einen wütenden Blick zu.
Er ergriff seine Bereitschaftstasche und schritt durch den Flur zur Wohnungstür. Als er die Kette abnahm, gab es ein klirrendes Geräusch.
»Michael!« ertönte die Stimme seiner Mutter.
Er sah Eva, die ihm dicht gefolgt war, beschwörend an und rief zurück: »Ja, Mutter!« Er näherte sich der geschlossenen Schlafzimmertür. »Mußt du schon wieder fort, Michael?«
»Ja, Mutter.«
»Ein Mord?«
»Ich weiß noch nicht. Schlaf weiter.«
Mit zwei Schritten war er wieder an der Wohnungstür, schloß sie auf und ließ Eva hinaus.
Als sie nebeneinander die Treppe hinunterliefen, lachte Eva auf. »Deiner Mutter entgeht nichts, wie?«
»Sie hat einen leichten Schlaf.«
»Das hätte ich wissen sollen. Jedenfalls war es das letzte Mal, daß du mich zu dir hinaufgelockt hast.«
Er legte den Arm um ihre Schultern und schob sie auf die Straße hinaus. Er wunderte sich, wie hell es schon draußen war. Die Laterne, unter der sein VW parkte, brannte nicht mehr. »Wenn du dir einbildest, mich zu einem Streit provozieren zu können, bist du schief gewickelt«, sagte er gutmütig, »spar dir den bis heute mittag auf.«
Seine körperliche Nähe, die Wärme, die von ihm ausging, stimmte sie versöhnlicher. »Du meinst also, wir könnten trotzdem zum Baldeney-See?« Sie rieb ihren Kopf an seiner Schulter.
»Ich werde mein möglichstes tun«, versprach er.
Genau zwanzig Minuten nachdem er angerufen worden war erreichte Dr. Michael Sturm die Villa Rheinallee 127. Seine Verlobte hatte er unterwegs nahe der elterlichen Wohnung abgesetzt. Es war sechs Uhr, als er das Zimmer, in dem die tote Irene Kayser lag, betrat.
»Ach, Sie sind es, Doktor Sturm«, sagte Kriminalinspektor Kramer, der schon einmal mit dem jungen Gerichtsmediziner zusammen gearbeitet hatte, »wahrscheinlich haben Sie sich ganz umsonst bemüht. Doktor Koblenz, der Hausarzt der Verstorbenen, ist überzeugt, daß es sich um einen Selbstmord handelt.«
»Ich würde es uns gönnen.« Michael Sturm öffnete seine Bereitschaftstasche, holte Gummihandschuhe heraus und zog sie über. »Auf keinen Fall möchte ich Spuren verwischen. Haben Sie schon fotografiert?«
»Ein paarmal.«
Dr. Sturm betrachtete nachdenklich das blutdurchtränkte Bett, den Teppich, das halb unter das Bett gerutschte Heidschnuckenfell. Dann trat er näher und schob die Bettdecke einige Zentimeter zurück, um die Wunde besser betrachten zu können. Das Messer war quer durch den jetzt blutgetränkten Kaschmirschal gezogen worden und hatte eine Zickzack-Spur von Schnitten hinterlassen.
Dr. Michael Sturm richtete sich auf. »Selbstmörder arbeiten sich nicht erst mühsam durch ihre Kleidungsstücke hindurch«, sagte er, »tut mir leid, meine Herren … es muß Mord sein.«
Für Sekunden herrschte betroffenes Schweigen.
Das unbekümmerte Zwitschern der Vögel, das aus dem noch taufrischen Garten durch die weit offene Terrassentür in das Sterbezimmer drang, schien mit einem Mal aufdringlich laut zu werden.
Die Diagnose des Gerichtsmediziners hatte den Männern der Mordkommission die Weichen gestellt. Ihre letzte Hoffnung, daß Frau Kayser sich selbst getötet haben könnte, entschwand. Sie wußten, daß sie ein Wochenende voller Arbeit vor sich hatten.
Kriminalinspektor Kramer unterdrückte einen Seufzer.
Nur der alte Hausarzt war noch nicht bereit, aufzugeben.
»Mord?« wiederholte Dr. Koblenz. »Wie können Sie dessen so sicher sein, Kollege?«
»Zugegeben, ich habe mich nicht ganz sachlich ausgedrückt.« Dr. Michael Sturm richtete sich auf und lächelte entschuldigend, aber der Ausdruck seiner klaren blauen Augen blieb ernst, und sein junges bärtiges Gesicht wirkte fast verzerrt vor Anspannung. »Tötung von fremder Hand hätte ich besser sagen sollen.«
Er beugte sich wieder über die Tote, schob den blutgetränkten Kaschmirschal beiseite und stellte fest, daß auch jene oberflächlichen Probeschnitte fehlten, die, wie er gelernt hatte, für einen Selbstmord charakteristisch sind. »Ein Suizid ist ausgeschlossen«, erklärte er mit fester Stimme.
Er sah, daß die Tat mit einem einzigen, tiefen Schnitt durchgeführt worden war, der die Halsschlagader geöffnet und den Kehlkopf durchtrennt hatte.
»Bitte, überlegen Sie genau, was Sie sagen!« flehte Dr. Koblenz. »Ich betreue die Familie Kayser seit vielen Jahren, es sind hochachtbare Leute, ein solcher Skandal …«
»Na, na, na, lieber Doktor«, fiel Kriminalinspektor Kramer ihm ins Wort, »Sie tun gerade so, als wenn es nur zwielichtigen Figuren passieren könnte, ermordet zu werden!« »Aber Sie sehen doch an diesem Blick … an ihrer ganzen Lage, daß sie nicht einmal den Versuch gemacht hat, sich zur Wehr zu setzen!« verteidigte Dr. Koblenz seinen Standpunkt. »Wenn es also Tötung von fremder Hand wäre, so müßte sie den Täter gekannt haben …«Er sah sich in dem großen Raum um. »Es sieht auch nicht so aus, als wenn etwas geraubt worden wäre, und deshalb …«
»Lieber Doktor«, mahnte der Kriminalinspektor, »Sie eilen der Untersuchung weit voraus. Wer sie getötet hat und warum, das müssen wir erst noch herauskriegen. Im Augenblick ist nur wichtig, daß sie es nicht selbst getan hat, und das hat uns Doktor Sturm ja unmißverständlich zu verstehen gegeben.« Er schob den Hausarzt mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer.
Dr. Koblenz setzte sich zur Wehr. »Bitte, das soll kein Mißtrauen sein«, flüsterte er, »aber ist der Kollege nicht viel zu jung? Müßte in einem solchen Fall nicht der Professor selber …?«
»Keine Sorge. Doktor Sturm ist ein tüchtiger und gewissenhafter Mann, der sich in der Materie auskennt. Lassen Sie sich nicht länger aufhalten, Doktor! Auf Wiedersehen!« Energisch schloß Kriminalinspektor Kramer die Tür hinter Dr. Koblenz und gestattete sich doch den Seufzer, den er vorhin unterdrückt hatte.
»Manche Leute scheinen zu glauben, daß wir uns Verbrechen ausdenken, nur um etwas zu tun zu haben. Als wenn wir uns nicht auch was Schöneres vorstellen könnten.« »Besonders an so einem Tag«, stimmte Dr. Sturm ihm zu und blickte sehnsüchtig über den zerstörten Körper hinweg in den grünen Garten mit den blühenden Rosenbeeten hinaus.
Aber diese Anwandlung dauerte nur einen Atemzug lang, dann beugte er sich wieder über die Leiche. »Sehen Sie, hier haben wir auch die Mordwaffe«, sagte er und hob eine Rasierklinge hoch, die in der eingetrockneten Blutlache auf der Brust der Toten gelegen hatte und, braunrot vor Blut, kaum zu sehen gewesen war. »Spuren werden sich kaum feststellen lassen, aber ich nehme sie trotzdem mit.«
Der Mann von der Spurensicherung reichte ihm eine geöffnete Plastiktüte, und Dr. Sturm ließ die Klinge hineinfallen.
»Mit einer Rasierklinge also«, sagte der Kriminalinspektor nachdenklich und schob sich den Hut in den Nacken, »da gehört schon was dazu. Der Täter muß kräftig gewesen sein … oder?«
»Nicht, wenn die Klinge sehr scharf war, und ich denke, davon können wir ausgehen. Eine handliche kleine Waffe. Läßt sich höchst unauffällig transportieren.« Dr. Sturm holte eine Lupe aus seiner Bereitschaftstasche und untersuchte die rechte Hand der Toten.
»Keinerlei Verletzungen«, sagte er. »Schade, daß ich das dem besorgten alten Herrn nicht mehr zeigen kann.« Kriminalinspektor Kramer nickte. »Man kann einen so gewaltigen Schnitt nicht mit einer bloßen Rasierklinge durchziehen, ohne sich dabei selber zu verletzen.«
»Es sei denn, man trüge Handschuhe.« Dr. Sturm nahm zwei lange, weißblonde Haare von der Hand der Toten.
»Bitte, noch eine Tüte.«
»Wenn die uns einen Hinweis gäben«, meinte der Kriminalinspektor skeptisch, »das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
»Man kann nie wissen. Könnten natürlich auch von diesem Felldings da stammen. Schicken Sie mir das auch ins Institut hinüber.« Er wies auf das Heidschnuckenfell, das halb vor, halb unter dem Bett lag, und nahm dann auch die linke Hand der Toten unter die Lupe. »Nichts.« Er blickte den Kriminalinspektor an.
»Können Sie uns etwas über die Todeszeit sagen?«
»Mal sehen.«
Dr. Sturm hob die Arme der Leiche, sie waren steif; die Füße dagegen ließen sich bewegen.
»Nun?«
»Moment noch.« Dr. Michael Sturm schob das Nachthemd hoch, legte die Tote auf die Seite und untersuchte den Rükken, der eine gleichmäßig violette Färbung zeigte.
»Vor etwa acht bis neun Stunden«, erklärte er, »genauer läßt sich die Todeszeit erst bei der Obduktion fixieren. Aber so ungefähr wird es schon hinhauen. Sie lassen doch die Speisereste sicherstellen, ja? Wenn nötig, lassen Sie sie aus dem Mülleimer kratzen. Und fragen Sie auch die Pflegerin, was die Verstorbene gestern zuletzt gegessen hatte.« Er lachte auf. »Aber wozu sage ich Ihnen das. Als wenn Sie nicht selber genau wüßten, was zu tun wäre.« Er streifte seine Gummihandschuhe ab.
Kriminalinspektor Kramer verzog keine Miene in seinem scharf geschnittenen, blassen Gesicht. »Man kann auch das Selbstverständliche nicht oft genug wiederholen. Sogar ein alter Hase wie ich kann mal etwas übersehen. In unserem Beruf darf man sich nie einbilden, man hat den Bogen raus, Danke, Doktor!«