Читать книгу Liebe ist kein Spiel/Wer von Liebe träumt - Marion Chesney - Страница 7
Erstes Kapitel
ОглавлениеDer Regen trommelte auf das Dach und gluckerte in den bleiernen Dachrinnen. Auf dem Rasen bildeten sich kleine Seen, und die Auffahrt, die zum Eingang von »The Elms« führte, hatte der Regen in einen Morast verwandelt. Der Regen strömte über die beschlagenen Fenster des Salons und kam in dicken, rußigen Tropfen, die auf das Feuer spritzten, den Kamin herunter.
»Wird es denn nie mehr aufhören zu regnen?« seufzte Mary Anstey und ließ ihr Nähzeug sinken. »Es regnet jetzt schon seit Wochen.«
»Erst seit einer Woche, Mary«, sagte ihre Schwester Emily. »Du machst dir Sorgen, daß der Zustand der Straßen ihn davon abhalten könnte zu kommen?«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete Mary langsam. »Ich glaube, es ist das Wetter, das mich so unruhig macht. Es ist zehn Jahre her, seit ich Captain Tracey zuletzt gesehen habe. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Jetzt ist er ein Graf. Es will mir nicht in den Kopf! Mein Peregrine der Earl of Devenham. Manchmal fürchte ich, einem Fremden gegenüberzustehen.«
»Er wird wie früher sein«, meinte Emily beherzt. »Er hat all die Jahre genauso auf dich gewartet wie du auf ihn.«
Mary stieß einen leisen Seufzer aus und beugte sich wieder über ihre Näharbeit. Sie und Emily sahen einander trotz ihres Altersunterschieds – Mary war neunundzwanzig und Emily neunzehn – bemerkenswert ähnlich. Obwohl Emily eine lebhafte blonde Schönheit war, Mary dagegen ernst, still und braunhaarig, konnte man sie leicht für Zwillinge halten. Die Jahre scheinen spurlos an Mary vorübergegangen zu sein, dachte Emily voll liebevoller Zuneigung. Ihr Gesicht ist immer noch jung und zart und frisch. Vor zehn Jahren hatte Captain Peregrine Tracey um die Hand von Mary Anstey angehalten, aber ihre Eltern hatten ihr nicht erlaubt, einen mittellosen Captain zu heiraten.
Mr. und Mrs. Anstey waren nett, heiter und überaus gewöhnlich. Sie stammten aus bescheidenen Verhältnissen. Mr. Anstey hatte sein Geld in der Londoner City als Kaufmann gemacht und sich früh genug auf das Land zurückgezogen, um sein Vermögen noch genießen zu können und »den Geruch nach Arbeit« loszuwerden. Er strebte danach, ein Landedelmann zu werden, aber es gelang ihm weder, sich in das Landleben einzufügen noch ein Edelmann zu werden, da er ein aufdringlicher, unfeiner Ellenbogenmensch war. Seine Frau stand ihm genauso unfein und unempfindlich zur Seite. Glücklicherweise hatten ihre Töchter das dicke Fell der Eltern nicht geerbt, aber sie fanden es oft schwer erträglich, mit ansehen zu müssen, wie hochnäsig ihre Eltern von den Adelsfamilien der Grafschaft behandelt wurden. Sie selbst hatten keine Freundinnen, da es ihnen nicht erlaubt war, mit der Kaufmannsklasse zu verkehren, und sich andererseits sowohl der niedere als auch der höhere Adel von ihnen fernhielt.
Solange Emily zurückdenken konnte, hatte Mary auf die Ankunft des Briefträgers gewartet. Am Anfang hatte Mrs. Anstey alle Briefe von Captain Tracey beschlagnahmt, aber als die Jahre ins Land gingen und Mary unverheiratet blieb, erlaubte sie ihr, sie entgegenzunehmen.
Emily hatte ein paar lesen dürfen. Sie machten auf sie sämtlich einen kalten und formellen Eindruck, und da Captain Tracey auf der Pyrenäenhalbinsel diente, enthielten sie hauptsächlich Beschreibungen der spanischen Landschaft. Sie wunderte sich insgeheim über Marys Zuneigung zu einem Mann, den sie für einen kalten Fisch hielt. Sie fragte sich auch, ob Mary sich darüber im klaren war, wie sehr der Pfarrer, Hochwürden Peter Cummings, in sie verliebt war.
Als Mr. und Mrs. Anstey die Nachricht erhielten, daß der verschmähte Captain einen Grafentitel geerbt hatte, kannte ihre Freude keine Grenzen, und natürlich schrieben sie dem neuen Grafen eigenhändig und versicherten ihm, daß er herzlich willkommen sei. Er antwortete ihnen, nicht Mary, daß er im November kommen und sehr dankbar sein würde, wenn die Hochzeit unmittelbar danach stattfinden könnte.
Für die junge Emily war das eine bittere und deutliche Lehre, wie es in der Welt zugeht. Die ganze Grafschaft hatte die Einladung zur Hochzeit angenommen, weil Mary einen Grafen heiraten sollte. Emily konnte nicht verstehen, wie ihre Eltern es ertragen konnten, alle die Leute einzuladen, die ihnen bisher so erbarmungslos die kalte Schulter gezeigt hatten, aber Mr. und Mrs. Anstey fühlten sich dank des gesellschaftlichen Erfolgs ihrer Tochter derart in Hochstimmung, daß sie sich durch so kleinliche Überlegungen nicht aus der Ruhe bringen ließen.
Der Graf sollte am nächsten Tag eintreffen, die Hochzeit in der Woche darauf stattfinden. Emily fand es schwierig, Marys Darstellung des schüchternen jungen Captains, der ihr vor zehn Jahren den Hof gemacht hatte, mit den kühlen, selbstherrlichen, förmlichen Briefen, die er geschrieben hatte, in Einklang zu bringen. Aber man mußte bedenken, daß schließlich alle ein recht hochtrabendes, gestelztes Englisch schrieben.
Mrs. Anstey kam in geschäftiger Eile herein. Sie war eine kleine, dicke Frau, deren unzufriedenes Gesicht noch schwache Spuren ihrer einstigen Schönheit aufwies. Sie trug eine gestärkte Musselinhaube, deren sämtliche Ecken so abstanden, daß es aussah, als hätte die Wäscherin der Haube einen Schrecken eingejagt, von dem sie sich nicht mehr erholt hatte. Bevor die Nachricht vom Aufstieg des Captains in den Hochadel eingetroffen war, hatte Mrs. Anstey die Neigung gehabt, ihre sanfte älteste Tochter mit laut vorgebrachten Bemerkungen der Art zu drangsalieren, daß es eine Schande sei, ein altes Mädchen in der Familie zu haben, und daß Gott verhüten möge, daß es Emily auch einmal so erginge.
Nun hatte sie sich zu einer liebevollen und in ihre Tochter geradezu vernarrten Mutter gewandelt. Sie ging auf Zehenspitzen um Mary herum, wie man es bei einer Kranken macht, und sprach sie demütig flüsternd, statt wie sonst mit vulgär schriller Stimme, an.
An solchen Tagen sehnte sich Emily danach herauszufinden, daß sie und Mary adoptiert worden waren, da sie ganz bestimmt nicht von solchen Eltern stammen konnten. Aber sie brauchte nur einen Blick auf das Porträt ihrer Mutter über dem Kamin zu werfen, um sich davon zu überzeugen, daß Mrs. Anstey, die als junge Braut abgebildet war, ebenso schön wie ihre beiden Töchter gewesen war, bevor Übergewicht und Unzufriedenheit ihre Gesichtszüge entstellt hatten.
»Wenigstens gibt es nichts, dessen wir uns schämen müßten«, sagte Mrs. Anstey und ließ sich schwer auf das Sofa fallen. »Der Graf wird feststellen, daß bei uns alles vom Feinsten ist.« Sie ließ ihren Blick selbstzufrieden über den Salon schweifen, während sie sprach. Emily folgte ihrem Blick und seufzte. In ihrem Haus wurde ständig alles verändert. Es gab keine bequemen alten Möbel, nicht ein einziges Möbelstück stammte aus den Tagen ihrer Kindheit. Erst im letzten Frühjahr waren alle Möbel auf den Rasen hinausgeschleppt und verbrannt worden, einschließlich eines hübschen Hepplewhite-Schreibpults, das Mary so geliebt hatte.
Im Moment war alles in ägyptischem Stil gehalten, eine Mode, die einige Zeit die Londoner Salons beherrscht hatte und jetzt schnell an Beliebtheit verlor. Emily überlegte, daß es kaum ein Möbelstück gab, auf dem nicht ein Sphinxkopf thronte. Sphinxköpfe schmückten die Tische und Stühle, und gläserne Sphinxköpfe glitzerten auf den Stützpfeilern des Kaminsimses.
»The Elms« war ein großes, quaderförmiges Haus, das sorgfältig von Efeu oder anderen Rankengewächsen freigehalten wurde, die das kräftige Rot seiner Ziegelmauern etwas gemildert hätten. Es lag ein Stück weg von der Straße, die vom Dorf Malden Grand in Richtung London führte. Vorher hatte das Haus Squire Haband gehört, einem Mann, an den man sich voller Zuneigung erinnerte. Die Ansteys waren dem Squire nie begegnet, da er ein paar Monate, bevor Mr. Anstey das Haus kaufte, gestorben war. Emily stellte ihn sich manchmal als vergnügten John Bull mit rosiger Gesichtsfarbe vor, da sie ja nicht wissen konnte, daß Squire Haband zu seinen Lebzeiten ein höchst unangenehmer und unbeliebter Mann gewesen war. Seine Standesgenossen gedachten seiner nur deshalb liebevoll, weil sie den neureichen Ansteys auf diese Weise zeigen konnten, daß diese nicht zu ihnen gehörten.
Mary sollte in der Dorfkirche heiraten. Die Ansteys waren Freikirchler gewesen, aber nach ihrem Umzug aufs Land wieder in die Staatskirche eingetreten, da Mrs. Anstey darauf bestanden hatte, daß die anglikanische Kirche vornehmer sei.
Es hatte ein paar junge Männer der Gesellschaft gegeben, die sich von der Schönheit der Anstey-Mädchen angezogen fühlten, ganz zu schweigen von ihrer Mitgift, aber deren Eltern hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um jede Romanze schon im Keim zu ersticken. Denn je mehr Mr. und Mrs. Anstey sich nach sozialer Anerkennung sehnten, desto entschlossener wurde der Adel der Grafschaft, sie ihnen zu verweigern.
Natürlich nur bis zur Ankündigung der bevorstehenden Hochzeit Marys mit dem Grafen von Devenham.
Mr. Anstey kam ebenfalls in den Salon und setzte sich zu seiner Frau auf das Sofa. Er war so dünn und mager wie seine Frau dick. Seine Kleidung hielt er für den letzten Schrei. Aber der Kragen war zu hoch, die Weste zu kurz, und unter seinem sorgfältig gekämmten, pomadisierten und mit der Brennschere gekräuselten Haar war deutlich seine rosa Glatze zu erkennen.
»Das hätten wir«, sagte er und rieb sich die Hände. »Ich hab’ noch einmal zwei Lakaien eingestellt. Seine Lordschaft soll nicht feststellen müssen, daß es uns an irgend etwas zu einem bequemen und eleganten Lebensstil fehlt.«
Emily blickte ihren Vater neugierig an. »Wird es dir nicht ein bißchen peinlich sein, Papa, einem Herrn gegenüberzustehen, den du als unpassend empfunden hast, als er Mary damals einen Heiratsantrag machte?«
»Nein«, antwortete ihr Vater in aller Unschuld. »Warum sollte es mir peinlich sein? Er war schließlich damals unpassend. Jetzt ist er es nicht mehr.«
»Kann man nicht die Leute um ihrer selbst willen statt um ihrer Stellung willen mögen, Papa?« fuhr Emily hartnäckig fort.
Mr. Anstey zog die Stirn in Falten und dachte über die Frage nach. »Nein«, sagte er schließlich. »Das tut niemand. Es ist nun einmal nicht üblich.«
»Mr. Cummings denkt nicht so«, sagte Mary leise.
»Oh, das liegt an seinem Beruf«, meinte Mrs. Anstey unsicher.
Emily hatte das Gefühl, daß sie aus dem Raum fliehen müsse. Nichts war ihr mehr vertraut, das Mobiliar war so aufreizend neu. Sogar das Porträt ihrer Mutter war erst vor kurzem restauriert worden, und der riesige Spiegel an der Wand gegenüber dem Fenster verdoppelte all die funkelnagelneuen Einrichtungsgegenstände noch.
Eine Entschuldigung murmelnd, begab sie sich in die Bibliothek an der Rückseite der Halle. Aber selbst dieser Raum sah so aus, als wären die Handwerker eben erst fertig geworden und hinausgegangen. Die Buchreihen, die man beim Buchhändler meterweise gekauft hatte, glänzten in ihren goldbedruckten Kalbsledereinbänden hinter den glitzernden Glastüren der neuen Bücherschränke. Auf einer polierten Tischplatte lagen fein säuberlich gestapelt neue Zeitschriften mit hochglänzenden Titelblättern.
Emily setzte sich auf einen der neuen roßhaargepolsterten Stühle, stützte das Kinn auf die Hand und dachte scharf nach.
Zunächst war ihr die Rückkehr von Marys Verehrer sehr aufregend vorgekommen. Wie eine Romanze, die Wirklichkeit wird. Hatte sie nicht unter gefühlvollen Seufzern die Geschichte gelesen, wie der große Herzog von Wellington schließlich die Liebe seines Lebens, Kitty Packenham, so viele Jahre, nachdem sein erster Antrag abgewiesen worden war, geheiratet hatte?
Vielleicht war es das unaufhörliche Trommeln des Regens, das plötzlich dieses Gefühl einer bösen Vorahnung bewirkte. Emily liebte und bewunderte ihre ältere Schwester, aber sie hatte häufig das Gefühl, daß Mary einem hilflosen Kind in einer rauhen Welt glich. Übersensibel wie sie war, litt Mary oft schwer an den Kränkungen und Zurückweisungen, die ihre Eltern hinnehmen mußten. Emily war eher in der Lage, sie abzuschütteln, sie verachtete das Gehabe der sogenannten feinen Gesellschaft.
In einem Punkt war Mary allerdings unnachgiebig geblieben: Sie hatte sich wiederholt und entschieden gegen eine Saison in London gewehrt. Im nächsten April sollte nun Emily in die Gesellschaft eingeführt werden, und sie hatte sich nicht geweigert. Sie sehnte sich danach, von zu Hause wegzukommen, und die einzige Möglichkeit, die es dazu für sie gab, war die Ehe. Emily hatte davon geträumt, einen passenden Ehemann zu finden und ihren eigenen Hausstand zu gründen. Dann wollte sie ihren Mann bitten, Mary kommen zu lassen, damit sie bei ihnen lebte. Jetzt war das natürlich nicht mehr nötig.
Mary hatte auf ihre sanfte Art versprochen, Emily in die Gesellschaft einzuführen. Aber bevor dieser gesegnete Tag da war, würde Mary »The Elms« verlassen, und Emily mußte ohne sie all diese langen, langweiligen und einsamen Tage überstehen, an denen sie mit ihrer Mutter in der Grafschaft herumfuhr.
Mrs. Anstey machte ständig bei allen möglichen Personen von Stand Besuche, obwohl diese so gut wie immer »nicht zu Hause« waren. Emily versuchte, die mitleidigen und amüsierten Blicke, die die Lakaien austauschten, wenn die unvermeidliche Abfuhr erteilt wurde, zu übersehen. Die Tatsache, daß man sie nach Marys Hochzeit wahrscheinlich überall empfangen würde, freute sie nicht im geringsten. Es gab niemanden in der Gesellschaft, mit dem sie gerne befreundet gewesen wäre. Denn obgleich sie das neureiche Gehabe ihrer Eltern verabscheute, liebte Emily sie innig und stellte sich vor, daß sie litten, auch wenn es ihnen in Wirklichkeit nicht sehr viel ausmachte.
Sie unterwarfen sich sklavisch den Gesetzen, die ihnen die Nachbarn vorschrieben, und waren zuversichtlich, daß sie eines Tages akzeptiert werden würden.
Außerdem war da noch der Pfarrer, Mr. Peter Cummings. Er war offensichtlich über beide Ohren in Mary verliebt, was dieser völlig entgangen zu sein schien.
Plötzlich bemerkte Emily, daß es im Zimmer seltsam hell wurde. Sie drehte sich um und schaute zum Fenster hinaus.
Es hatte aufgehört zu regnen.
Sie trat zum Fenster und schob es nach oben. Köstlich frische Regenluft flutete ins Zimmer, begleitet vom Duft von Immergrün und feuchten Blättern. Die Sonne schien blaß und wäßrig durch die kahlen Äste der großen Eiche an der Hecke. Die Pfützen auf dem Rasen verwandelten sich in golden glänzende Seen.
Emily reckte und streckte sich und holte tief Luft. Dabei wartete sie darauf, daß die Angst aus ihrer Magengrube wich.
Aber ihre bedrückte Stimmung wollte sich nicht aufhellen wie das Wetter draußen. Die kühlen, abweisenden Briefe des Grafen von Devenham fielen ihr wieder ein.
Auf einmal nahm die Angst feste Form an. Sie fürchtete etwas Bestimmtes.
Emily Anstey fürchtete, daß der Graf, der aus dem Krieg heimkehrte, keine Ähnlichkeit mit dem schüchternen jungen Mann aufwies, der einst Marys Herz erobert hatte.
Der Novembertag, der so tat, als sei er ein goldener Frühlingstag, hatte Mary Anstey verführt, das Haus zu verlassen. Mit einer Regenhaube über dem Hut – falls es noch einmal zu regnen anfangen sollte – und Stelzschuhen an den Füßen, damit sie nicht im Schlamm versank, ging sie schnell auf das Dorf zu. Über den Bäumen ragte die Kirchturmspitze von Sankt Martin empor. Mary Anstey suchte einen Zufluchtsort für ihre verwirrten Gedanken und hoffte, daß der Friede und die Einsamkeit der Kirche die Ängste und Befürchtungen zerstreuen würden, die sie plagten, nachdem die anfängliche Begeisterung über ihre bevorstehende Verehelichung geschwunden war.
Sie ging auf einem schmalen, ausgetretenen Weg um die Kirche herum und schlüpfte durch den Seiteneingang hinein.
Die Kirche war still und leer und roch schwach nach Weihrauch, Holzkohle, altem Papier und feuchten Kniekissen. Eine doppelte Säulenreihe ragte auf und verschwand in der Dunkelheit des Dachstuhls, ein paar Kerzen flackerten in dem kühlen, trüben Licht.
Statt das Familiengestühl zu betreten, setzte sich Mary auf einen kleinen Stuhl mit einem Sitz aus Binsengeflecht im hinteren Teil der Kirche. Sie versuchte, ihren Geist von den Sorgen freizumachen; aber all ihre kleinen Ängste ließen nicht ab, sie zu quälen.
Ich bin alt, dachte sie. Zehn Jahre älter als damals, als er mich zum letztenmal sah. Ich bin praktisch ein altes Mädchen, während er in den besten Jahren steht. Ich weiß, daß sein Stolz tief verletzt wurde, als Papa seinen Antrag ablehnte. Ach du meine Güte! Ich erinnere mich sehr wohl, daß Peregrine voller Stolz war – fein und anrührend bei einem jungen Mann. Aber was ist, wenn sich der Stolz zu Arroganz verhärtet hat? Ich bin so aufgeregt, ich kann mich kaum mehr an sein Gesicht erinnern. Aber ich muß mich glücklich preisen, schalt sie sich. Es ist eine Sünde, so undankbar zu sein. Ich heirate den einzigen Mann, den ich je geliebt habe. Die liebe Emily wird zu uns kommen können und bei uns leben …
Doch gleich fiel wieder ein Schatten auf ihre Freude. Es war für sie ganz selbstverständlich gewesen, daß Emily immer mit ihr zusammensein würde. Aber was wäre, wenn ihr Mann andere Vorstellungen hätte?
Sie fuhr zusammen und sah den Pfarrer, Mr. Cummings, der sie besorgt betrachtete.
»Ich war so in Gedanken versunken«, sagte Mary, sprang auf und machte einen Knicks vor ihm, »daß ich Sie gar nicht kommen hörte, Mr. Cummings.«
»Sie sehen bekümmert aus«, sagte er. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie es im Augenblick nicht leicht haben.«
»Aber ich bin sehr glücklich!« rief Mary aus. »Ich werde endlich doch noch den Mann meiner Wahl heiraten.«
Mr. Cummings’ Augen waren auf gleicher Höhe mit ihren. Mary dachte, daß sie nie zuvor bemerkt hatte, wie blau sie waren und wie gütig. Er hatte ein eckiges, jungenhaftes Gesicht, obwohl er Ende Dreißig war, und eine widerborstige, strohblonde Mähne, die die Gewohnheit hatte, senkrecht nach oben zu stehen, so sehr er auch versuchte, sie mit viel Wasser glattzustreichen.
»Ich kann mir denken«, sagte Mr. Cummings, wobei er den Blick von Marys Gesicht abwandte und die Ornamente auf dem holzverkleideten Opferstock anstarrte, »daß man sich trotzdem einige Sorgen macht, wenn man seinen Verlobten nach zehn Jahren wiedersehen soll. Aber wenn er erst da ist, wird alles in schönster Ordnung sein.«
»Meinen Sie das wirklich?« fragte Mary in einer plötzlichen Anwandlung von Dankbarkeit. »Ich habe mir tatsächlich Sorgen gemacht; wie einfühlsam Sie sind, daß Sie es erraten haben. Aber Sie haben ganz recht. Es ist das Warten und … und … die Unsicherheit, die mich so ängstlich machen.«
»Es ist wunderbar, einen Grafen zu heiraten«, sagte Mr. Cummings, und es klang beinahe so, als ob er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen. »Man sollte nicht an solch weltliche Dinge wie Rang und Titel denken, aber Sie werden wenigstens nicht zu einer ungewollten Verbindung gezwungen. Das, glaube ich, könnte ich nicht ertragen.« Den letzten Satz sagte er so leise, daß ihn Mary nicht verstehen konnte.
»Ihren Eltern geht es gut, hoffe ich?« fügte Mr. Cummings schnell hinzu. »Und Miss Emily?«
»O ja. Wir sind alle zu den Harrisons zum Abendessen eingeladen. Mama ist in Hochstimmung.«
»Und Sie?«
»Ich finde es ganz reizend von Sir James und Lady Harrison«, sagte Mary förmlich.
»Und doch«, sagte Mr. Cummings, »habe ich mit eigenen Augen gesehen, wir Sir James und seine Gattin Ihren Eltern vor eben dieser Kirche eine ganz fürchterliche Abfuhr erteilt haben.«
Mary seufzte. »Das war, bevor man wußte, daß ich einen Grafen heiraten werde. Ich, für meinen Teil, lege keinen Wert darauf hinzugehen, aber Sie wissen ja, wieviel es Mama bedeutet.«
Mr. Cummings schaute auf das zarte Oval von Marys Gesicht, auf die braunen Locken, die unter ihrer Haube hervorlugten, auf die feinen Schatten unter ihren großen braunen Augen. Eine starke Erregung schien ihn erfaßt zu haben. Er streckte ihr halb seine Hand entgegen, und Mary sah mit einigem Erstaunen, daß die Hand leicht zitterte.
»Miss Anstey«, begann er. Dann schwieg er. Der Wind draußen nahm zu und heulte um die Kirche. Er bewegte eine Glocke in der Kirchturmspitze und weckte einen hohen, silberhellen Klang. Die Kerzen auf dem Altar flackerten, die Flammen senkten sich und flackerten wieder auf.
»Ja, Mr. Cummings?« Mary musterte sein Gesicht beunruhigt und fragte sich, ob er krank sei.
»Ich möchte Ihnen einfach alles Glück der Welt wünschen«, sagte er mit erstickter Stimme. »Ich habe einige Besuche in der Gemeinde zu machen. Erlauben Sie mir, daß ich Sie nach Hause begleite.«
Es war ein sehr schweigsamer Gang, da Mr. Cummings in seine Gedanken vertieft war und Mary schon wieder überlegte, wie es ihr ergehen würde, wenn sie morgen ihrem zukünftigen Ehemann gegenüberstand.
Mary verabschiedete sich von Mr. Cummings und eilte die kurze Auffahrt zum Haus hinauf. Dabei merkte sie nicht, daß der Pfarrer, den Hut in der Hand, traurig an der Straße stehengeblieben war und ihr nachsah, bis sie verschwunden war.
Miss Emily Anstey stocherte an der Abendtafel der Harrisons lustlos in ihrem Essen herum und überlegte, daß Sir James und seine Gattin ihren Eltern erstaunlich ähnelten. Sie waren laut, grobschlächtig und unfein. Aber Mr. und Mrs. Anstey strahlten wenigstens eine gewisse freundliche Warmherzigkeit aus, die den Harrisons nur allzusehr fehlte. Schon bei der Schildkrötensuppe hatte Sir James klargestellt, daß er den Ansteys einen ungeheuren Gefallen damit tat, daß er ihnen erlaubte, den Fuß über die Schwelle seines Hauses zu setzen. Seine Frau stellte unzählige Fragen, die den Grafen betrafen, und sagte, daß sie bereits jetzt regelrecht von ihm schwärme. Ihr Sohn, Billy Harrison, ein gedrungener, recht ungeschliffener junger Mann, sagte glücklicherweise nichts, obwohl seine Eltern mit zahlreichen plumpen Andeutungen darauf hinwiesen, daß er ganz entzückt von Miss Emily sei.
Emily bekam Kopfschmerzen, die sich rasch verschlimmerten, bis sie schließlich das Gefühl hatte, daß das Pochen in ihren Schläfen jedes andere Geräusch im Raum erstickte.
Da hörte sie Marys Stimme. »Du bist ja ganz weiß, Emily. Ich fürchte, es geht dir nicht gut.«
»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte Emily unglücklich. »Wenn ich nach Hause fahren und mich hinlegen könnte, würde ich mich wahrscheinlich schnell erholen. Es tut mir leid, Sir James, Mylady, aber ich fürchte, ich muß mich verabschieden.«
Mary erklärte sich bereit, ihre Schwester zu begleiten, aber dieser Bemühung trat man von allen Seiten entgegen. Die zukünftige Gräfin mußte bis zum bitteren Ende aushalten.
Schließlich beschloß man, daß Emily allein nach Hause fahren und dann die Kutsche mit den Dienern wieder zurückschicken sollte. Mrs. Anstey fühlte leichte Gewissensbisse und erbot sich, mit ihrer Tochter zu fahren, doch Emily bestand recht energisch darauf, daß sie ganz gut allein zurechtkommen würde.
Sobald sie es sich in der dunklen Kutsche bequem gemacht hatte, verschwanden ihre Kopfschmerzen wie von Zauberhand. Emily dachte daran, daß sie Mary den Harrisons auf Gnade und Ungnade ausgeliefert hatte, und überlegte, ob sie umkehren sollte. Aber das würde einen sehr merkwürdigen Eindruck machen, und Sir James und Lady Harrison, deren Eitelkeit nur von ihrer abgöttischen Liebe zu ihrem ungehobelten Sohn übertroffen wurde, würden daraus den Schluß ziehen, daß sie nur deshalb zurückgekehrt sei, um an der Seite des abstoßenden Billy Harrison sitzen zu können.
»The Elms« erschien Emily wie ein modernes Möbelhaus, als sie in der Halle stand und die Bänder ihres Huts aufknüpfte, nachdem sie die Kutsche zurückgeschickt hatte.
Alles war so still und so glänzend poliert und so glitzernd neu und ohne Leben. Ich wäre nicht überrascht, dachte sie, wenn ein unterwürfiger junger Mann im Schwalbenschwanz aus dem Dunkel hervortreten und sich bemühen würde, mir den Tisch zu verkaufen. Das einzige, was in dem Haus fehlte, waren kleine weiße Preisschilder an den Gegenständen.
Sie hob die Hand, um ihren Hut abzunehmen, hielt aber stirnrunzelnd inne.
Vor der Haustür hörte sie geschäftige Bewegung. Vielleicht kamen irgendwelche Nachbarn zu Besuch, obwohl es schon spät war. Die Diener hatten den Abend freibekommen, abgesehen von denen, die zurückgefahren waren, um auf die übrigen Mitglieder der Familie Anstey zu warten.
Emily fragte sich, ob sie die Tür aufmachen oder so tun sollte, als sei niemand zu Hause.
Sie zögerte und überlegte, da ertönte schon der Türklopfer. Das gebieterische Klopfen schien ihr die Entscheidung abzunehmen.
Sie öffnete die Tür.
Ein hochgewachsener Mann mit einem strengen, sonnengebräunten Gesicht stand auf der Schwelle. Er war nach der neuesten Mode gekleidet, angefangen von dem breitkrempigen Biberhut bis zu seinem Reisemantel mit den vielen Capes, der, leicht geöffnet, den Blick auf einen Abendanzug mit schneeweißem Leinenhemd und einer ebenso weißen Halsbinde freigab.
»Mary«, sagte er mit heiserer Stimme.
Bevor Emily widersprechen konnte, hatte sie der große Mann schon in die Arme genommen, ihr unters Kinn gefaßt und ihren Mund mit einem heftigen, wilden Kuß bedeckt, der zehn lange Jahre unbefriedigter Leidenschaft ausdrückte.
Es ist der Graf, dachte Emily. Er sollte doch erst morgen kommen! Sie wollte seinen Irrtum richtigstellen, kam aber gegen die Kraft seiner Lippen nicht an, die sich auf die ihren preßten. Ihr Widerstand schien den Grafen nur noch mehr zu entflammen. Ich kann erst etwas sagen, wenn er fertig ist, dachte Emily und fand sich mit seiner Umarmung ab.
Das war ein Fehler. Sie merkte, wie ihr Blut in Wallung geriet; eine fiebrige Hitze riß sie mit, und dann vergaß sie alles und alle und erwiderte seine Küsse mit solcher Leidenschaft, daß der Graf aufstöhnte und sie auf den Armen über die Schwelle in die Halle trug. Dabei fiel ihr Hut auf den gefliesten Boden. Der matte Glanz des neuesten Lampenmodells fiel auf ihr goldenes Haar.
»Zum Teufel!« rief Graf Devenham und ließ die Arme sinken. Emily fiel unsanft zu Boden.
Sie setzte sich auf, rieb sich den Rücken und schaute mit kläglichem Gesichtsausdruck in die kalten grauen Augen des Grafen hinauf.
»Willkommen daheim, Mylord«, sagte Emily Anstey, und ein unschicklicher Lachanfall überkam sie. »W-willkommen d-daheim.«