Читать книгу Flucht von der Hudson Bay - Mario Ziltener - Страница 6
ОглавлениеProlog
Eine Kreuzfahrt ist schon immer ein ungewöhnliches Ereignis gewesen. Nicht nur, weil da einige Menschen zusammentrafen, die dies eigentlich gar nicht wollten, es aber auf sich nehmen mussten, sollten sie wirklich ihren Urlaub auf dem Wasser verbringen wollen. Sicher, es gab auch die Möglichkeit sich auf einem Kanal mit einem Hausboot zu vergnügen, aber auch dort war das Gedränge in der Hochsaison und mit ihm die Gefahr einer „Havarie grosse“ sehr gross. Zweitens mussten sich diese Hobbykapitäne selber versorgen. Das heisst der erste Maat hatte dies zu tun - in persona meist die Ehefrau. Sonnenklar, dass die Besatzung des Kahnes meist schon streikte, bevor sie überhaupt angeheuert war. Dennoch, wer es sich leisten konnte in der Hochsaison zu verreisen, war im Dorf ein vielbewunderter Mensch. Nicht zuletzt deswegen waren die Arrangements in dieser Zeit des Jahres gefragt wie nie. Je weiter die Reise führte, je exotischer die Destination, je höher das Ansehen in der Gemeinde. Jeder wollte im Mittelpunkt stehen und tat dafür sehr viel bis nahezu alles. Einige verklemmten sich gar das Feierabendbierchen oder den Kinobesuch, nur um mit einem Ticket in den Urlaub gross angeben zu können. Jene, die keine Entbehrungen über sich ergehen lassen mussten um sich den Urlaub zu leisten, waren diejenigen, die garantiert nicht auffielen. Die auch nicht über den geplanten Urlaub sprachen.
Eddie Palmer war sich sicher, dass eine Kreuzfahrt eher das Richtige sein würde, da Shannon zu Hause erstens nie kochen musste und zweitens würde er es schlicht nicht ertragen drei Wochen nur mit ihr auf einem kleinen Kahn, in Hausboot-Grösse, gefangen zu sein. Lieber ein grosses Schiff, eines auf welchem man im Fitnesscenter die jungen Mitzwanziger beobachten konnte, oder aber an der Bar ein gutes Männergespräch führen. Beinahe war es also schon klar - nur musste er noch Shannon überzeugen und dafür würde er noch Unterlagen, viele Unterlagen, brauchen. Sie wollte immer Bilder sehen, weil sie glaubte, dass es auf einem solchen Schiff dann auch immer genau so auszusehen habe wie im Prospekt.
Gedanken über den Preis machte sich Eddie keine, denn als Besitzer eines internationalen Textilkonzerns, welcher in der ganzen Welt trendige Shops für junge Menschen betrieb, brauchte er sich nicht um Finanzen zu kümmern. Diese waren einfach vorhanden. Auch das Reiseziel stellte kein Problem dar. Er würde einfach seinen gesamten Beraterstab zusammenrufen und ihnen mitteilen, was sie zu tun hatten. Daraufhin würde er sich abmelden - ob für drei Wochen oder ein halbes Jahr, gerade so wie es halt passte. Lediglich zum Abschluss der Buchhaltungsperiode wollte er wieder zurück sein. Denn dann wurde er noch immer gebraucht, sicher auch dieses Jahr wieder. Längstens also standen ihm sieben Monate zur Verfügung. Ganz anständig für eine Reise mit einem Ozeandampfer. Die Schwierigkeit bestand nur noch darin, rechtzeitig für das bevorstehende Nachtessen die Unterlagen zu besorgen. Aber auch dies war kein wirkliches Problem für ihn, hatte er doch ziemlich viel Macht, welche er in solchen Situationen sehr gerne ausspielte. Er streckte sich nach seiner Gegensprechanlage aus, drückte mit seinem viel zu dick geratenen Mittelfinger auf die Sprechtaste, was zu einer überlauten, trommelfellbelastenden Rückkopplung führte, weil er gleich alle drei Tasten auf dem Gerät erwischt hatte und diese sich in der Folge verklemmten. Sein Gesicht verzog sich lustig zu den Schmerzen, und schnell versuchte er das Problem mit dem Pfeifen zu beheben, was aber nicht ganz so einfach war.
»Tammy, kommen Sie bitte mal rüber in mein Büro!«, brüllte er in die Gegensprechanlage und mit einem lauten Knacken im Lautsprecher war ihm klar, dass die Sprechtaste ihre Ruheposition wieder eingenommen hatte.
»Komme sofort!«, lispelte Tammy ins Mikrofon ihrer Gegensprechanlage.
Sie war noch neu in der Firma, unsicher und hatte bemerkt, dass sie auf ihren direkten Vorgesetzten Eddie Palmer eine grosse Wirkung hatte. Obgleich ihr klar war, dass sich diese Wirkung nur auf eine räumlich sehr begrenzte Region auswirkte. Sie konnte, allerdings die Hoffnung auf mehr nicht wirklich verleugnen. Ihr Traum war es einen Liebhaber zu angeln, welcher sie mit Geld versorgte - Geld, welches sie am liebsten für Schuhe und anderen Schnickschnack auszugeben pflegte. Alles Dinge, von denen sie nach getätigtem Kauf wusste, dass sie diese eigentlich gar nicht wirklich gebraucht hätte.
„Mist!“, dachte sie dann jeweils und nahm sich vor, in Zukunft diese Aussetzer des - wie sie es zu nennen pflegte - Konsumhirns tunlichst zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Durch gezieltes Training. Immerhin hatte sie, mit der Anstellung als Direktionssekretärin bei Palmer Clothing Incorporated, ein anständiges Salär, welches sie nicht gleich nach dem ersten Shopping Absturz in Bedrängnis brachte. Tammy war asiatischer Abstammung, beherrschte aber die Sprache ihrer Eltern nicht mehr. Als sie sich von ihrem abgewetzten Bürodrehstuhl erhob und sich in Richtung der Verbindungstüre bewegte, welche den Vorraum von Eddies Büro abtrennte, konnte man den typisch asiatischen Gang erkennen. Kleine, kurze, aber schnelle Schritte, aus den Kniekehlen federnd, einem Känguru ähnlich.
Ohne anzuklopfen drehte sie am Knauf, schob die Türe auf und trat ein.
»Sie haben mich gerufen?«
»Ja, Tammy! Schön, dass Sie sich gleich Zeit nehmen konnten. Ich brauche Ihre Hilfe in einer sehr delikaten Angelegenheit. Weil ich weiss, dass delikate Angelegenheiten bei ihnen bestens aufgehoben sind, habe ich
Sie gerufen.«
»Das ehrt mich aber«, erwiderte sie errötend und fuhr, um dies zu kaschieren, umgehend fort: »Was kann ich für Sie tun, Mr. Palmer?«
»Sie könnten mir einige kleinere Besorgungen machen, solche, die mich entlasten.«
»Und das wären Besorgungen welcher Art?«
»Nichts, was gross oder schwer wäre, sondern ich benötige lediglich Unterlagen aus einem Reisebüro. Unterlagen über Kreuzfahrten in allen Erdteilen. Sehen sie doch mal nach, was die einzelnen Reisebüros so anbieten, oder für welche Agenturen sie Buchungen entgegennehmen.«
»Alles klar - wann soll ich denn dies erledigen?«
»Jetzt gleich! Das klappt schon, Sie werden sehen!«
»Gut, mach ich sofort! Dann wird allerdings der Vertrag, welchen ich bis heute Abend noch hätte vorbereiten sollen, liegen bleiben. Nur dass sie dies gleich von Beginn weg wissen.«
Mit einem leisen Grollen wandte sich Eddie wieder seiner Arbeit zu und liess die verdatterte Tammy einfach im Büro stehen, ohne sie weiter zu beachten. Ein wenig unsicher stand sie noch eine Weile mitten im Raum, sah ihren trotz fortgeschrittenen Alters noch immer gut aussehenden Boss an und wünschte sich insgeheim, dass er ihr wohlhabender Liebhaber wäre. Ein frommer Wunsch, welcher, wie sie vermutete, nicht ohne weiteres zu erfüllen war. An ihr allerdings lag dies wohl nicht. Sie gab sich alle Mühe, ihrem Chef zu zeigen, dass sie bereit war, alles zu tun um an sein Geld heranzukommen. Sie hatte sich vorgenommen, nötigenfalls gar mit ihm zu schlafen, sollte sie die Chance dazu überhaupt bekommen.
Als Tammy bemerkte, wie fehl am Platz sie gerade sein musste, verliess sie Eddies Büro und kramte in ihrem viel zu kleinen Schrank hinter ihrem Drehstuhl nach dem Mantel. Ohne Mantel ging sie niemals auf die Strasse im Winter, auch wenn es nur für zwei Minuten war. Tammy war anfällig auf sämtliche Krankheiten. Im Winter war sie stets erkältet und wenn es Frühling war, litt sie an Heuschnupfen. So gehörten Papiertaschentücher ganzjährig zu ihrer Ausrüstung und waren für Tammy mindestens von gleich grosser Wichtigkeit wie für andere das Abonnement für den Bus zur Arbeit. Tammy zwängte sich in den Mantel aus einer Art Filzstoff, welcher ihr ein wenig zu eng war, vergewisserte sich noch einmal, dass sie auch die Schlüssel zum Büro eingepackt hatte - für den Fall, dass Eddie länger zum Lunch fahren würde, als er dies normalerweise tat. Dann verliess sie das Bürogebäude und stand bei grellem, nichts-desto-trotz winterlichem Sonnenschein auf der Strasse. Wohin sollte sie gehen um die von Eddie Palmer gewünschten Unterlagen mit dem kleinstmöglichen Aufwand zu organisieren? Sie fragte sich, ob es Sinn machte, in die Stadt zu fahren, ganz ins Zentrum und dort bei einem Spaziergang durch die bekannten Ladenstrassen von einem Reisebüro zum anderen zu ziehen. Sie wusste ob der Gefahr der anderen sündhaft teuren Läden und entschloss sich deshalb, noch eine Weile zu überlegen.
Plötzlich fiel es Tammy wie Schuppen von den Augen, dass es am Flughafen Heathrow sicher einige Reisebüros gab, durch welche wiederum Reedereien vertreten waren. So entschied sie sich dazu, mit dem Express-Zug nach Heathrow zu fahren und die Terminals zu durchwandern. Dort gab es wenigstens nicht unbeschränkt viele frei zugängliche Ladenlokale, zweitens waren dort in den Reisebüros sicher nicht so viele Leute anzutreffen und wenn doch, waren diese wohl nur gerade dabei, ihre Tickets abzuholen oder liessen sich zu Hause vergessene Gutscheine im Duplikat ausstellen. Alles in allem also eine sehr gute Idee. Ferner kannte Tammy den Flughafen Heathrow nur vom Hörensagen. Wenn sie jeweils nach Asien verreiste, dann tat sie dies immer vom Flughafen Gatwick aus. Gatwick hatte früher den Ruf, ein reines Touristenabfertigungszentrum zu sein. Geschäftsleute versuchten, wenn immer möglich, diesen Flughafen zu meiden. War nicht gut für das Image einer Person oder der Firma. Meist allerdings drehte es sich um beides in einem. Tammy konnte sich also wichtig fühlen, so tun, als ob sie sich selber in wichtiger Mission am Flughafen befand. Anderen vorspielen, dass sie gerade von einem wichtigen Business Meeting aus den Vereinigten Staaten kam. In der Schule hatte sie immer an den Theaterprojekten mitgewirkt und dort immer Bestnoten erreicht. Eine heimliche Leidenschaft also, die sie gerade in diesem Moment wieder befriedigen konnte. Glaubwürdigkeit hin oder her, Hauptsache war, dass sie Spass hatte an diesem
Nachmittag, welchen sie mit einer Spezialaufgabe des Chefs verbringen würde.
Die Strasse hinunter bis zum Bahnhof ging Tammy zu Fuss, schlenderte, trat hin und wieder nach leeren Getränkedosen, welche sich auf dem Bürgersteig fanden, hüpfte, oder stimmte ein kleines Liedchen an, genauso wie früher, als sie draussen gespielt hatte, oder so wie damals, als sie noch mit Grossvater einkaufen ging. Das war schon eine Weile her. Vorgestern wurde sie dreiundzwanzig Jahre alt, damit waren die Zeiten, in denen man sich wie ein Kind benehmen durfte, seit mindestens fünf Jahren vorbei. Schade eigentlich. Ehe sie sich versah, hatte sie den Bahnhof erreicht und indem sie ihren Oberkörper scharf nach links neigte, bog sie ins Gewühl ein, welches ganz egal zu welcher Tageszeit in diesem Bahnhof Londons herrschte. Hier kamen sie alle durch, die tüchtigen Geschäftsherren, welche in den Vororten zu wohnen pflegten und in der Stadt arbeiteten, die Bettler, Penner und Verlierer, die Stadtstreicher und die modernen, selbstbewussten Frauen. Dieser Bahnhof war, wenn man sich einmal Gedanken darüber machte, der Nabel der Millionenmetropole. Ging hier nichts mehr, dann ging auch in der ganzen Stadt nichts mehr, war er doch ein Knotenpunkt für die Vororts- und Untergrundbahnen, genauso wie wichtiger Umsteigebahnhof im nationalen wie auch internationalen Bahnverkehr. Nicht nur Nabel der Stadt, sondern - zusammen mit Heathrow und natürlich Gatwick - Nabel des ganzen Landes.
Mit durchgestrecktem Rücken, der Brust wichtig herausgestreckt und hohlem Kreuz stach Tammy zielstrebig durch die Halle, machte sich ein Spiel daraus niemandem auszuweichen, die Bettler und Stadtstreicher gutmütig anzulächeln, wenn diese sie um ein wenig Kleingeld fragten. Die Fahrkarte wollte sie an einem Automaten kaufen, danach machte sie noch einen kurzen Stopp in einem der Läden, die alles für die Reise verkauften, um dort ein Sandwich und ein Getränk zu erstehen. In diesem Laden ging alles wortlos und arrogant über die Bühne, Tammy aber schien dies nicht im Geringsten zu stören, denn sonst hätte sie sich bemüht, mit der Kassiererin ins Gespräch zu kommen, oder wenigstens freundlich zu sein. Es war ihr aber mehr als nur recht, nicht sprechen zu müssen. Sie glaubte, das gehöre zum Spiel, welches sie spielen wollte - arrogant und eingebildet zu sein. Tammy schien zu vergessen, dass nicht alle wichtigen Personen wirklich hochnäsig und arrogant, geschweige denn frech und verachtend waren. Aus dem Geschäft für Reisezubehör direkt auf den Bahnsteig und von dort auf den Zug - die sonst übliche Reiselektüre vergessend. Tammy war, wie immer, sehr gut angezogen - für ihren Job eher zu gut. Für ihr Spiel allerdings gerade gut genug.
Sie bestieg den Zug durch einen Wagen der ersten Klasse, schlich sich dann aber von da aus in die zweite Klasse, hoffte, dass sie nicht entdeckt werden würde, denn die gewählte Klasse entsprach nicht ihrer Kleidung und das wäre ihr mehr als peinlich gewesen.
Verständlich. Gleich im ersten Waggon der zweiten Klasse liess sie sich ein wenig versteckt in einer Ecke nieder und streckte ihren Kopf sofort in das Magazin, welches in einem Halter aus Acrylglas auf einen Leser oder eine Leserin gewartet hatte. Mit diesem geschickten Schachzug sicherte sich Tammy auch die Gewissheit, dass sie von niemanden in ein Gespräch verwickelt werden würde. Der Zug setzte sich mit einem leisen, beinahe unmerklichen Ruck in Bewegung. Pünktlich wie immer. Noch immer strömten Leute durch den Waggon mit Sack und Pack nach einem Platz suchend, welcher gross genug war, um mindestens einen Koffer und seinen Besitzer aufzunehmen. Noch war Tammy die einzige in ihrem Abteil und sie hoffte inbrünstig, dass dies auch so bleiben würde. Nach einigen wenigen Seiten schon bemerkte Tammy, wie langweilig das Hochglanzmagazin eigentlich war und so legte sie es beiseite, nicht aber in den dafür vorgesehenen Halter, sie warf es auf die ihr gegenüberliegende Sitzbank. Noch dauerte die Fahrt zwanzig Minuten, zwanzig lange, öde und monoton rumpelnde Bahnminuten. Sie presste ihre Nase an die Fensterscheibe, welche übel roch, sich schmierig anfühlte, mit einem dünnen Film menschlicher Ausdünstungen behaftet war und stetig leise vibrierte. An ihr vorbei flogen die ersten Vororte Londons, Strassen, Parks und Reihenhäuser. Die typischen Reihenhäuser aus Englands Zeit der Industrialisierung. Backsteine und die gängige grau-schwarze Färbung derselben. Nicht im Geringsten aufregend hätte Tammy die Szenerie in einem Aufsatz beschrieben.
»Tickets vorweisen, bitte!«, durchdrang die tiefe und klare Stimme des Schaffners ihre Gedanken und kaum war das Wort ‘Tickets’ verklungen, hob sich der Geräuschpegel im Waggon merklich an. Von allen Seiten her raschelte es, einige stritten sich darüber, wer jetzt wohl im Besitze der Tickets war, wieder andere schauten sich fragend an - weil sie, vermutlich, gar kein Ticket hatten oder aber nichts verstanden hatten.
»Nächster und einziger Halt: London Heathrow!«, schmetterte die Bass-Stimme des Schaffners die letzten Informationen den Mittelgang des Waggons hinunter. Als ob sich jetzt noch jemand zum Aussteigen hätte entscheiden können. Vorstellbar aber auch, dass diese Informationen jenen Fahrgästen galt, welche über ein sehr kleines und sehr schlechtes Kurzzeitgedächtnis verfügten.
So gesehen konnte man dieser wohl etwas verspäteten Information dennoch etwas Gutes abgewinnen. Ein weiterer Blick zur Uhr. Noch einmal zehn Minuten. Durch das Fenster waren bereits die grossen Werfthallen zu sehen, hin und wieder die Heckflosse eines Flugzeuges, manchmal aber auch lediglich die Scheinwerfer, welche eine lustige Lichterkette bildeten. Wie eine Treppe, aus der letzten Flughöhe langsam auf die Landepiste absinkend. Wie der Zug, stetig und unaufhaltsam. Ein Knacken in den Lautsprechern des Zuges kündigte die Ankunft in Heathrow an. Über ein unpersönliches Tonband bedankte sich die Besatzung des Zuges für das Vertrauen und die Wahl der Bahngesellschaft für die Reisen zum Flughafen. Bei der vierten Version hörte Tammy auf mitzuzählen. Die Bremsen heulten stählern auf und mit einem Holpern begann der Zug abzubremsen, erst sanft, dann brüsk und ruckartig. Bereits standen alle Mitreisenden im Mittelgang, die Abteile mit schweren Hartschalenkoffern verstellt. Tammy musste also warten oder frech und rücksichtslos sein und sich vordrängen. Für einmal entschied sie sich, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und zu warten, bis sie ohne Probleme das Abteil und den Waggon verlassen konnte. Schliesslich hatte sie ja Zeit, hatte keinen Flug zu erwischen und, das war das Beste an der ganzen Sache, ihre Zeit wurde bezahlt. Nicht, dass sie arbeitsscheu gewesen wäre, aber so etwas einmal im Monat zu machen passte ihr schon. Was sie allerdings nie getan hätte, wäre für ihren Boss Kaffee zu kochen, dies liess ihr Stolz nicht zu. Sie war gelernte Sekretärin und nicht Kellnerin. Eddie hatte dies gleich am ersten Tag begriffen, als es zum ersten kleinen Eklat gekommen war. Er hatte sich furchtbar darüber aufgeregt, sich dann aber auch sehr schnell wieder erholt und die ganze Geschichte gleich schnell wieder vergessen, wie er sich darüber enerviert hatte. Die erste sich bildende Lücke in der Schlange nutzte Tammy um sich aus dem Waggon zu zwängen. Mit einem kleinen Slalomlauf gelang es ihr sich vorzudrängen, allerdings ohne böses Blut und hitzige Wortgefechte hervorzurufen. Das nachmittägliche Gedränge im Terminalgebäude hielt sich noch in Grenzen.
Als mühsam empfand Tammy nur die kleinen Staus vor den Rolltreppen. Vorbei an den Sicherheitsbeamten, welche überall standen, und dann mit den Augen das Terminal nach Leuchtschriften von Reisebüros scannend. Ein solches zu finden war an und für sich gar nicht schwierig, bloss eines zu finden, welches neben Flugreisen auch Kreuzfahrten anbot, gestaltete sich ungleich schwieriger.
»Guten Tag, die Damen. Ich suche Unterlagen über Kreuzfahrten«, meldete Tammy ihr Bedürfnis an und wartete gespannt auf die Reaktion der anwesenden Reiseberaterinnen.
»Kreuzfahrten? An einem Flughafen? Das ist ja beinahe, wie wenn Sie bei einem Metzger Früchte verlangen!«, kam es zurück. Die Reiseberaterinnen lachten schallend, kurz nur, wandten sich sofort wieder der Arbeit zu und verstummten. Tastengeklimper und nervös auf dem Fussboden scharrende Füsse.
»Ihrem Verhalten nach nehme ich zur Kenntnis, dass sie mich nicht bedienen wollen. Dann könnten sie dies zumindest sagen. Ich werde sicher die nötigen Empfehlungen betreffend ihres Reisebüros bei den wichtigen Stellen bei Palmer Clothing Incorporated abgeben. Dann können sie sicher sein, dass wir sie in Zukunft nicht mehr mit Arbeit belästigen werden!«
Mehr brauchte Tammy gar nicht zu sagen, um die Stimmung unter den auf Provision arbeitenden Damen um mindestens neunzig Grad zu drehen. Doch noch bevor diese auf die Tränendüsen drücken konnten, hatte Tammy das Büro wieder verlassen. So etwas war ihr nun wirklich noch nie widerfahren, obwohl sie in den letzten Jahren, bei anderen Arbeitgebern, sehr oft mit Reisebüros zu tun gehabt hatte. Sie wandelte ganz gemächlich weiter, die grossen Hallen hinunter und wieder herauf, rein und raus aus den Reisebüros. Der Nachmittag verging immer schneller und gegen vier Uhr hatte sie einen ganzen Packen Unterlagen zusammen. Dünne und dickere Prospekte waren da dabei, besser und weniger gut bebilderte Exemplare ebenfalls. Sie machte sich wieder auf den Weg in das Bahnterminal um zurück in die Stadt zu fahren, wo sie noch vor Feierabend die besorgten Unterlagen abzuliefern hatte. Stolz auf ihre Leistung bestieg sie den Zug und spürte die Müdigkeit in den Knochen, schliesslich war sie es nicht gewohnt solch weite Distanzen wie heute zurückzulegen. Sonst sass sie ja auf dem bequemen Sessel in Eddies Vorzimmer und mit jenem konnte man an jede nur erdenkliche Position hin rollen. Ganz ohne Kraft und ohne sich erheben zu müssen.
Eddie war unruhig. Er hätte am liebsten gleich jetzt schon alle seine Kaderleute über seinen geplanten Urlaub informiert, wusste aber, dass der Zeitpunkt noch nicht der Richtige war. Er würde warten müssen, bis erstens Shannon ihre Zustimmung zum Projekt „Kreuzfahrt“ gegeben hatte, (denn ohne diese wäre eine Durchführung hoffnungslos) und zweitens darauf, dass Tammy wirklich die richtigen Unterlagen besorgt hatte. Nach deren Studium würde er sich entscheiden, ob, wohin die Reise führen würde und vor allem wann die Urlaubswochen stattfinden würden. Er sass wie auf Nadeln. Dies war sonst gar nicht seine Art, aus der Ruhe zu kommen. Es klopfte an die Tür.
»Eintreten, wenn Sie in guter Absicht gekommen sind!«, rief er und legte die Akte, welche er gerade studiert hatte, beiseite.
Die Türe öffnete sich und Tammy trat ein, mit dem Stapel der besorgten Unterlagen unter dem Arm.
»Hallo Tammy, schön Sie zurück zu wissen. Jetzt kann ich beruhigt den Überzeugungsversuch vorbereiten.«
»Hat aber auch Nerven gekosten!«
»Das werden Sie sicher verkraften können, so jung und hübsch wie Sie sind!«
»Sicher schon, aber die zwanzig Pfund Sterling, die ich für die Bahnfahrt ausgegeben habe, die verkrafte ich nicht einfach nur so, weil ich jung und hübsch bin!«
Leise knurrend hob Eddie seinen Veston auf Brusthöhe ein wenig an und klaubte mit einem sicheren Griff seine Brieftasche hervor, zwängte Zeigefinger und Daumen in das Notenfach, klemmte zwischen seinen Fingern einen Zwanzig-Pfund-Schein fest und zog diese heraus. Noch heute tat es ihm weh, wenn er sich von Banknoten trennen musste. Ein Phänomen, welches ihn seit seiner Kindheit begleitet hatte. Zu Geld an und für sich hatte Eddie mittlerweile keinen Bezug mehr, sein Vermögen hatte sich in den Jahren konstant immer und immer wieder vergrössert. Geld ausgeben machte ihm sogar Spass. Lediglich wenn es um Bargeld, vor allem aber Banknoten, ging, dann schmerzte es.
»Hier sind zwanzig Pfund! Ist schon richtig, dass Sie sich wehren, wenn ich so etwas einmal vergesse. Das kann es in meinem Alter schon mal geben.«
»Macht nichts, Herr Palmer, Hauptsache ist doch, dass meine Auslagen gedeckt sind. Sonst nichts.«
»Ja, sonst nichts. Auch keine Gehaltserhöhung zu Weihnachten? Das ist ja schön, so kann ich mir bereits wieder einen Termin streichen!«
»Das ist sicher ein Scherz!«, schmunzelte Tammy amüsiert und verliess den Raum.
Hätte Eddie sie von vorne sehen können, hätte er gemerkt, dass sie ein wenig gekränkt war. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben nach dieser kleinen, aber nicht unwichtigen Unterredung. Sie schwor sich aber, keine Miene zu verziehen und niemandem die Möglichkeit zu geben ihre Schmach zu entdecken. Sie fürchtete sich davor, ausgelacht zu werden. Die anderen mochten dies sehr, Tammy auszulachen. Sie machten hin und wieder verletzende Sprüche darüber, wie Tammy sich gegenüber ihren Vorgesetzten verhielt. Dazu noch so, dass Tammy sie hören musste: im Fahrstuhl, auf der Toilette. Immer in der richtigen Lautstärke. Manchmal fühlte sich Tammy am falschen Ort, ausgegrenzt und ohne wirkliche Freunde am Arbeitsplatz. Gerade jetzt überlegte sie sich einmal mehr, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn sie sich nach einem neuen Arbeitsplatz umsehen würde. Allerdings wäre dann auch Eddie unerreichbar weit weg. Ein für alle Mal. Es wäre ohnehin besser und nervenschonender. Manchmal hatte Tammy das Gefühl, dass die anderen sie beneideten, obwohl es dafür keinerlei Anlass gab. Sie war nicht besser als die anderen und auch Eddie hatte kein anderes Verhältnis zu ihr als zu den anderen auch.
Sie beschloss, die Sache einfach ruhen zu lassen und den Tag abzubrechen, nach Hause zu fahren und sich zu erholen. Morgen würde die Angelegenheit wieder vergessen und die Welt wieder in Ordnung sein. Nur Kaffee würde sie Eddie nicht bringen, auch morgen nicht.
***
Der Aufbruch war kein stiller, traf Tammy beim Aufzug doch auf Eddie, welcher sich gerade bei ihr entschuldigen wollte, doch die Lifttüren liessen ihm keine Zeit dazu. Sie öffneten sich und schliesslich brauchte ja auch nicht jeder zu wissen, was vorgefallen war. Also wollte er sich erst versichern, wirklich ungestört mit Tammy reden zu können, bevor er zu reden begann.
»Ich möchte mich entschuldigen, Tammy, und die Sache von vorhin wieder in Ordnung bringen, wenn ich dies irgendwie kann!«
»Kann ich gut verstehen. So etwas kann einen ganz schön plagen. Aber es ist auch schön zu sehen, dass sogar mein Chef ein schlechtes Gewissen haben kann.«
»Das habe ich tatsächlich. Wie gesagt, ich möchte es wirklich wieder gut machen, wenn ich nur wüsste wie!«
»Da gäbe es doch so vieles, an was Frauen wie ich Freude haben könnten. Nur braucht es dafür ein wenig Fantasie.«
»Fantasie, ja...soll ich mir mal das mit der Gehaltserhöhung noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«
»Das könnte durchaus einen gewissensberuhigenden Effekt haben.«
»Also, sprechen wir morgen weiter darüber. Ich werde mir schon noch etwas einfallen lassen. So wahr ich Palmer heisse!«
Der Aufzug hatte das Erdgeschoss erreicht und Eddie stürmte aus der Kabine, murmelte noch etwas wie ,Einen schönen Abend noch‘, dann war er auch schon aus Tammys Blickfeld verschwunden. Aktenkoffer in der einen Hand, die Reisekataloge unter den rechten Arm geklemmt. Eddie war immer in Eile, wenn sein
Chauffeur auf ihn wartete. Eigentlich wartete der jeden Tag den ganzen Tag auf Eddie, denn dafür war er ja eingestellt worden. Manchmal hatte er auch spezielle Aufgaben. Kurierfahrten etwa. Befohlene Ruhezeit, nannte er es, wenn er den Wagen zu waschen hatte. Nicht weil er dann rumgesessen hätte, sondern weil er den Wagen ausschliesslich in seiner Mittagszeit wusch, denn ausserhalb der Mittagszeit hätte Eddie ja jederzeit sein Fahrzeug brauchen können. Mit einem halbfertig gewaschenen Rolls Royce auf Londons Strassen unterwegs zu sein, wäre beinahe ebenso unmöglich, wie wenn man versuchen würde, sich den Glöckner von Notre Dame ohne einen Buckel vorzustellen. So ähnlich mindestens.
Tammy schlenderte den Fassaden der ultramodern gebauten Geschäftshäuser entlang, welche eine unsichtbare Hitzewelle abstrahlten und in regelmässigen Abständen die Abluft der Klimaanlagen auf den Bürgersteig bliesen. Abluft, angereichert mit Papierstaub, Erfolg, Existenztragödien und Schweiss. Ein ekliger Gedanke. Tammy stellte sich vor, wie sie nach dem Passieren eines solchen Abluftauslasses behaftet war, mit den Gerüchen fremder Menschen. Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte und auch nichts im Geringsten mit ihnen zu tun haben wollte. Wenn sie sich aber tiefergehende Gedanken darüber machte, was aus solchen Abluftschächten und Kanälen alles zu erfahren sein müsste, dann wurde es wieder interessant.
Sie näherte sich ihrer U-Bahn-Station, Baker Street, welche allabendlich die Menschenmassen verschluckte. So sah das wirklich aus: Wenn man auf der gegenüberliegenden Strassenseite im Schnellimbiss sass und hinüber schaute, dann verschwand der Strom aus in Anzügen steckenden Geschäftsleuten urplötzlich im Boden. Exakt an jener Stelle, an welcher die Rolltreppe die gestressten Glieder der Banker, die strapazierten Muskeln der Feuerwehrmänner oder die mit Laufmaschen bestückten Sekretärinnen Beine in den Untergrund zog. Wie von Geisterhand. Tammy stellte sich auf die Rolltreppe und liess sich in den Untergrund fahren, wo sie erstmals einen Blick auf die Tabelle mit den Abfahrtszeiten warf. Obwohl sie seit rund einem halben Jahr die Strecke mit dieser Untergrundbahnlinie fuhr, konnte sie sich deren Abfahrtszeiten nicht merken. Einige glaubte sie jeweils zu wissen, war dann aber doch meist unsicher und kontrollierte die Abfahrtszeiten sicherheitshalber noch einmal, bevor sie sich aufs Perron stellte. Die Fahrt von Baker Street nach Hornchurch dauerte jeweils rund fünfundvierzig Minuten, viel Zeit um Menschen zu studieren, oder in einem Buch zu lesen. Manchmal war ihr Begleiter auch eine Tageszeitung. Dies nur dann, wenn sie in Hornchurch einem der Zeitungsverkäufer begegnete, welche jeweils früh morgens ihre Zeitungen schreiend unter die Leute brachten, oder aber sie konnte sich eine bereits zerlesene Zeitung in der U-Bahn ergattern.
Der Zug preschte in die Station, und ein warmer, muffiger Luftzug ging ihm voraus. Der Kampf um die
Sitzplätze war wieder einmal eröffnet. Strategie war gefragt. Richtige Position erkämpfen, noch bevor der Zug anhielt, dann noch ein wenig korrigieren, vorsichtig, aber bestimmt. Mit einem Zischen, verursacht durch die entweichende Druckluft, öffneten sich die Türen und dann schob sich die auf dem Perron wartende Menschenwand auf die schmalen Türen zu. Erstaunlich zu sehen, wie die Nadelstreifengilde innert weniger Sekunden zu brutal kämpfenden Monstern wurde, nur deswegen, weil sie einen einzelnen Sitz erkämpfen wollten, was es ohnehin nur ganz vereinzelt gab. Die Fahrt verlief an diesem Abend absolut unspektakulär und Tammy war müde. Schon nach einigen wenigen Stationen, auf der Höhe von Liverpool Street Station, schlief sie tief und fest. Kurz vor Hornchurch erwachte sie wieder, so wie immer. Sie hatte dies bereits im Blut, ihr Körper wusste genau, wann Zeit zum Erwachen war. Der erlösende Schritt aus der Untergrundbahn und danach vor allem aus der Station hinaus war ein lang ersehnter Moment. Frische Luft und endlich: Feierabend.