Читать книгу Das Schicksal der Lilian H. - Marie Louise Fischer - Страница 9

6

Оглавление

Das schrille Geräusch einer Klingel riß Lilian Horn aus dem Schlaf. Noch bevor sie richtig aufwachte, wurde ihr bewußt, daß heute Samstag war und sie ausschlafen durfte. Sie griff nach ihrem winzigen Wecker und schob ihn unter das Kopfkissen. Aber es läutete weiter. Lilian Horn verkroch sich unter ihre Daunendecke und bemühte sich, das Klingeln zu überhören. Aber es nutzte nichts. Jetzt war sie hellwach. Mit einem Fluch warf sie sich auf den Rücken und überlegte, wer so heftig nach ihr verlangen mochte. Wahrscheinlich ein Betrunkener, ein Verrückter oder ein Kind, das auf sämtliche Knöpfe am Eingang des Hochhauses drückte. So etwas hatte es schon gegeben.

Aber nein, das konnte nicht sein, Lilian Horn erkannte, daß das Klingeln direkt von der Wohnungstür kam. Also war es eine ihrer Nachbarinnen, die etwas leihen oder sie nach ihren Erlebnissen aushorchen wollte. Aufdringliche Weiber. Mit einem Satz war Lilian Horn aus dem Bett. Sie pflegte nackt zu schlafen und war sekundenlang versucht, die Türe so zu öffnen, um der rücksichtslosen Nachbarin einen Schock zu verpassen. Sie grinste bei dem Gedanken in sich hinein. Aber dann besann sie sich doch und schlüpfte in ihren Morgenmantel, ein bodenlanges, an Hals und Ärmeln reich gerüschtes, seidenes Kleidungsstück. Sie schloß nur die mittleren drei Knöpfe, so daß ihre schlanken Oberschenkel beim Gehen fast bis zum Ansatz sichtbar wurden.

Als sie die Türe aufriß, erstarb jeder Ausdruck in ihrem Gesicht. Sie sah sich zwei Unbekannten gegenüber, beide in Regenmänteln, der ältere einen grauen Filzhut auf dem Kopf. Er hatte ein sehr blasses, scharf geschnittenes Gesicht mit dunklen, stechenden Augen.

»Ich kaufe nichts«, fauchte Lilian Horn, »was sind das für Methoden!« Sie wollte den beiden Herren die Tür vor der Nase zuschlagen.

Aber der Mann mit dem Hut hatte schon seinen Fuß dazwischen.

»Nicht so hastig. Wir wollen ja nur mit Ihnen sprechen.« Er zog einen Ausweis in einer Plastikhülle aus der Innentasche seines Jacketts. »Kriminalinspektor Kramer …« Mit einer Handbewegung auf den Jüngeren: »Mein Assistent.«

»Sie stellen Ermittlungen an?«

»Sehr richtig. Lassen Sie uns jetzt herein, in Ihrem eigenen Interesse.«

Lilian Horn fühlte sich ausgeliefert unter dem kalten Blick des Kriminalinspektors; sie bemühte sich, die unteren Knöpfe ihres Morgenmantels so rasch wie möglich zu schließen, und war sich dabei bewußt, daß sie ihm gleichzeitig einen allzu tiefen Einblick in den Ausschnitt gewährte.

»Aber … ich bin ja noch nicht angezogen.«

»Das sehen wir.«

»Können Sie nicht eine halbe Stunde später kommen?«

»Nein.«

Lilian Horn begriff, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als nachzugeben. »Wenn es so wichtig ist …« Sie wich zurück.

Die beiden Kriminalbeamten folgten ihr sehr dicht. Sie stellten fest, daß der sehr schön geschnittene große Raum bis auf das ungemachte Bett vollkommen aufgeräumt war.

»Wo sind Ihre Kleidungsstücke?« fragte Kramer.

Sie wies auf den Einbauschrank.

»Was haben Sie gestern angehabt?«

»Ach so. Das Kleid hängt auf dem Balkon. Zum Lüften.« Der Assistent hatte es schon hereingeholt und betrachtete die Vorderseite aufmerksam.

»Falls Sie sich auch für meine Unterwäsche interessieren«, sagte Lilian, die allmählich wieder ihre Kaltblütigkeit zurückgewann, »die habe ich gestern nacht noch ausgewaschen. Hängt im Bad.«

Der Assistent verschwand im Badezimmer und kam wenig später mit Lilians weißem kleinen Seidenslip und den hauchzarten Strümpfen über dem Arm zurück; er war nicht abgebrüht genug, um nicht doch eine leichte Verlegenheit zu zeigen.

»Sonst nichts?« fragte der Kriminalinspektor.

»Strumpfbänder. In der obersten Schublade.«

»Kein BH oder wie man das nennt?«

»Trage ich nicht.«

»Schuhe?«

»Stehen im Schrank.« Lilian Horn öffnete eine Tür und nahm ihre goldenen Pumps vom Gestell. Kriminalinspektor Kramer betrachtete sie wie ein Hund, der einen Knochen ohne Fleisch gefunden hat.

»Die sind ja schon geputzt.«

»Das mache ich immer, wenn ich nach Hause komme. Egal, wie spät es geworden ist. Wenn man in einem einzigen Raum lebt, muß man Ordnung halten.«

»Sehr löblich«, äußerte der Kriminalinspektor, aber es klang nicht die Spur anerkennend. Er ließ sich in einen eleganten, mit weißem Leder bezogenen Sessel fallen – so ein Ding hätte er auch gerne zu Hause gehabt.

»Machen Sie es sich nur bequem«, spottete Lilian Horn und blieb vor ihm stehen.

Es irritierte ihn, daß er jetzt den Kopf in den Nacken legen mußte, um zu ihr aufzusehen. »Da haben wir wohl Glück gehabt, daß wir Sie überhaupt angetroffen haben …«

Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte. »Aber nein. Wieso denn?«

»Sie hätten ja auch verreist sein können. Nach Sylt zum Beispiel.«

»Ich war noch nie auf Sylt.«

»Noch nie mit Ihrem Chef verreist?«

Ein nicht ganz so versierter Beamter wie Kriminalinspektor Kramer hätte ihr ganz kurzes Zögern vielleicht nicht gemerkt. »Nein«, behauptete sie.

»Setzen Sie sich doch.« Sie ließ sich auf einem dicken, ebenfalls mit weißem Leder bezogenen Kissen nieder. Er sah sie lange an, brachte sie aber nicht dazu, die bernsteinfarbenen Augen niederzuschlagen. Sie hielt seinem Blick mit ausdrucksloser Miene stand.

»Komisch, daß Sie gar nicht fragen, warum wir hier sind«, sagte er endlich.

»Hätten Sie’s mir denn verraten? Sie waren nicht gerade gesprächig.«

»Frau Kayser ist tot«, erklärte er unvermittelt.

Er beobachtete sie scharf, aber sie wirkte nur ein wenig betroffen und keineswegs entsetzt.

»Sie nehmen das sehr gelassen hin.«

Lilian Horn fuhr sich mit der gespreizten Hand durch ihr blondes, noch vom Schlaf zerzaustes Haar. »Hätte ich etwa in Tränen ausbrechen sollen? Ich kannte sie ja kaum, und außerdem war sie doch unheilbar krank, oder etwa nicht?«

»Also in Ihren Augen Grund genug zu sterben?«

»Grund genug … was heißt das? Sie haben mir doch gerade gesagt, daß sie gestorben ist. Mit oder ohne Grund, sie ist tot.«

»Und Sie können Kurt Kayser heiraten.«

Lilian Horn sprang auf. »Quatsch. Wer hat Ihnen den Blödsinn eingeredet? Etwa die Föllner? Das sähe ihr ähnlich. Ich will Ihnen mal was sagen: Männer wie Kayser, die sehen sich doch nur immer wieder nach einer guten Partie um. Der heiratet wieder was ganz Reiches, ’ne Tochter aus gutem Hause oder ’ne Witwe. Wollen wir wetten?«

»Wo waren Sie gestern abend?«

»Warum fragen Sie das?«

»Frau Kayser ist ermordet worden.«

Jetzt schien Lilian Horn doch um eine Nuance blasser zu werden; sie ließ sich auf den Hocker sinken. »Sind Sie ganz sicher?« fragte sie nach einer kleinen Pause. »Könnte es nicht doch Selbstmord gewesen sein?«

»Das ist ganz ausgeschlossen. Wenn es so aussehen sollte, hat der Täter einige entscheidende Fehler gemacht.«

Lilian Horn schwieg; es war ihr anzusehen, daß sie angestrengt nachdachte.

Kriminalinspektor Kramer zog ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts, öffnete es und zückte einen Kugelschreiber. »Wo waren Sie gestern abend?«

»Jetzt verstehe ich endlich.« Lilian Horn lachte auf. »Ich muß Sie wahnsinnig enttäuschen, Herr Kriminalinspektor. Für gestern abend habe ich ein hieb- und stichfestes Alibi. Ich habe gearbeitet.«

Kriminalinspektor Kramer ließ sein Notizbuch sinken. »Gearbeitet haben Sie?«

»Da staunen Sie, was? Als Hosteß. Ich war den ganzen Abend unter Leuten.«

»Das freut mich für Sie. Würden Sie mir ein paar von diesen Leuten nennen?«

»Nichts leichter als das. Erkundigen Sie sich doch bei Herrn Kerst. Er ist der Leiter der Hostessen-Agentur, für die ich nebenberuflich tätig bin. Er war dabei.«

»Und wer noch?«

»Ruth Fiebig. Eine Kollegin. Ihre Adresse habe ich nicht.«

»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Die bekommen wir leicht heraus.«

Lilian Horn erhob sich. »Sie werden lachen, ich mache mir nicht die geringsten Sorgen. Aber nun, da ich Ihnen alles gesagt habe, was Sie wissen wollen, darf ich Sie wohl bitten, mich wieder allein zu lassen.«

Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus.

Kriminalinspektor Kramer stand auf, steckte sein Notizbuch umständlich fort und sagte, ohne eine Miene zu verziehen:

»Auf Wiedersehen.«

Sein Assistent folgte ihm schweigend.

Lilian Horn schlug die Tür hart hinter ihnen zu, stürzte zum Telefon und nahm den Hörer ab. Sie hatte schon die erste Zahl gewählt, als sie mitten in der Bewegung innehielt, nachdachte und langsam wieder auflegte.

In fliegender Hast kleidete sie sich an. Ohne ein einziges Mal in den Spiegel zu blicken, ohne sich anzumalen oder aufzuräumen, raffte sie Portemonnaie und Autoschlüssel, warf beides in eine weiße Tasche und rannte aus der Wohnung. Im nächsten Postamt fand sie eine freie Zelle, trat ein und zog die Tür fest hinter sich zu.

Sie wählte die Nummer Ruth Fiebigs und ließ lange durchläuten. Die Kollegin meldete sich nicht. Lilian Horn versuchte, Herrn Kerst an den Apparat zu bekommen. Ebenfalls vergeblich.

Panik überfiel sie. Sie mußte die Tür minutenlang öffnen, um Luft zu bekommen.

Als sie wieder klar denken konnte, rief sie die Auskunft an und bat um die Nummer von Hubert Togler in München. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis das Fräulein sie ihr nach einigem Hin und Her mitteilte und die Verbindung zustande kam.

»Hubert, ich bin’s, Lilian«, begann sie atemlos, »du mußt mir helfen!«

»Ja, was kann ich für Sie tun?« fragte er sehr formell.

»Du darfst niemandem erzählen, daß ich gestern abend einige Zeit draußen war, hörst du? Wenn man dich fragt, dann sag, du weißt es nicht mehr oder besser noch: höchstens ein paar Minuten!«

»Ich verstehe nicht!«

»Hubert, ein Mord ist geschehen! Ich habe nichts damit zu tun, ich schwöre es dir …«

»Aber dann …«

»Begreifst du denn nicht? Ich brauche ein Alibi. Die Polizei versucht, mir einen Strick um den Hals zu legen!«

Das Schicksal der Lilian H.

Подняться наверх