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Victor Léon, der Operettenkönig

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Victor Léons Weg geht stetig in eine Richtung: zum Theater. Als Dramaturg und Oberspielleiter sammelt er Erfahrungen, doch das Schreiben ist sein eigentliches Metier: Bereits 1898 fährt er den ersten Erfolg mit dem Text zu Richard Heubergers bis heute populärer Operette Opernball ein. Und nun geht es Schlag auf Schlag: 1902 mit Franz Lehárs Der Rastelbinder und 1905 wiederum gemeinsam mit Lehár der wohl größte Erfolg: Die lustige Witwe. Übrigens hatte Victor Léons Tochter Lizzy Lehár entdeckt: Beim Eislaufen war ihr der fesche Kapellmeister ins Auge gestochen und sie hatte ihren Vater auf ihn aufmerksam gemacht. Der Rest ist Geschichte.


Victor Léon

Im Schlüsselroman Operettenkönige von Franz von Hohenegg, vermutlich ein Pseudonym für einen Intimfeind Léons, wird dieser als äußerst unsympathischer Intrigant dargestellt – der Autor focht wohl eine private Fehde mit Léon aus und rächte sich auf diesem Wege. Aber: Ein Körnchen Wahrheit wird wohl doch enthalten sein, jedenfalls was die persönlichen Lebensumstände betrifft, heißt es doch in dem Roman über ihn: »›Bonné [gemeint ist Léon] ist auch verheiratet, aber deshalb sind wir doch moderne Menschen und wissen unsere kleinen Liaisons mit Anstand abzuwickeln.‹ – ›Sie haben vollkommen recht, Direktorchen,‹ schmunzelte Bonné, an seiner Zigarre kauend, ›die Liebe, besonders die verbotene Liebe, ist dem Künstler so unentbehrlich wie der Blume der Tau.‹« Nach diesem Motto lebt und handelt wohl die ganze Operettenszene – Gspusis16 zwischen Komponisten, Librettisten und Direktoren und großen Stars, kleinen Balletteusen und ehrgeizigen Jungdarstellerinnen gehören zum Alltag. Und auch Victor Léon hat neben seiner Tochter Lizzy, deren Mutter Ottilie Popper er erst nach der Geburt heiratete, einen Sohn: mit der bekannten Soubrette Margit Suchy, die natürlich viel jünger ist als er. Weitere Kinder sind unbekannt, aber nicht ausgeschlossen.

»Aus einem Kleinliteraturtreibenden ist er schnell ein Großindustrieller der Bühne geworden.«17 Victor Léon ist eitel. Beim Lesen von Artikeln, die er für diverse Zeitungen verfasst, sticht diese Charaktereigenschaft ins Auge. Aber auch in Rezensionen über Uraufführungen seiner Werke wird klar, dass er den Dank und die Ovationen immer gerne entgegennimmt. »Für die Librettisten nahm Herr Victor Léon das Wort«, heißt es anlässlich der 300. Aufführung der Lustigen Witwe am 14. Jänner 1907 in der Wiener Sonn- und Montagszeitung, »der mit bemerkenswerter Bescheidenheit seinem freudigen Staunen Ausdruck verlieh, daß sich bei keinem der Darsteller infolge der Daueraufführungen Zeichen der Paralyse einstellten«. Diese »bemerkenswerte Bescheidenheit« ist offenbar erwähnenswert.

Heute gilt Léon als der große, einflussreiche und erfolgsverwöhnte Librettist zahlreicher Erfolgswerke vom Rastelbinder bis zur Lustigen Witwe. Völlig vergessen ist jedoch sein Talent als Theaterautor. Wer weiß schon, dass sein allererstes Stück Die Büstegleich am Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde, wenn auch nicht unter seinem Namen? Léon thematisiert eine ähnliche Geschichte später in seinem Lustspiel Der große Name: Ein berühmter Operettenkomponist lässt die symphonische Dichtung eines unbekannten Kollegen unter seinem Namen aufführen und legt so den Grundstein für dessen Karriere. Dasselbe geschah angeblich Victor Léon: Er arbeitet auf Anraten des zur damaligen Zeit berühmten Schriftstellers Camillo Walzel eine französische Novelle zu einem Lustspiel Die Büste um, das Walzel unter seinem Namen am Burgtheater aufführen ließ. Einen kleinen Hinweis liefert die Neue Freie Presse am 5. April 1878: Der Verfasser wird bei der Uraufführung auf die Bühne gerufen, »ohne zu erscheinen«. Im Programmheft des Hamburger Carl-Schultze-Theaters wird diese Geschichte anlässlich der Aufführung von Die geschiedene Frau von Victor Léon und Leo Fall ebenfalls erwähnt – dieser Artikel über Léon ist überhaupt ein Hymnus, wird er doch darin als »deutscher Scribe« tituliert und als Neuerer des Operettenlibrettos hervorgehoben.

Seine Anfangsjahre in Wien verbringt Victor Léon im Kaffeehaus – ein Klischee, das aber vor allem Kontaktpflege bedeutet. Karl Kraus gibt ein pointiertes Bild in seiner demolirten Literatur: »Endlich einmal ein wirklich Nervöser! Das thut förmlich wohl in dieser Umgebung des posierten Morphinismus. Es ist kein Künstler, nur ein schlichter Librettist, der hier den Anderen mit gutem Beispiel vorangeht. Abgehetzt, von den Aufregungen der Theaterproben durch und durch geschüttelt, nimmt er geschäftig Platz: Kellner, rasch alle Witzblätter! Ich bin nicht zu meinem Vergnügen da!« Karl Kraus’ Meinung über die »Leistung« des Librettisten Léon ist erwartungsgemäß miserabel: »Doch ein Antäus der Unbegabung, empfängt er aus seinen Misserfolgen immer neue Kräfte.«


Léons prachtvolle Villa in Unterach am Attersee

Dass Libretti meist zu zweit entstehen – einer ist für den Plot, der andere für die Liedtexte zuständig –, nimmt Kraus auch aufs Korn. Und nennt gleich einen der Compagnons, der heute fast vergessen ist: »Was dem einen an Humor fehlt, macht der Andere durch Mangel an Erfindung wett. Doch scheint das Geschäft seinen Mann zu nähren. Heute gehört ihm eine Villa, am Attersee herrlich gelegen – mit Aussicht auf den Waldberg.«18 Damit ist Heinrich Freiherr von Waldberg gemeint, mit dem Léon unter anderem die Erfolgsoperette Opernball für Richard Heuberger verfasste. Zu Heinrichs Vater Moses gibt es eine Geschichte, die einer Operette entsprungen sein könnte und gleichzeitig zeigt, aus welchem Umfeld die Librettisten ihre Ideen schöpfen konnten: Moses, Bankier in Jassy, wurde 1875 nobilitiert und erschien bei Hof im Kaftan. Ein ungewöhnlicher Anblick. Moses drei Söhne studierten Jus und waren gleichermaßen erfolgreich, Heinrich eben auch als Librettist. Wie so viele andere Operettenmacher besitzt auch er eine beachtenswerte Kunstsammlung, die 1938 enteignet wird.

Im Jahr 1919 unterläuft dem Kritiker Max Kalbeck ein Missgeschick: In seiner Rezension zu Léons und Waldbergs Stück Ein dunkler Ehrenmann verbreitet er die Nachricht vom Tode Waldbergs: »Baron Heinrich v. Waldberg starb, von vielen beklagt, die den liebenswürdigen Ischler Sommergast näher kannten als die zahlreichen Werke des produktiven Dichters, von keinem aufrichtiger betrauert, als von seinem langjährigen Kompagnon.«19 Am Abend desselben Tages erscheint ein Erratum: »Wie mir von hundert Seiten auf einmal mitgeteilt wird, befindet sich der Dichter bei bestem Wohlsein.«20 Zu seinem Tod erhält Waldberg keinen Nachruf mehr: Er wird am 9. Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er zehn Tage später 82-jährig stirbt.

Léon ist journalistisch äußerst fleißig, er ergreift jede Gelegenheit, sich zu verschiedenen Themen zu Wort zu melden. Meist handeln die Artikel von Missverständnissen oder berichten über bedeutende Persönlichkeiten der Theaterwelt. Doch eigentlich geht es immer nur um ein Thema: Victor Léon. So tritt er für die Anerkennung der Librettisten ein. Und meint immer sich selbst. Er echauffiert sich über falsche Gerüchte über die Entstehung der Lustigen Witwe und lässt keinen Zweifel daran, dass nur ihm allein der Erfolg zu verdanken ist. Er schreibt über Hermann Bahr und ich und meint doch die umgekehrte Reihenfolge: Das »Ich« steht im Mittelpunkt, alle anderen werden zu Hilfsmitteln, um sein eigenes Licht desto heller strahlen zu lassen. Er berichtet über sein erstes Zusammentreffen mit Johann Strauß und versteht es auch hier, sich selbst in Szene zu setzen – ein wahrer Meister der Selbstdarstellung, der dieses Talent auch in seinen Werken einsetzt. Erinnerungen an den großen Komiker Franz Tewele oder an Josef Wild, Direktor des Theaters in der Josefstadt, bieten eine wunderbare Grundlage, sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Ein geniales System.

Die Rezensionen über Stücke wie Gebildete Menschen oder Ein dunkler Ehrenmann zeichnen ein differenziertes Bild und loben Léons dramatisches Talent, die Fähigkeit, lebendige Charaktere entstehen zu lassen und den Lustspielton zu treffen. Für Gebildete Menschen erhält er 1902 den Bauernfeldpreis, den sein Bruder 1899 auch für Die Lumpen, noch unter dem Namen Leo Hirschfeld, erhalten hatte.21 Die Brüder befinden sich in guter Gesellschaft: Andere Preisträger sind Arthur Schnitzler, Hermann Bahr oder Ferdinand von Saar.22

Ein weiteres Talent Victor Léons ist heute ebenfalls vergessen: Er setzt seine Stücke fast alle selbst in Szene und schreibt bereits 1897 ein maßgebliches Buch über Regie – eine der ersten theoretischen Auseinandersetzungen mit einem Beruf, der uns heute selbstverständlich erscheint, der damals jedoch erst weit nach der Bedeutung von Dichtern und Schauspielern rangierte. Bereits 1894 hatte Léon sein Dramaturgisches Brevier veröffentlicht. Ein populäres Hand- und Nachschlagebuch für Bühnenschriftsteller, Schauspieler, Kritiker und Laien – also eigentlich für jeden geeignet.

Bis heute dominiert jedoch die Operette. Am Anfang steht die Zusammenarbeit mit Johann Strauß – Dichtung und Wahrheit prägen die Beschreibung ihres Kennenlernens: Camillo Walzel macht Léon mit Johann Strauß bekannt, es folgen eine Einladung zum Abendessen und das Engagement als Librettist. Oder ob doch eine andere, von Léon am 26. August 1928 im Neuen Wiener Tagblatt kolportierte Geschichte der Wahrheit entspricht? »Im Café Hoffellner verkehrte ein Herr Priester, Billardpartner von Johann Strauß. Dieser Herr Priester sprach mich einmal im Kaffeehaus an: ›Sie, Herr Léon, wir kennen uns doch vom Sehen. Also, ich möcht’ Sie nur fragen: Hätten Sie kein Buch für Johann Strauß?‹ Ich sah ihn an wie ein Kretin. Täppisch. Ich glaubte mißhört zu haben. Stotterte: ›Bi bi bitte, Herr Priester, was?‹ Er: ›Ich hab nämlich das Buch von Ihrem ›Doppelgänger‹ kennengelernt. Ich hab auch mehrere Kritiken gelesen. Sehen Sie, so was, das wär was für Johann Strauß.‹ Ich wurde feuerrot. Schluckte nur, weil ich kein Wort hervorbringen konnte. Johann Strauß war für uns Junge vom Metier so etwas wie etwa der Papst. ›Kommen Sie, nehmen wir einen Komfortabel.‹«

Ob das wirklich so einfach abgelaufen ist? Das Ergebnis heißt jedenfalls Simplicius, dessen Uraufführung von einem falschen Feueralarm empfindlich gestört wird. Der Ringtheaterbrand sechs Jahre zuvor hatte ein Trauma hinterlassen. Die Schilderung der Szenerie in der Neuen Freien Presse klingt fast wie ein Operetten-plot, perfekt in Szene gesetzt von Victor Léon: Brandgeruch tritt auf, das Publikum verlässt in Panik das Parkett, Direktor und Dirigent versuchen zu beruhigen, zuletzt: das Auftreten des Polizei-Commissärs: »Dann riefen hunderte Stimmen: ›Der Polizei-Commissär soll sprechen!‹ Dieser stieg auch auf einen Parquetsitz und wollte eben seinen Speech beginnen, als Strauß zufällig das Zeichen zum Wiederbeginn der Musik gab. Ein Jubelsturm brach los im Hause.« Danach gehen die Spekulationen los: War der Tumult vielleicht bewusst von »Skandalmachern oder Gegnern des Theaters« provoziert worden? Diese These hält sich jedoch nicht lange, da der Brandgeruch deutlich wahrnehmbar war. Ein aufregender Einstieg für Victor Léon also, doch ganz in seinem Sinne, sich gern in Szene zu setzen.


Der erste Erfolg: Simplicius, Karikatur aus der Bombe, 18.12.1887

Als intimer Kenner der Operettenszene zeigt sich Léon im Stück Der große Name, das er 1909 gemeinsam mit seinem Bruder Leo Feld verfasst hat. In ihm wird der ewige Konflikt zwischen Operette und »hehrer« symphonischer Musik thematisiert. Der erfolglose Musikstudent mutiert zum berühmten Operettenkönig, der Musterstudent verzweifelt an der Aufführungsmöglichkeit für seine Symphonie und meint bitter: »Erfolg ist immer ein Zeichen von Talentlosigkeit.« – »Sehr amüsant ist das kommerzielle Milieu der Operettenfabrikation geschildert«, konstatiert Stefan Grossmann als Rezensent der Arbeiter-Zeitung am 3. Oktober 1909. Die Musik stammt übrigens von Robert Stolz, der zu diesem Zeitpunkt noch am Anfang seiner Karriere steht. Das Stück gibt Einblick in den Alltag der Operettenmacher, stellt Verleger und Kritiker bloß, zeigt, welche verschlungenen Wege gegangen werden müssen, um Erfolg zu haben. Der Librettist wird dazu angehalten, die Diva nicht zu verlassen, denn »eine Operettensängerin ist keine Privatangelegenheit!« Der Hofkapellmeister Wiegand fordert neue Stücke: »Das Publikum ist so novitätenhungrig!« Erfolgreiche Musik wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Augenblick geschrieben: »Der eine arbeitet für seine Zeit und wird dafür von ihr mit Ehren überhäuft; der andere schreibt für die Zukunft und der muß ringen und warten und warten, bis die Zukunft kommt! Bis die Zukunft Gegenwart wird!«23 Ein interessanter Einblick in die Rezeptionsgeschichte also.

Doch nicht immer sind die Kritiken gut, über die Aufführung der Faschingsposse Tarock im Raimund-Theater berichtet die Arbeiter-Zeitung am 9. Februar 1901: »Herr Girardi ist wirklich bewunderungswerth. Schlechte Couplets zu pointieren, daß sie fast witzig aussehen, ist seine besondere Kunst.« Ein großes Theater, ein großer Star: Léons Werke werden nicht in Kellertheatern, sondern an den renommierten Häusern gespielt. Auch die Vaudeville-Operette Das gewisse Etwas im Carl-Theater findet keine Gnade vor dem Kritiker der Arbeiter-Zeitung: Sie sei »völlig geistlos und läppisch und von einer unsagbaren Langweiligkeit«, lautet das vernichtende Urteil, um dann noch pikante Details zu verraten: »Ein paar ekelhafte und dumme Zoten über künstliche Busen bildeten den Aufputz.«24 Wir befinden uns im Jahre 1902.


Die lustige Witwe, der größte Erfolg

Am 30. Dezember 1905 folgt im Theater an der Wien Léons größter Triumph: Die lustige Witwe, verfasst gemeinsam mit Leo Stein, in Musik gesetzt von Franz Lehár. Sujet und Musik treffen den Nerv der Zeit – ein wenig Balkanexotik gemischt mit Pariser Frivolität im Rhythmus von Walzer und Csárdás. Ein Meisterwerk ist geboren, das nicht nur Wien, sondern bald die ganze Welt erobert. Am 6. Jänner 1931 fühlt sich Léon bemüßigt, im Neuen Wiener Journal zu betonen, selbstverständlich wäre er selbst für den großen Erfolg verantwortlich gewesen. Denn nur er kannte die »wahre Wahrheit über ›Die Lustige Witwe‹: Ich – als einer Autoren – darf mir wohl erlauben, einiges dazu zu sagen, und zwar lediglich im Interesse des Historischen einer so hochbedeutenden Schöpfung Lehárs, die dem ganzen Genre der Operette eine total neue Wendung und originelle Gestaltung gab, woran – auch dies wird mir zu sagen gestattet sein – auch das Buch sein redlich Teil hatte.«


Die Stars: Sigmund Natzler und Mitzi Günther


Der Schlager der Lustigen Witwe für verschiedene Besetzungen anlässlich der 300. Aufführung, 14. Jänner 1907

Damals war Heimat

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