Читать книгу Damals war Heimat - Marie-Theres Arnbom - Страница 10
»Der Redner nur, der unter seines Gleichen der beste ist«: Rabbiner Jakob
ОглавлениеJakob Hirschfeld wurde 1817 in Schoßberg geboren, das ungarisch Sasvár und slowakisch Šaštín heißt, damals in Ungarn und heute in der Slowakei gelegen. In Schoßberg, von Wien in weniger als zwei Stunden zu erreichen, erinnert noch die einstige Synagoge an das jüdische Leben. In dieser Synagoge wurden Jakob und seine Brüder beschnitten, feierten sie ihre Bar-Mizwa, ihre Schwestern heirateten hier – dies war ihre Heimat. Heute ist die Synagoge eine Ruine, einzig der Plafond lässt an manchen Stellen noch den alten Glanz erahnen.
Die traurigen Reste der Synagoge in Schoßberg. Nur mehr der Plafond lässt die vergangene Schönheit erkennen.
Jakobs Vater Emanuel Isak stammte aus Mähren und wirkte als Rabbinats-Assessor, ein altmodischer Ausdruck für Rabbiner-Gehilfe, in Schoßberg. Dreizehn Kinder setzte er gemeinsam mit seiner Frau Marie Landesmann in die Welt, zwei Söhne wurden Rabbiner3, zwei Ärzte. Jakob versucht sich zunächst auch in der Medizin, wendet sich aber doch der Theologie zu und wird in Wien promoviert. Vorerst schlägt er eine fast konventionell wirkende Berufslaufbahn ein: Drei Jahre lang ist er Rabbiner im ungarischen Szenitz (heute Senica), die nächsten fünf Jahre Rabbiner im rund 400 km südlich gelegenen Fünfkirchen (ungarisch Pécs) sowie Oberrabbiner des dazugehörigen Komitats Baranya im südlichsten Teil Ungarns. Die Geburtsorte seiner Kinder aus der Ehe mit Pauline Ausch spiegeln die Stationen seiner Karriere wider: Victor wird wie erwähnt am 4. Jänner 1858 in Szenitz, Adele am 23. März 1862 in Fünfkirchen, Eugenie nur neuneinhalb Monate später, am 1. Jänner 1863, ebenfalls in Fünfkirchen und Leo sechs Jahre später, am 14. Februar 1869, in Augsburg geboren. Dorthin ist Jakob Hirschfeld 1863 als Rabbiner berufen worden; ein nicht ganz einfacher Posten, muss der Rabbiner doch zwischen verschiedenen Gruppierungen vermitteln: Einerseits darf er nicht zu konservativ agieren und gegen Händler opponieren, die am Sabbat auf der Augsburger Dult, dem zweimal jährlich stattfindenden Jahrmarkt, verkaufen wollen, andererseits aber auch nicht zu liberal sein, um die Traditionen zu bewahren.4
Ein Inserat in der Zeitschrift Der Israelit, Centralorgan für das orthodoxe Judentum vom 10. Februar 1864 macht auf eines von wohl vielen ähnlichen Angeboten aufmerksam: »Eltern, die ihre Töchter an trefflichen Lehranstalten eine höhere Ausbildung angedeihen zu lassen und Augsburg wegen seines gesunden Klima’s vorzuziehen geneigt sein dürften, erbietet sich eine Dame von höherem Stande und höherer Bildung Mädchen nach zurückgelegtem 7. Lebensjahre in ihrem Hause unter annehmbaren Bedingungen aufzunehmen. Nebst häuslichem Komfort und der Beaufsichtigung und Leitung in Arbeiten der Instituts-Aufgaben von Seite der Dame wird auf wahre Herzens- und Geistesbildung hingestrebt werden. Der Religionsunterricht wird so wie die öffentlichen Religionsschulen des Distrikts unter Überwachung und Leitung Seiner Hochwürden des Herrn Distrikts-Rabbiners Dr. Hirschfeld stehen; auch kann gegen besondere Vergütung Klavier- und Singunterricht ertheilt werden. Reflektionen belieben sich zu wenden an Seine Hochwürden Herrn Distrikts-Rabbiner Dr. Hirschfeld in Augsburg.«
Sieben Jahre später urteilt der Israelit nicht mehr so gütig über den Rabbiner Hirschfeld – seine liberalen Ansichten verunsichern die Vertreter der Orthodoxie und verändern die Berichterstattung über seine Tätigkeit radikal.
In den vielen Artikeln, die über Jakob und seinen Bruder Moriz publiziert werden, fällt beider enorme rhetorische Begabung auf. So hält Jakob auf den verstorbenen Rabbiner Ullmann aus Makó eine »Rede mit der ihm eigenen Meisterschaft, die den Namen eines hervorragenden Redners, den er hier zu Land hat, vollkommen rechtfertigt. Diese Feuerrede zündete in allen Gemüthern.«5 Tags darauf beim Sabbat-Gottesdienst geht es gleich weiter: »Diese Predigt, in Bau und Form so kunstgerecht, durch blühende Diktion so ausgezeichnet, daß sie auf der Kanzel einer Residenz hätte gerechte Bewunderung erregen müssen, war zugleich von jenem glühend jüdischen Geiste getragen, der das Herz des Weltlings wie des Altfrommen tief ergreifen muß.« Sein fünfjähriger Sohn Victor lauscht sicher mit offenen Ohren – wer in einem Haus mit solcher Liebe zur Sprache aufwächst, von dem kann Großes erwartet werden.
Bereits Jakob und Moriz waren in einem wortgewandten und gebildeten Hause aufgewachsen: In einem Nachruf auf ihre Mutter Marie, der »Gattin des wegen seiner rabbinischen Gelehrsamkeit wie Frömmigkeit in weitern Kreisen rühmlich bekannten Herrn E. I. Hirschfeld«6, werden die Verdienste ihres Ehemanns gewürdigt: »Herr Hirschfeld, von rabbinischen Autoritäten seit langem für das Rabbinat autorisiert, fungierte bereits vor 20 Jahren bei Sitzungen des collegii rabbinici in Wien als Rabbinats-Assessor unentgeltlich.« Aus diesem Grunde oder weil »der edle Greis vor etwa einem halben Jahrhunderte Vorsteher der frommen Brüderschaft in Wien war«, erhält er ein Ehrengrab. Doch eigentlich gilt der Nachruf seiner Frau Marie und ihrem Trauergottesdienst, den natürlich ihr Sohn Jakob abhält. »In einer längeren ergreifenden Rede, die die Versammlung in steter Rührung hielt und oft zu Thränen brachte, lernte dieselbe in der Betrauerten eine jener durch Geist und Gemüth sich auszeichnenden frommen Frauen in Israel kennen, deren Reihe mit jedem Tage mehr sich lichtet und verdient sie wol in dieser Rücksicht ihres eigenen Werthes, als etwa auch in Rücksicht dessen, daß sie ihrer Glaubensgenossenschaft 4 Söhne gegeben, die sämmtlich der Intelligenz – 2 der theologischen, 2 der medicinischen – angehören, daß ihr der Nachruf werde: Friede ihrer Asche!«
An all seinen Wirkungsstätten setzt sich Jakob Hirschfeld für Bildungsinstitute und die Errichtung von Schulen ein. Die Allgemeine Zeitung des Judentums berichtigt am 20. Juli 1857 die Darstellung, dass in Ungarn die Schulen »kaum entstanden, wieder zu Grabe gehen«. Dagegen spricht sich Leopold Silberstern als erster Lehrer der Hauptschule aus und berichtet über die Zustände in Szenitz: Dort »besteht nicht nur eine Schule, und zwar eine vierclassige Hauptschule unter der ebenso umfassend einsichtigen, als eifrigst thätigen Leitung des Herrn Rabb. Dr. Hirschfeld, der ihr als Director vorsteht, sondern sie befindet sich in so blühendem Zustande, und genießt einen solchen Ruf der Vorzüglichkeit, daß selbst Eltern aus fern gelegenen Gemeinden mit großen Opfern ihre Kinder in die hiesige Schule bringen.« Und weiter heißt es: »Und in der That, wo sollte eine Schule bestehen und blühen, wenn nicht in einer Gemeinde, wo Herr Dr. Hirschfeld an der Spitze steht? Wir sagen dies nicht in Bezug auf seine Eigenschaften als Gelehrter oder Kanzelredner, sondern eben in Bezug auf seine ganz außergewöhnliche, hingebungsvolle Thätigkeit auf dem Gebiete der Jugenderziehung.«7
1858 wird Jakob Hirschfeld nach Fünfkirchen berufen, »er entspricht vollkommen allen von ihm gehegten Erwartungen«, meint der Hauptschullehrer Joachim Gutmann für Ben Chananja im 10. Heft 1858. »Sein Feuereifer für das Judenthum gewinnt ihm alle Herzen. Sein moralischer Einfluß auf die Schule ist sehr wohlthätig, sein Umgang mit den Lehrern sehr liebreich. ›Ich will nur der erste Kollege der Lehrer sein!‹«
Aus Fünfkirchen sind zwei von Jakob Hirschfeld verfasste Nekrologe erhalten: Einer ist in der Zeitschrift Ben Chananja erschienen, der andere als kleines Büchlein. Ersterer gilt Jakob Stern und weist auf eine Besonderheit hin: Im Normalfall erhalten nur reiche Wohltäter einer Gemeinde die Auszeichnung eines ausführlichen Nachrufs, nicht jedoch Jakob Stern, der kein reicher Mann war, sich jedoch durch ideellen Reichtum große Verdienste erworben hatte, denn »sein ganzes Wesen war Wohlwollen. Er athmete Liebe zu Gott und zu seinen Nebenmenschen.«8 Und einem weiteren Mitglied der Fünfkirchener Gemeinde widmet Jakob Hirschfeld sein Andenken: Ludwig Engel, siebzehnjährig gestorben, entstammt der berühmten Familie Engel-Janosi.
Jakob Hirschfeld setzt sich auch in seiner Gemeinde in Fünfkirchen stark für die Einrichtung einer eigenen Rabbinerschule ein und unterstützt die Ausbildung »bedürftiger Handlungs- und Handwerkslehrlinge«, wie die Zeitung Die Neuzeit am 11. April 1862 berichtet. Die bereits existierende jüdische Volksschule genügt nicht, Hirschfeld propagiert eine Gemeinde-Hauptschule, die einen »Unter- und Oberbau« erhält: der Unterbau als »Kinderbewahranstalt« für die Kleinen, der Oberbau als »Fortbildungsanstalt« zur Ablegung der Matura. Der Weg an die Universitäten wird geebnet. Bildung gilt als wichtigstes Instrument des sozialen Aufstieges, Jakob Hirschfeld vertritt diese Position nicht nur für seine Gemeinde, sondern auch bei der Erziehung seiner eigenen Kinder.
1863 wechselt er nach Augsburg und hält am 13. April, »vor seinem Austritte aus dem Vaterlande«, noch eine begeistert aufgenommene Predigt in Altofen. Eine Dankesadresse bleibt als Erinnerung: »Schmerzlich ist es, daß das Vaterland Sie verliert, aber der Baum, in fremdes Erdreich verpflanzt, um dort seine goldenen Früchte zu tragen, muß dem heimatlichen Boden Ehre verschaffen«, schreibt Die Neuzeit am 8. Mai 1863 in blumigen Worten.
Jakob hält 1865 einen Trauergottesdienst für seinen Vater, »den gelehrten Theologen Herrn Emanuel Isak Hirschfeld«, ab. »Die außerordentlich große Zuhörerschaft, während eines siebenviertelstündigen Vortrages, durch seine glänzende und tief ergreifende Beredsamkeit war wahrhaft gefesselt und erschüttert«, berichtet die Allgemeine Zeitung des Judentums am 29. März 1865. »Siebenviertelstündig« – also 1 ¾ Stunden – fesselt Hirschfeld die Trauergemeinde mit dem ihm eigenen enormen dramaturgischen Talent. Leider ist auch diese wie die meisten seiner Reden (oder Predigten) nicht erhalten.
Im selben Jahr wird in Augsburg eine neue Synagoge eingeweiht, mit der ersten Orgel in einer bayerischen Synagoge. Ein Zeichen großer Liberalität, denn die Traditionalisten sprechen sich vehement dagegen aus. In Augsburg dürfte die Gemeinde jedoch tatsächlich sehr liberal eingestellt gewesen sein, denn, wie es 1917 in einer Festschrift zur Einweihung der neuen Synagoge heißt, die Konservativen fügten sich »wenn auch nicht wortlos, so doch friedlich in die neue Ordnung«. Leider ist Jakob Hirschfelds Eröffnungsrede ebenfalls nicht erhalten, sie muss fulminant gewesen sein. Vielleicht sogar ein wenig zu fulminant, wie die enthusiastischen Reaktionen der Anwesenden vermuten lassen. Die Zeitschrift Ben Chananja schreibt am 19. April 1865: »Es hat die Rede die Feierlichkeit fast weniger gehoben, als eigentlich verdunkelt, indem Alles unter dem überwältigenden Eindrucke, den die Rede hervorgerufen, nur mit dieser und ihrem durch Sprache, Gedanken wie Geistesblitze glänzenden Gehalte sich beschäftigt und man beinahe die Veranlassung aus dem Auge verliert.«
Die Allgemeine Zeitung des Judentums berichtet ebenfalls über dieses Ereignis, das in Anwesenheit von Vertretern der christlichen Konfessionen, Repräsentanten der königlichen Regierung, des Stadtmagistrats, der Stadtbehörden und des Offizierscorps begangen wurde. Eine beeindruckende Aufzählung. Von mehreren Seiten wurde gefordert, diese Rede doch drucken zu lassen, und »mehrere christliche Bürger erklärten im Vorhinein, die Einen 50, die Andern 100 Exemplare der gedruckten Rede zur Verbreitung derselben zu nehmen«.9
Zwei Reden sind jedoch erhalten und geben Einblick in Jakobs unglaubliches Talent, nicht nur sprachlich die Zuhörer zu fesseln, sondern den Text dramaturgisch perfekt aufzubauen, wie einen Theatermonolog. Auf temperamentvolle Ausbrüche folgen elegische Teile, die Abfolge bannt die Gemeinde und lässt sie die Aufmerksamkeit nie verlieren. Eine dieser erhaltenen Reden ist die auf den Tod König Maximilians II. von Bayern vom 14. März 1864 und zeigt eine weitere Facette: Bescheidenheit ist Jakob Hirschfelds Sache nicht. (Auch diese Charaktereigenschaft zeigt sich bei seinem Sohn Victor.) Am Beginn heißt es: »Eine Trauerrede soll ich halten auf König Maximilian II. von Bayern! Wer vermöchte einem so erhabenen Vorwurf würdig zu entsprechen? Daran sollte sich nur Einer wagen. Der Redner nur, der unter seines Gleichen der beste ist. Denn der König, dem die Rede gilt – o der war unter Seines Gleichen – der Beste!« Nun wartet der Leser auf die Abschwächung, dass Jakob Hirschfeld sich selbst eben doch nicht als den Besten ansieht – aber auf den 25 Seiten der Rede wird diese doch recht anmaßende Selbsteinschätzung niemals in Zweifel gezogen.
1868 tritt in Bayern ein neues Wehrgesetz in Kraft, in dessen Vorfeld heftige Diskussionen geführt werden, denn Maturanten sollten eine Sonderstellung erhalten, ähnlich wie in Österreich. Doch um Rabbiner zu werden, war die Matura nicht Voraussetzung – um diesen Missstand zu beheben, hält Jakob Hirschfeld ein leidenschaftliches Plädoyer und nutzt die Gelegenheit, dieses so brennende Thema breiter zu diskutieren, nicht ohne das adressierte Gremium mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein darauf hinzuweisen, »daß meine Wenigkeit es war, welche durch schriftliche und mündliche Anregung und energische Betreibung, den Beschluß des hohen Abgeordnetenhauses herbei führte, daß Rabinatskandidaten ein Gymnasialabsolutorium haben müssen. Ich werde im Verlaufe dieses die Gelegenheit haben auf das Detail zurückzukommen und erwähne dies hier vorläufig nur darum, um die Freiheit dieser Zeilen zu begründen.«
Zwei Gruppierungen stehen einander gegenüber: »Die eine erklärt das Gymnasialabsolutorium für einen Rabinatscandidaten für unerlässlich, die andere für unzulässig.« Und nun folgt eine fast schon als genial zu bezeichnende Argumentationskette, denn Hirschfeld vergleicht die Rabbinatsausbildung mit dem Realgymnasium. Da wie dort vereinen sich die humanistischen Bereiche des Gymnasiums mit den spezifisch notwendigen Fächern – und daraus folgt, dass Rabbinatskandidaten das Realgymnasium besuchen, von den technischen Fächern aber suspendiert werden sollten, um Zeit für ihre Studien zu haben. Und es wäre nicht Hirschfeld, hätte er nicht einen fixfertigen Lehrplan in der Tasche: Technisches Zeichen und Religionsunterricht sollten ausgenommen werden, nicht jedoch Englisch und Französisch, »denn die Kenntniß dieser modernen Sprachen steht in mancherlei förderlicher Beziehung zur Bildung eines Rabbiners, er soll auch die lernen«. Was für eine weitblickende Auffassung. Auch sechs Wochenstunden Integral- und Differential-Rechnungen stünden zur Disposition, was jedoch die Bedeutung der einfachen Mathematik nicht schmälern sollte. Dafür holt er einen der großen Philosophen zu Hilfe: »Die Kenntniß der Mathematik ist für die Bildung des menschlichen Geistes hoch wichtig. Und wie einst Plato an die Thüre seines Lehrsaales geschrieben: ›hier dürfen nur die Mathematisch Gebildeten eintreten‹, so stehen diese Worte noch immer und für alle Zeiten geschrieben an der Pforte des Tempels höherer menschlicher Intelligenz.« Doch sei die höhere Mathematik sehr berufsspezifisch und für einen Rabbiner nicht unbedingt Voraussetzung.
Die Hauptfrage jedoch lautet: Kann ein Wehrgesetz einen neuen Lehrplan festlegen? Natürlich nicht, wenn es aber auf bestimmte Bildungsvoraussetzungen aufbaut, müssen diese zuerst modifiziert werden: »Die gesunde Vernunft ist es, die sich dagegen sträubt, in einem Wehrgesetze en passant über eine Studienfrage zu entscheiden, u. zwar über eine Studienfrage, die für die Betreffenden als eine moralische Lebensfrage erscheint.«10 Eine moralische Lebensfrage auch für Jakob Hirschfeld.
1869 findet in Leipzig die erste israelische Synode statt, bei der zwei Welten aufeinanderprallen: Orthodoxie und Reformjudentum. Einer der Hauptkonflikte berührt die Reform des Gottesdienstes und die Einführung einer Orgel – an ihr entzünden sich die Emotionen. Hirschfeld zählt zu den Verfechtern der Reform, doch er ist, seinem Charakter entsprechend, seiner Zeit weit voraus und bringt Anträge ein, die keinerlei Unterstützung finden.
Jakob Hirschfeld hat es in Augsburg nicht leicht – was wohl auch an seinem offenbar nicht ganz einfachen Charakter liegt, wie 1917 Rabbiner Richard Grünfeld höflich, aber deutlich formuliert, denn es gelingt Hirschfeld nicht immer, »den notwendigen Kontakt mit Gemeinde und Gemeindeverwaltung zu erhalten. Seine religiöse Richtung war gemäßigt liberal mit einem stark opportunistischen Einschlag.«11 Wobei dieser Opportunismus wohl noch mit starkem Geltungsdrang verbunden ist. Es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen konservativen und liberalen Gemeindemitgliedern, und Jakob Hirschfeld wird von beiden Gruppierungen als zu der jeweils anderen gehörig betrachtet. Er beendet seine Zeit in Augsburg 1871, knapp bevor dort die zweite Synode zusammenkommt, in der die konservativen Vertreter die Oberhand gewinnen und den Liberalen Jakob Hirschfeld in landesweiten Zeitungsaufrufen bannen.12 Intention der Synode ist, »das Judenthum und dessen Institutionen mit dem Geiste der Zeit und den veränderten Lebensverhältnissen zu versöhnen und eine Vereinbarung zwischen den aus der Vergangenheit übernommenen und aus der Gegenwart sich mit Macht herandrängenden Ideen als möglich und praktikabel darzustellen«. Eine Vermittlerfunktion »zwischen zwei einander grollenden Elementen« sei das Hauptanliegen, wie Die Neuzeit am 30. Juni 1871 auf Seite 1 verkündet. Dies ist Jakob Hirschfelds letzter Tag als Rabbiner in Augsburg.
Über seinen Rückzug kann nur spekuliert werden, da jedoch die Synode »zunächst ein Organ des konservativen Strebens« war, eckt er mit seinen großen Reformanliegen wohl wieder und wieder auch in seiner eigenen Gemeinde an. Trotzdem nimmt er an der Synode teil und setzt sich unerschrocken für sein Anliegen ein: Ein Antrag Jakob Hirschfelds bezieht sich wiederum auf das höchst umstrittene Orgelspiel in der Synagoge und beginnt mit den Worten: »Das Musicieren am Sabbath ist, an welchem Orte und zu welchem Zwecke auch immer, biblisch nicht verboten.«13 Mit dieser deutlichen Ansage, die mit verschiedenen Zitaten belegt wird, eröffnet Hirschfeld eine Diskussion, die sehr heftig geführt wird. Denn es geht nicht nur um die Einführung einer Orgel, die mit dem Christentum verbunden wird, in der Synagoge, sondern auch darum, dass das Instrument im Falle einer Beschädigung am Sabbat nicht repariert werden dürfe, und vor allem darum, dass ein Jude diese am Sabbat nicht spielen dürfe – oder vielleicht doch? Hirschfeld argumentiert weiter, dass das Verbot der Sabbat-Arbeit für die Förderung der religiösen Übung aufgehoben sei – und Musik fördere die religiöse Übung. Die Jugend solle wieder für den Gottesdienst gewonnen werden, denn diese »fühlt sich von der bisherigen Gestaltung und Handhabung des Gottesdienstes wenig angezogen und erbaut. Hoffen wir, durch die Orgel und einen verständlichen, der Zeitrichtung entsprechenden Gottesdienst die Jugend fürs Gotteshaus zu gewinnen.« Es sind dies genau die Jahre, in denen Jacobs Sohn Victor die Reformschule in Seesen besucht – deren Jakobstempel, erbaut 1810, hatte die erste Synagogenorgel im deutschsprachigen Raum.
Die orthodoxe Zeitschrift Der Israelit verurteilt die Synode in jeder Nummer: Nur wenige Rabbiner nehmen teil, viele speisen im örtlichen – nicht koscheren – Wirtshaus und hinterfragen in ihren Anträgen die Grundfesten des Judentums. Die Synode gipfelt in einer Erklärung vom 26. Juli 1871, die jedoch der Großteil der teilnehmenden Rabbiner unterzeichnet. Was ist der Inhalt? Eine deutliche Distanzierung von all jenen Rabbinern, die die jüdischen Ehegesetze infrage stellen. Und es wundert wenig, dass sich Jakob Hirschfelds Name nicht auf dieser Liste findet. Im Gegenteil. Selbstverständlich wird auch eine Liste der »Gegner« veröffentlicht – mit weitreichenden Folgen. Die gesetzestreuen Gemeinden sollen dafür Sorge tragen, dass diese »Leugner und Verletzer der göttlichen Lehre ihres Amtes enthoben werden, und wenn dieses nicht zu ermöglichen ist, dafür Sorge zu tragen, daß die gesetzestreuen Israeliten sich von diesen Pseudorabbinern vollständig lossagen. Die Herren heißen: …« Und klarerweise findet sich auf der nun folgenden Liste auch der Name Hirschfeld, Exrabbiner von Augsburg. Ob dies Anlass für Jakob ist, seine Tätigkeit als Rabbiner zu beenden, bleibt unklar. Jedenfalls ist er ab 1871 in seinem Beruf nicht mehr tätig.
Über München gelangt Familie Hirschfeld 1876 nach Wien. Hier wechselt Jakob Hirschfeld wohl nicht ganz freiwillig das Metier, schreibt für Die Hausfrau und kann gleich in der ersten Ausgabe über Rhapsodien der Erziehung in blumigsten Worten feststellen: »Erziehung ist nicht Unterricht. Erziehung ist wie der Einfluß des Licht-Fluidums, dieses wunderbaren Agens, das unvermerkt aber stetig und intensiv wirkt, und Leben wecket und gestaltet.«14 So fremd ist ihm das Metier des Journalismus jedoch nicht, denn mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte er bereits ein äußerst positives Zeugnis von einem Redakteur der Wiener Zeitung ausgestellt bekommen. Jakob war seit 1850 »Mitarbeiter für den wissenschaftlichen und literarischen Theil«. Nicht nur seine publizistischen Beiträge wurden gelobt, sondern auch »sein ehrenwerther Charakter und seine gediegene wissenschaftliche Bildung«.15 Am 22. September 1877 sind Vater und Sohn auf derselben Seite in der Hausfrau vereint: Jakob berichtet über die Schriftstellerin Betty Paoli, Victor Léon gibt eine weitere Kostprobe seines dramatischen Talents mit der Novelle Eine Liaison.
Jakobs Geist und seine sprachlichen Fähigkeiten gehen auf seine Kinder über. Man kann sich vorstellen, wie in einer Familie, in der das Wort solchen Stellenwert hat, gewitzelt und karikiert wird. Die beste Grundlage für Theatertexte und Operettenlibretti.