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Rittmeister Brand
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Brand ging in gedrückter Stimmung und mit sich selbst unzufrieden heim. Es mißfiel ihm, daß er eine Freundschaft für den seligen Major von Müller heuchelte, von der sein Herz nie etwas gewußt. Warum? Weil ihm der brave Mann, der genau das gethan hatte, was Dietrich hätte thun sollen, ein lebender Vorwurf war.

»Verzeih mir, Major«, sagte Brand unwillkürlich laut und trat in seiner Benommenheit einem dürftig gekleideten, schmalen, schüchternen Herrn, der bescheiden an ihm vorüberhuschte, auf den Fuß. Der Herr grüßte und – entschuldigte sich. Für einen Major gehalten zu werden, schmeichelte ihm; denn er war nur ein ganz kleiner Beamter.

»Verzeihung«, wiederholte Dietrich, zog den Hut und dachte: Demüthiges Menschlein, wenn Du wüßtest, wie klein ich mich fühle!

Sein Elend und seine Qual mußten ein Ende nehmen; er faßte einen großen Entschluß. Wenn er auch nicht wagen durfte, Frau von Müller zu besuchen, sehen mußte er sie. Morgen ist der letzte April, da tritt sie ihre Wanderung zu der Brotgeberin an, da will er sie erwarten vor ihrem Hause, will ihr folgen, vorerst unbemerkt. Wer weiß, vielleicht zeigt der Zufall sich günstig und bietet Brand Gelegenheit, sich ihr vorzustellen.

Er schlief wenig in dieser Nacht, verfiel erst gegen Morgen in einen unerquicklichen, durch wirre Träume gestörten Schlummer. Als er erwachte, war es fünf Uhr, und aus grauen Wolken, die den ganzen Himmel bedeckten, strömte dichter Regen nieder. Nach dem Frühstück ging Dietrich in die Wohnung hinüber, die er für das Ehepaar Peters im dritten Stock des Hauses gemiethet hatte, in dem das Geschäft Magdalenas sich befand. Er kam gerade zurecht zum Bade seines Täuflings, und Frau Peters erschrak nicht wenig, als sie ihn erblickte; denn das war die Gelegenheit, bei der Dietrich mit Ermahnungen am Wenigsten sparte und so oft gesagt hatte, daß es ihr schon »auf die Nerven« ging:

»Ja, meine Liebe, das Baden eines kleinen Kindes ist keine leichte Sache. Ich habe darüber in ganz vortrefflichen Büchern gelesen und auch gesprochen mit Widerhofer, Auchenthaler und Monti.«

Heute kein Wort, nicht einmal ein recht aufmerksames Zusehen, und als die Uhr Neun schlug, nahm er seinen Hut (seinen schönsten Cylinder bei dem Wetter) und ging und vergaß den Regenschirm. Zum Glück bemerkte Frau Peters es gleich und schickte ihm den Unentbehrlichen nach und dachte bei sich mit aufrichtigem Bedauern: »Der ist wirklich verliebt, und fest, der arme Alte!«

Es hatte ihn auf einmal gepackt: Vielleicht kommt sie heute früher als gewöhnlich zu Madame Vernon. Warum sie das thun sollte, da sie doch einen bestimmten Grund hat, zu keiner anderen Stunde als zwischen Elf und Zwölf zu kommen, wußte Brand nicht und konnte es nicht wissen. Aber möglich war’s ja doch, und wenn ein vernünftiger Mensch eine Möglichkeit einmal angenommen hat, dann richtet er sich auch nach ihr ein.

Er war ein guter Geher und erreichte in erstaunlich kurzer Zeit sein Ziel, die lange Berggasse. Sie machte ihrem Namen Ehre und stieg ziemlich steil in die Höhe. Zwischen ihren alten, niedrigen Häusern ragten hie und da neue, thurmartige Zinskasernen in den Himmel und raubten seinen Anblick ihrem armen Gegenüber und waren trotz ihres unverschämt protzigen Aussehens doch nur Wohnstätten der Armuth und der Noth.

Auch Nummer 19 hatte solch’ ein lichtraubendes vis-à-vis und schien aus Ehrfurcht vor ihm halb in die Kniee gesunken. Brand trat durch das schiefe Thor in einen elend gepflasterten Hof, der ein schmales, unregelmäßiges Viereck bildete. Rings um die zwei Geschosse liefen offene Gänge mit Geländern aus verbogenen Eisenstäben. Die Fenster waren klein und in defektem Zustande. Im Hofe unter einem Vordach über dem Eingang, der zu der Hausmeisterwohnung führte, beschäftigte sich ein derbes Weib mit dem Reinigen des Küchengeräthes und wurde dabei von einer Schar von Hühnern umgackert und von zwei Katzen umschmeichelt. Auf einem leeren Fasse saß ein schwarzer Kater; und ein kleines, steinaltes, kaffeebraunes Thierchen, mit weißen Pfoten und langen, flatternden Ohren, das beim Anblicke Brands eine Art Gebell erhob, mußte man erst eine Weile betrachten, um zu erkennen, daß es zum Hundegeschlecht gehörte.

Die Hausmeisterin musterte den durch das Hündlein Angekündigten vom Kopf bis zu den Füßen und fragte unfreundlich: »Was wünschen’s denn?«

Auf einem Gang des ersten Geschosses war eine alte Frau mit zerzausten Haaren und mit einer Brille auf der Nase, in einen fettigen Schlafrock gekleidet, erschienen, hatte sich ängstlich umgesehen, einen kleinen zerfetzten Teppich auf das Geländer gelegt, und angefangen, ihn so leise als möglich auszuklopfen.

Aber die Hausmeisterin bemerkte die geplante Unthat sogleich und hemmte ihre Fortsetzung durch energische, mit Schimpfworten reichlich gespickte Einsprache. Die erschrockene Alte raffte ihren Teppich zusammen und verschwand in der Thür, aus der sie getreten war.

Diesen Zwischenfall benutzte Brand, um sich aus dem Hause und aus der Nähe seiner groben Beherrscherin zu stehlen. Diese Person nach Sophie Müller zu fragen, widerte ihn an. Diese Person schien ihm so recht fähig, alle möglichen infamen Schlüsse aus der einfachen Erkundigung zu ziehen: »Wohnt hier Frau Major von Müller, und ist sie zu Hause?«

Nein, er wollte nicht fragen, er wollte warten; geduldig, mehr als geduldig, mit dem Wunsche sogar, sie möge noch nicht kommen. Ihr Anblick wird ihm eine große Gemütsbewegung verursachen. Er hatte sich das kaum eingestanden, als er sich auch sofort ins Gebet nahm. Und was weiter? Hat er eine feige Scheu vor Gemütsbewegungen? Ist es so weit mit ihm gekommen in dem Schlaraffenleben, das er führt, und vergißt er vor lauter Erziehen an Anderen die Erziehung seiner selbst? Gemütsbewegung, ja – es wird eine sein, und er wird sie aushalten.

Nach langem Auf- und Abgehen blieb er in der Nähe des Thores stehen. Unaufhörlich strömte der Regen nieder, Brand nahm sich unter den acht Wasserfäden, die von seinem Schirm herunterliefen, wie ein steinerner Wassergott aus. Es wurde halb Elf. Sie kommt nicht, das Wetter ist zu schlecht, dachte er und – wartete weiter, obwohl er recht gut merkte, daß er schon die Aufmerksamkeit einiger Schuhmacher erregt hatte, die an einem Fenster des gegenüber liegenden Hauses arbeiteten.

Zu jeder anderen Zeit würde er hingegangen sein und die jungen Leute gefragt haben, was sie zu gaffen und zu kichern hätten? Ob die Beobachtung der Passanten oder das Verfertigen von Schuhen ihre Pflicht und ihr Geschäft sei? Jetzt aber ließ er die Tröpfe ungehindert in dem Pfuhl ihrer Nichtsnutzigkeit versinken und blieb auf seinem Posten, bis die Uhr des nächsten Kirchthurms Elf schlug und der letzte Schein von Hoffnung, der noch in ihm glimmte, erlosch.

Und gerade in dem Augenblick, in dem er jede Hoffnung aufgegeben hatte, wurde sie erfüllt. Er war noch einige Schritte hinauf bis an das Thor von Nummer 21 gegangen, da war ihm, als ob er zurückgezogen würde an unsichtbaren, aber starken Fäden. Etwas Geheimnißvolles, nie Empfundenes zwang, ja zwang ihn, sich umzuwenden.

Da trat sie aus dem Hause. Er erkannte sie sogleich. Wie zögernd blieb sie ein paar Sekunden vor dem kleinen Wasserreservoir stehen, das sich zwischen der Schwelle und dem Trottoir gebildet hatte, sah zum trostlos grauen Himmel hinauf, öffnete rasch ihren Schirm, hob sich auf die Fußspitzen und schritt eilig und entschlossen des Weges.

Brand folgte ihr anfangs aus einiger Entfernung, dann wagte er sich näher heran, ging auf die andere Seite der Gasse, ging ihr vor, sah ihr ins Gesicht. Sie trug einen kleinen, schwarzen Schleier, hielt die Augen aufmerksam auf das Pflaster gerichtet und suchte die Steine aus, auf welche sie ihre schlanken, schmalen Füße setzte. Sie hatte ihren leichten und entschlossenen Gang, die anmuthig aufrechte Haltung behalten, die ihm so deutlich in der Erinnerung geblieben waren. Sie sah wie ein junges Mädchen aus, und fein und elegant in ihren alten Kleidern. O wie alt, wie abgetragen!

Brand verlangsamte seine Schritte und ging wieder hinter ihr her; und als ein Lümmel, der ihr entgegen kam, sie beinahe vom Trottoir gestoßen hätte, schob er ihn zur Seite mit solchem Nachdruck und so aggressiver Miene, daß der Mensch ein »Pardon« stammelte und sich davon machte.

Sie waren am Ziele. Frau von Müller lief mehr als sie ging ins Haus, und Brand dachte daran, heim zu gehen. Aber er that es nicht, er brachte sich nicht fort. Er hatte ja die Möglichkeit, sie noch einmal zu sehen, ihr noch einmal zu folgen, sie vielleicht noch einmal in Schutz zu nehmen vor irgend einem Lümmel und sich dann ein Wort des Dankes von ihr zu verdienen … Daß sie doch in eine große Gefahr gerathen möchte, daß er ihr Leben um den Preis seines eigenen retten und ihr sterbend sagen könnte: »Frau von Müller, jetzt sind wir quitt!«

Sie war nicht die breite Treppe zum ersten Stockwerk hinaufgestiegen, die links in die Salons führte, sondern die Seitentreppe rechts, über die man zur Privatwohnung Madame Amélies gelangte. Brand hatte sich in den Hof zurückgezogen und beobachtete von dort aus, was unter dem Thorwege vorging. Nach kaum zehn Minuten kam Sophie die kleine Treppe wieder herab. Ihre Wangen waren leicht geröthet, ein heller Ausdruck von Freude verklärte ihr Gesicht. Die angenehme Überraschung, die Brand ihr zugedacht, war gelungen; Madame Amélie hatte ihre Sache gut gemacht.

Mit großer Raschheit eilte Frau von Müller vorwärts und wäre beinahe an einen großen, breiten, nach der neuesten Mode gekleideten Herrn angeprallt, der plötzlich und ebenfalls sehr rasch aus der Thür der gegenüber liegenden Treppe getreten war. Brand erkannte in ihm das Urbild der vielen Porträts, die das Zimmer seiner Gattin schmückten, den Chef des Hauses, Herrn Eduard Weiß. Das waren seine impertinent blauen, vorgehenden Augen, seine üppigen Backenbärte, die schwellenden Lippen, die – um mit Amélie zu sprechen – unter dem blonden Schnurrbart hervorblinkten, wie rother Mohn ans dem Weizenfelde.

Er lachte laut auf über den Schrecken, mit dem Sophie vor ihm zurückgefahren war, und sprach, ohne den Hut zu rücken: »Seh’n Sie, da haben Sie’s. Zur Strafe, daß Sie immer vor mir davonlaufen, wirft Sie der Zufall in meine Arme.«

Sie wendete sich und eilte dem Ausgang zu; Eduard vertrat ihr den Weg:

»Nein, nein, Sie bleiben! Warum so scheu? Hab’ ich Sie beleidigt, oder fürchten Sie, daß ich Ihnen gefährlich werden könntet Wenn das wäre, schöne Frau, wenn ich das hoffen dürfte« …

Zärtlich, mit elegischer Gebärde, streckte er die fein behandschuhte Rechte aus, um ihren Arm zu fassen; aber im selben Augenblick legte sich eine nervige Faust auf den seinen, und eine gebieterische Stimme befahl:

»Platz da, Herr!«

Betroffen sah Eduard sich um und maß den kleinen, unscheinbaren Mann, der ihn angerufen hatte, mit einem häßlichen, verächtlichen Blicke. Dieser Mann lüftete jetzt vor Frau von Müller den Hut wie vor einer Königin und fragte ehrfurchtsvoll:

»Darf ein alter Bekannter Ihnen sein Geleit anbieten, gnädige Frau?«

Sie war zurückgewichen. Ein leises Beben durchrieselte ihren ganzen Körper, mit groß geöffneten Augen starrte sie ihn an, ihre Oberlippe zog sich ein wenig in die Höhe, man sah, wie ihre weißen Zähne sich fest auf einander klemmten.

»Herr Rittmeister Brand,« sprach sie zagend, fast unhörbar.

»Brand?« wiederholte Herr Eduard eingeschüchtert. Rittmeister Brand, von dem Amélie in den letzten Tagen so oft und mit so herausforderndem Entzücken sprach? Derselbe Brand, von dem man wußte, daß er den Dienst aufgegeben hatte, um sich mit seinem Obersten duelliren zu können. War er’s? war er’s nicht? Für alle Fälle fand Herr Weiß es gerathen, die Augen zu senken.

Sophie hatte ihre Fassung bald wieder gewonnen. Ruhig, höflich, aber unwiderruflich entschieden sprach sie, als Brand seinen Antrag wiederholte: »Ich danke Ihnen, Herr Rittmeister, nein, nein.«

Dietrich trat schweigend zur Seite, und sie schritt an ihm vorbei und hinaus in den strömenden Regen, in den Sturm, der sich erhoben hatte und die Straßen durchfegte.

Eduard machte einen zaghaften Versuch, ihr zu folgen. Aber Brand sah zu ihm hinauf (er reichte ihm genau bis zum Ohrläppchen) und sprach:

»Ich bitte Sie um eine kurze Unterredung. Ich begleite Sie auf Ihr Comptoir.«

»Ich komme von dort,« versetzte der schöne Mann und wußte nicht recht, ob er mehr Grund zur Entrüstung oder zur Bestürzung habe. »Ich gehe jetzt aus. Ich habe zu thun.«

»Auch ich habe zu thun, und zwar mit Ihnen,« sagte Dietrich bestimmt, aber gar nicht agressiv. Dem Chef lief es trotzdem eiskalt über den Rücken, und er fragte sich, ob das vielleicht die Art der Herren vom Militär sei, einen Civilisten zum Duell heraus zu fordern. Zum Duell! Diesem Unsinn, diesem Verbrechen, das jeder vernünftige und rechtgläubige Mensch verabscheut. Aber Gottlob, beschwichtigte er sich, wir haben ein Gesetz, und dieses hat einen Paragraphen, der Schutz gewährt gegen Bedrohung am Leben. Diese Erwägung gab ihm einige Sicherheit und den Muth, zu sagen:

»Eigentlich weiß ich nicht … Mit wem hab’ ich denn eigentlich die Ehre?«

»Eine ganz berechtigte Frage, Herr Eduard Weiß. Ich habe versäumt, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Dietrich Brand.«

»Also wirklich … Meine Frau hat schon öfters das Vergnügen gehabt, Herr Rittmeister« …

»Nicht mehr. Ich habe meinen Militärcharakter abgelegt.«

»Ja so, also richtig, also – bitte.«

Wenn Du nur nicht so verflucht martialisch aussähest, Du alte Tugendpolizei, dachte Eduard.

Er hatte den Gast in das ebenso elegant wie gediegen eingerichtete Comptoir geführt, wies ihm dort einen bequemen Fauteuil an und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Da hatte er die Taster der elektrischen Glocken in der Nähe. Ihr Anblick und der des Telephons an der Wand war ihm erfreulich. Es berührte ihn auch angenehm, als er aus dem zweiten Zimmer die süße Stimme Fräulein Juliens, die mit dem Zuschneider konferirte, herüberflöten hörte.

Brand nahm von dem ihm angebotenen Platz nur so viel in Anspruch, als seine schmächtige Gestalt durchaus brauchte. Er saß kerzengerade, mit fest geschlossenen Beinen, und als Eduard ihm den Hut, den er in der Hand behalten hatte, abnehmen wollte, lehnte er kurz ab: »Nicht nöthig. Ich habe Ihnen nur mitzutheilen, daß der verstorbene Major von Müller ein Kamerad von mir gewesen ist. Erst neulich habe ich erfahren, daß seine Wittwe hier lebt. In wie traurigen Verhältnissen, theilte Ihre Frau Gemahlin mir mit. Ich bin nun entschlossen, Frau von Müller und ihre Kinder in meine Obhut zu nehmen. Soeben war ich Zeuge des Benehmens, das Sie sich gegen diese Dame erlauben; wohl nur, weil sie von Ihnen für schutzlos gehalten wird. Sie ist es nicht mehr. Wer sie beleidigt mit einem einzigen Worte, einem einzigen Blick, beleidigt mich. Ich aber versichere Ihnen, daß ich Beleidigungen nicht dulde. Das lassen Sie sich gesagt sein.«

Er stand auf, und Eduard folgte seinem Beispiel. Er sprach nicht, er verbeugte sich nur, über sein wohlgenährtes Gesicht flog ein Ausdruck … Alles zugleich, cynisch, frech, feige.

Brand nahm sich zusammen; er wollte seinen Zorn nicht überwallen lassen. Das kostete ihn einen schweren Kampf. Unbegreiflich! Seinen Soldaten gegenüber war seine Ruhe unerschütterlich, seine Geduld unerschöpflich gewesen. Wie kam dieser Bengel zu der Ehre, ihn dergestalt in Aufregung zu bringen?

Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid

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