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Rittmeister Brand
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Gescheitert, wie Robinson, richtete er sich auf seiner Insel ein. Er änderte, als Feind der halben Maßregeln, seine Lebensweise aus dem Grunde, verschenkte seine Pferde, seine Waffen an arme, einstige Kameraden, zog nach der Stadt und vegetirte dort wie ein pensionirter Hofrath. Er mied die Kaffeehäuser, in denen Offiziere verkehrten, machte große Spaziergänge, besuchte Museen, Kunstausstellungen, Concerte, Theater und populäre Vorlesungen. Er holte manches nach, was ihm an litterarischer Bildung fehlte, las die Klassiker, las auch moderne Poeten, konnte sich erfreuen an einem schönen Buch, einem schönen Bildwerk und an guter Musik. Diese wohlthuenden Eindrücke gingen aber nicht tief; hinter der flüchtigen Wärme und dem Interesse, die sie erregten, schauerte es kalt, gähnte die Leere.

Der Zeit wilder Aufregung war eine unausbleibliche Reaktion gefolgt. Brand hatte einem gebieterischen Müssen gehorcht, als er Alles hingab, was den besten Inhalt seines Daseins ausmachte, um einen Verbrecher bestrafen zu können. Er hatte nicht rechts noch links geschaut, nur nach dem einen, einzigen Ziele hin; nicht gefragt: wenn es erreicht sein wird, was dann? Und als dieses »dann« zur Gegenwart wurde, erschien sie ihm recht öde, nutzlos und armselig, und der Blick in die Zukunft wie ein Blick ins Grab.

Die Wohnung, die er für sich und für seinen ehemaligen Privatdiener gemiethet hatte, lag im zweiten Stock eines schönen Hauses der Rathhausstraße, war hell und freundlich und zeichnete sich durch die höchste, eine wahrhaft erfinderische Reinlichkeit aus. Wer die drei Zimmer durchschritt, aus denen sie bestand, brauchte keinen besondern Scharfsinn, um zu erkennen: hier haust ein einfacher und solider Mann, der eine Vorliebe hat für mattgeschliffenes Nußholz und für die grüne Farbe.

Zwischen der Thür, die aus dem conventionell ausgestatteten Salon herein führte und dem ersten Fenster links, ragte ein hoher Bücherschrank fast bis zur Decke, und die Bücher darin waren nett gebunden und sorgfältig eingereiht. Dem Bücherschrank gegenüber, zwischen dem zweiten Fenster und der Thür des Schlafzimmers, machte sich ein großer Schreibtisch breit; ein Strohsessel mit runder, niederer Lehne stand vor ihm, und über ihm hingen zwei schöne Kupferstiche: Erzherzog Carl, nach dem Gemälde von Kellerhoven, und Laudon, nach L’Allemands prächtigem Reiterbilde.

Die Längswand wurde zur Hälfte von einer großen Ottomane, eine der Ecken von einem Kachelofen eingenommen, der in sanftem Maigrün schimmerte, die andere von einer Etagère mit Rauchrequisiten, Alles gediegen, lauter brave Arbeit von tüchtigen Handwerkern, natürlich auch der Tisch, die Fauteuils und die Stühle, die mit der Ottomane zusammen eine Familie bildeten. Sie wieder hatte ein würdiges vis-à-vis in der zwischen den Fenstern angebrachten Konsole, der Trägerin einer vortrefflichen, altdeutschen Uhr.

Neben ihr standen zwei Armleuchter aus Messing. Das mattfarbige und weichliche Silber wird in Brands Haushaltung nur in Gestalt von Eßbestecken geduldet. Wohl verpackt steht der Schatz an schönem Silbergeräth, der von seinen Eltern und Großeltern herstammt, im Schranke und wird auf Dietrichs nicht gerade lachende, aber auch nicht weinende Erben übergehen, entfernte, wohlhabende Verwandte. Mit Fug und Recht darf er sich sagen, daß sein Tod keinem seiner sogenannten Angehörigen eine Stunde trüben oder erheitern wird. Und dessen freut er sich. Wo er gleichgültig ist, will er auch gleichgültig lassen. Das Ärgste wäre ihm, in der Schuld eines Anderen zu stehen, ob sich’s nun um Gulden handelt oder um liebevolle Empfindungen.

Es war an einem heißen Mainachmittag des Jahres 1890, und Brand eben aus dem Restaurant zurückgekommen, in dem er seine einfache Mahlzeit einzunehmen pflegte. Die Sonne brannte mit sommerlichen Gluthen zur Erde nieder und machte jedes Fenster, das sie beschien, zu einem Brennspiegel, und jeden Pflasterstein zu einem kleinen Ofen.

Mit Behagen empfand der Heimgekehrte den Kontrast zwischen der drückenden Schwüle, dem grellen Lichte auf der Straße und der angenehmen Temperatur in seinem hohen, luftigen Zimmer. Leicht gedämpft durch die herabgelassenen Storen fiel das Licht herein, ein mildes, grünliches Licht, bei dem man ungemein gut lesen konnte. Brand zündete eine Cigarre an, setzte sich auf seinen Sessel vor den Schreibtisch und nahm ein Buch, das aufgeschlagen neben der Mappe gelegen hatte, zur Hand: Möllhausens Reisen im Felsengebirge Nordamerikas.

Von Zeit zu Zeit unterbrach er seine Lektüre, um einen Blick nach der riesigen Weltkarte zu werfen, die über der Ottomane hing. Einen scharfen, durchdringenden Blick aus seinen grauen, tiefliegenden Augen, die von ihrer ungewöhnlichen Sehkraft noch nichts verloren, obwohl achtundvierzig Jahre verflossen waren, seitdem sie sich zum ersten Male aufgeschlagen hatten. Dabei zog er seine dichten Brauen zusammen, und auf der viereckigen Stirn entstanden zwei tiefe Furchen, die ihm einen klugen und strengen Ausdruck gaben.

Eine halbe Stunde verging. Die Thür des Salons wurde geöffnet, und Jemand trat ein. Brand wußte, ohne sich umzusehen, wer es war. Er kannte den festen und zugleich diskreten Schritt, den sein Diener sich hatte angewöhnen müssen, er kannte auch dessen Art, die Thüre zu öffnen und zu schließen. Wer hatte sie ihm denn beigebracht?

»Die äußere Klinke gefaßt, Du Waldmensch. Eins! – niedergedrückt: Zwei! – Thür auf! – Vorwärts, und die andere Klinke gefaßt: Eins! – niedergedrückt: Zwei! – Thür zu! –«

Diese Übung zehnmal nach einander durch drei Tage wiederholt, und ein ehemaliger Waldmensch war für den ganzen Rest seines Lebens befähigt, als ein Gesitteter unter Gesitteten zu erscheinen. Ist solcher Gewinn nicht der kleinen Mühe werth?

Peter Peters war also eingetreten. Ein weiteres Lebenszeichen gab er nicht. »Was willst Du?« fragte Brand nach einer Weile, ohne sich umzusehen.

Peter zögerte, seine Stimme war furchtbar gepreßt, als er sie endlich erhob, um seine »gehorsamste Mittheilung« vorzubringen.

Eigentlich wurde die Mittheilung hinterbracht, denn er sagte, was er zu sagen hatte, in seines Herrn Rücken, der ihm wohl auch imponirte, aber doch nicht so sehr wie seines Herrn Gesicht.

Wenn er gesehen hätte, was auf dem vorging, während er sprach, würde er seine Rede schwerlich zu Ende gebracht haben. Bestürzung, Zorn, Wehmuth spiegelten sich in den Zügen des erregten Mannes, um als sein Diener schwieg, einer rasch erkämpften, eisernen Ruhe zu weichen. Jetzt wendete er plötzlich den Kopf. Er, der Sitzende, der Kleine maß den flehenden großen Peter von oben herunter und sagte, die Ellbogen auf die Sessellehne gestützt, die Cigarre zwischen den Zähnen: »Heirathen willst Du, wenn ich nichts dagegen habe? – Was soll ich dagegen haben? – Du heirathest und Du gehst. Einen mit Familie behafteten Diener kann ich nicht brauchen. Und wie heißt die Gans, die Dich nimmt?«

Nicht ein protestirendes Wort zu Gunsten seiner Erkorenen kam über Peters Lippen. »Du gehst.« Wie eine Pistolenkugel hatte es ihn getroffen. Er wunderte sich, daß er noch aufrecht stand. »Du gehst.« Diese – Unmöglichkeit hatte er nicht erwogen.

»Wie heißt sie?« wiederholte Brand.

Tonlos, mit verglasten Augen vor sich hinstarrend, gab Peter die Antwort: »Magdalena Sänftenträger. Kinderlose Wittwe. Das Delicatessengeschäft grad gegenüber gehört ihr. Wo ich zum Souper für den Herrn Rittmeister die kalte Küche hole.«

»Die kalte Küche, schön. Bei der haben die Herzen Feuer gefangen. Gut. Abgemacht. Geh’.«

Peter ging, und die grollenden Gedanken Brands folgten ihm nach. Der will heirathen, der will sich etabliren, einen Haushalt gründen, dieser Peter, an dem immer noch erzogen werden muß, der nichts kann und nichts ist ohne seinen Herrn. Wenn man nur denkt! – Zum zweiten Dragonerregiment war er gekommen vor zwölf Jahren, halb verhungert, der verwaiste Sohn einer armen Tagelöhnerin, die mit ihm in der Welt herumgezogen war, da- und dorthin, wo sie gerade Arbeit fand, der nie eine Schule regelmäßig besucht, nie einen ganzen Rock am Leib gehabt hatte. Und nun auf einmal gut genährt, gekleidet und bewohnt, von seinem Rittmeister mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt als der ärmste, im Zustande ärgster Verwahrlosung übernommene Rekrut. Man konnte Freude an ihm haben, an seinem physischen, geistigen und moralischen Gedeihen, an dem Glück, das sich auf seinem gutmüthigen, braunen Gesichte spiegelte – wenn er nicht gerade weinte – denn das war seine Schwäche. Viel zu leicht für einen Mann, einen Soldaten, traten ihm Thränen in die Augen. Der bärenhafte Bursche konnte nicht leiden sehen, am wenigsten Thiere. Er war allem Lebendigen ein Freund: er hielt sich für den Beneidenswerthesten auf Erden, als ihm ein Pferd anvertraut wurde. Keines im ganzem Regimente war besser gehalten als Peters Sinbad, und in verhältnißmäßig kurzer Zeit keines besser geritten. Auf dem Rücken des Thieres, dessen Gedanken er, und das seine Gedanken errieth, verlebte er seine glücklichsten Stunden.

Neun Jahre hatte er schon gedient und sich mit seinem Stande immer gleich zufrieden gefühlt, als die große Katastrophe im Leben Brands eintrat, als das Unerwartetste, Unglaublichste geschah, als er den Dienst aufgab. Da bewährte sich Peter Peters, da bethätigte er die Liebe und Dankbarkeit, die sich allmählich in ihm gesammelt, aber nie einen Ausdruck gefunden hatte. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, als ob es nicht anders sein könnte, brachte er sein Opfer. Er verließ den Dienst, das Regiment, seinen Sinbad und folgte dem Rittmeister, der ihn vor Jahresfrist zu seiner Ordonnanz gemacht hatte, »ins Civil«.

Dummer Peter, treuer Peter, dachte Brand, als diese Erinnerungen in ihm aufstiegen, und mit ihnen zugleich alle die anderen, die er nie wissentlich, nie mit Willen herauf beschwor, die er am liebsten ruhen ließ. Er seufzte schwer. Was vorbei ist, ist vorbei; ein Schwächling, der widerbellt gegen die Notwendigkeit. Wenn er noch so tief überlegte, mußte er sich sagen: Alles, was geschehen war, war regelrecht geschehen. Brand hatte gehandelt, wie er seinem Charakter nach handeln mußte, wie er, in dieselbe Lage versetzt, noch einmal handeln würde. Keine Reue – darüber nicht. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken – darüber nicht!

Schattengleich zog eine schlanke Mädchengestalt an seinem innern Auge vorbei, und er streckte mechanisch abwehrend die Hand gegen sie aus, die in ihrer Lieblichkeit vor ihm aufgetaucht war.

Verdrießlich über die Träumerei, in die Peters scheinbare Treulosigkeit ihn versetzt hatte, richtete er sich entschlossen auf und schrieb an ein Dienstvermittlungsbureau, das er täglich in seiner Zeitung angekündigt fand. Dann erhielt Peter Peters den Befehl, den Brief abzugeben. Das war für den Mann ein großer Schmerz. Er hätte gern Einwand erhoben, und brachte es doch nur zu einem: »Aber Herr Rittmeister,« weil seine Stimme in einem Schluchzen erstickte, das um keinen Preis vor dem strammen Herrn laut werden durfte.

So trug er das unselige Schreiben ins nächste Postkästchen und ging dann, sich ausweinen, zu seiner Magdalena.

Am nächsten Vormittage schon stellte sich eine Anzahl Bedienter, vom Dienstvermittlungs-Bureau entsendet, dem Rittmeister vor. Er wählte den, dessen Äußeres den schärfsten Kontrast zu dem Äußern Peters bildete: einen feinen, wunderhübsch frisirten Menschen, der ausgezeichnet gute Manieren und wohlgepflegte Hände hatte.

Vier Wochen später, am Hochzeitstage seines Vorgängers, trat er den Dienst an, und zwar, wie er sich ausbedungen hatte, mit dem Range eines Kammerdieners.

Bevor Peter seine Braut zum Altar führte, mußte sie mit ihm zu Brand, der die schöne, von Kraft und Gesundheit strotzende Wittwe ernsthaft betrachtete und sprach:

»Stattlich, stattlich. Du hast Dir eine gewichtige Lebensgefährtin ausgesucht, Peter.«

Peter strich über seinen dicken, rothen, an den Enden leicht gelockten Schnurrbart und versetzte: »Ich mag die Mageren nicht.«

»Und ich,« sprach Magdalena und warf dabei einen zärtlichen Blick auf den Auserwählten, »habe mir vorgesetzt; wenn ich wieder heirathe, nehme ich einen Großen. Ein Kleiner kann grad so grob sein und macht kein Ansehen.«

Brand meinte, dem Peter seien noch andere gute Eigenschaften nachzurühmen als seine Größe, und als ganz armer Schlucker käme er ihr auch nicht ins Haus. Damit legte er ein auf zweitausend Gulden lautendes Sparkassenbuch in die Rechte des Bräutigams und schloß:

»Ich danke Dir für Deine treuen Dienste. Werde ein so braver Ehemann wie Du ein braver Diener warst. Leb’ wohl.«

Peter schluchzte laut während der ganzen Fahrt zur Kirche, und vor dem Altare stieß ihn der Bock so heftig, daß er sein »Ja« mehr bellte als sprach.

Vom Hochzeitsmahle sprang er auf, als eben die Torte mit den verschlungenen Lettern »P« und »M« servirt wurde, lief hinüber zum Herrn Rittmeister, um zu sehen, ob der »Neue« die Lampe angezündet und das Bad ordentlich hergerichtet habe. Und am nächsten Morgen kam er, sich zu überzeugen, wie denn der Kaffee gemacht und die türkische Pfeife gestopft worden war. Einmal da, blieb er auch gleich beim Aufräumen.

Als Brand ihn erblickte, fuhr er ihn an: »Was willst Du hier, närrischer Kerl? Geh’ zu Deiner Frau.«

Aus diesen Worten fühlte Peter die Eifersucht seines Herrn auf seine Herrin heraus, und Thränen traten ihm in die Augen. Die Eifersucht rührte ihn und der »närrische Kerl« auch. Wer besser dran war mit seiner Vernunft, wußte Peter gar gut, respektirte aber die Täuschung, in der der Rittmeister sich über diesen Punkt befand. Möge er nur in ihr fortleben und wenigstens die Freude haben, er, der sonst keine hat.

Um das grausame Lebewohl, das Brand gesprochen hatte, Lügen zu strafen, fand er sich alle Finger lang bei ihm ein und wünschte ihm eine gute, je weilige Tageszeit.

Arbeit gab es »drüben« immer. Der elegante Kammerdiener überließ ihm neidlos die ganze. Seine eigene Thätigkeit beschränkte sich darauf, das Haus durch seine Gegenwart zu schmücken. Aber auch das wurde ihm nach und nach lästig, und eines Abends verschwand er, nachdem er vorher mit seinen wohlgepflegten Händen den Schreibtisch Brands erbrochen und eine reich gefüllte Brieftasche daraus entnommen hatte.

Über diese kurze Majordomus-Epoche im rittmeisterlichen Intérieur wurden nicht viel Worte gemacht. Wie von selbst kam Alles ins alte Geleise. Höchstens, daß Peter früher als sonst die kalte Küche zum Souper holen ging und später als sonst zurückkehrte, wozu Brand regelmäßig bemerkte:

»Bist schon wieder da?«

Einmal fragte er: »Was sagt denn Deine Frau dazu, daß sie Dich so wenig sieht?« Und die Antwort lautete:

»Die sagt niemalen nichts. Die hat eine Kusin, der Ihrer trifft nur alle vier Wochen einmal nach Haus.«

Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid

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