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Drittes Kapitel

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Zwei Tage waren seit der Ankunft des Grafen vergangen. Emily wußte nicht, was Mary wirklich empfand. Man hatte jetzt überhaupt keine Zeit mehr, einfach dazusitzen und sich zu unterhalten. Das Haus war in Aufruhr, die Gäste trafen einer nach dem anderen ein, die Lieferanten besprachen die Zustellungen, die Musikanten ihre Darbietungen, und Mr. Parsons stellte zusätzliche Diener ein.

Das Wetter war kalt und klar. Auf dem Rasen hinter dem Haus sollten zwei große Zelte aufgestellt werden, ein Imbißzelt und eines, in dem getanzt werden konnte.

Es sickerte durch, daß Graf Devenham unangenehm berührt war, daß man für die Verwandten von seiner Seite keine Unterkunft vorbereitet hatte. Mr. Anstey hatte ganz naiv angenommen, daß er überhaupt keine Verwandten habe, weil seine Eltern nicht mehr lebten.

Das Dorfgasthaus mußte in Beschlag genommen und für die anderen Gäste Zimmer in verschiedenen Privathäusern gemietet werden. Die Leute waren durchaus bereit, die Verwandten des Grafen bei sich aufzunehmen. Dagegen wollte niemand die Verwandten der Ansteys beherbergen, die sie entweder als aufdringlich und gewöhnlich oder als langweilig und gewöhnlich einstuften.

Emily wußte, daß der Graf am Tag nach seiner Ankunft mit Mary eine Spazierfahrt unternommen hatte. Als sie zurückgekommen waren, hatte Mary still und in ihr Schicksal ergeben ausgesehen, und der Graf war wortkarger denn je gewesen. Eines war sicher: Sie liebten sich nicht mehr.

Aber es macht auch keiner von beiden die geringsten Anstalten, die Hochzeit abzusagen, dachte Emily unglücklich. Mary schien entschlossen zu sein, sich allem tapfer zu stellen, und fuhr auf ihre geduldige Art fort zu behaupten, daß sie sehr glücklich sei.

Emily drehte nervös eine blonde Locke um den Finger und beobachtete aus dem Fenster des Salons, wie Mary die Auffahrt hinuntereilte.

Sie geht in die Kirche, dachte Emily. Ich hoffe, es bleibt ihr verborgen, daß der arme Mr. Cummings in sie verliebt ist. Es wäre mehr, als sie ertragen könnte. Mary ist zu lieb und schüchtern für einen solch kalten, selbstherrlichen Menschen wie Devenham. Wenn es nur etwas gäbe, was ich tun könnte!

Auf einmal erschien es Emily ungeheuer töricht, daß zwei Leute heirateten, nur weil sie das Gefühl hatten, sie müßten ihre Pflicht tun. Mary war ein zu pflichtbewußtes Mädchen, aber der Graf war doch sicherlich zugänglich. Er besaß ein großes Vermögen. Es mußte für ihn ein leichtes sein, eine andere Braut zu finden. Emily beschloß, den Versuch zu machen, mit ihm zu sprechen, bevor sie der Mut verließ.

Sie wußte, daß er in das Dorfgasthaus gegangen war, um seinen Freund Arthur Chester, der Brautführer sein sollte, zu treffen. Sie würde sich aus dem Haus schleichen und ins Dorf reiten. Wenn Mama sie erwischte, konnte sie immer noch sagen, daß sie Schleifen für ihr Kleid kaufen wollte.

Emily nahm sich viel Zeit für ihr Äußeres, wobei sie ihr ungewöhnlich großes Interesse an jedem noch so kleinen Detail ihrer Kleidung auf ihre Nervosität schob. Als sie sich schließlich ein modisches Reitkostüm aus leuchtend grünem Stoff, dessen Revers und Manschetten mit schwarzer Litze á la militaire geschmückt waren, angezogen, eine kleine Reitkappe aus schwarzem Biber, die mit einer goldenen Kordel, Quasten und einer langen grünen Straußenfeder verziert war, über ihr Haar gestülpt hatte und in schwarze Halbstiefel mit grünen Applikationen geschlüpft war, ritt sie auf ihrer kleinen grauen Stute Sylvia davon.

Eine Zeitlang genoß sie einfach den Ausritt; sie war wegen der vielen Regentage unendlich lange im Haus eingeschlossen gewesen. Erst als sie sich dem Gasthaus näherte, verließ Emily allmählich der Mut. Papa würde erfahren, daß sie ohne Stallknecht ausgeritten war, und ihr eine Strafpredigt halten, und Gott verhüte, daß er herauskriegte, warum sie ihren Besuch machte. Unvorstellbar, wenn es ihm Lord Devenham erzählte! Irgendwie war es Emily unmöglich, den abweisenden Grafen in Gedanken Peregrine zu nennen.

Doch der Gedanke an Marys trauriges, liebes, in ihr Schicksal ergebenes Gesicht trieb sie an.

In dem Gasthaus war ein ständiges Kommen und Gehen. Der Graf mochte einst der gewöhnliche Captain Peregrine Tracey gewesen sein, das hinderte ihn aber nicht daran, eine Menge bedeutender Verwandter zu haben. Man konnte sie leicht von den anderen Gästen unterscheiden, weil sie alle sehr groß waren, harte Gesichter hatten und hochmütig wirkten.

Als Emily auf die Suche nach dem Wirt ging, sagte eine Dame, die ganz Nase und durchdringende Augen zu sein schien, mit lauter Stimme zu ihrem Begleiter: »Nun, wenn der liebe Peregrine entschlossen ist, sich an eine Familie von Ladenschwengeln zu binden, dann können wir leider auch nichts machen.«

Der Wirt teilte Miss Emily Anstey mit, daß der Graf von Devenham oben in Mr. Chesters privatem Salon sei. Er wolle Mylord bitten, in die Kaffeestube herunterzukommen.

Mit heftig klopfendem Herzen wählte Emily eine ruhige, dunkle Ecke und saß wartend da. Sie preßte ihre Knie zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.

Als der Graf den Raum betrat, wobei er sich bücken mußte, um durch die niedrige Türöffnung zu kommen, hätte Emily der Mut beinahe wieder verlassen. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen und abweisend, als er sich ihr näherte. Er sah nicht im geringsten erfreut über ihren Besuch aus.

»Ich hatte gehofft, es sei meine Verlobte«, sagte er schroff. »Gibt es etwas Besonderes?«

»Nein, Devenham«, sagte Emily, die beschlossen hatte, daß Devenham ein annehmbarer Kompromiß zwischen Peregrine und Mylord sei.

»Dann überkam dich ein unwiderstehliches Bedürfnis, mich zu sehen?«

»Nein, Devenham.«

»Nun, Miss Emily, was ist dann dein Anliegen?«

Er zog die Worte spöttisch in die Länge.

Emily schaute zu ihm auf und holte tief Atem. »Ich bin gekommen«, sagte sie, »um mit dir über deine bevorstehende Hochzeit zu sprechen.«

»Ach nein! Und …?«

»Und nach sorgfältiger Beobachtung bin ich zu dem Schluß gelangt, daß ihr – du und Mary – einander nicht liebt.«

»Hat dir Mary das erzählt?«

»O nein. Mary würde nicht im Traum daran denken … Mary ist ja so pflichtbewußt …«

»Miss Emily«, sagte der Graf kalt, »ich schlage vor, du gehst wieder nach Hause, bevor ich dich übers Knie lege und verhaue. Deine Schwester ist eine reife Frau und weiß, was sie will. Wenn eine Frau treu ergeben zehn lange Jahre auf mich gewartet hat, dann ist es meine Pflicht, sie zu heiraten. Pflicht ist eine größere Tugend als Liebe. Es ist besser, du richtest deine rührseligen Gedanken auf die Liebesromane, die du liest.«

Emily errötete über und über. Sie kam sich sehr jung und sehr dumm vor.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich liebe Mary und will nicht, daß sie unglücklich ist.« Sie ließ den Kopf hängen.

Er streckte einen Finger nach ihr aus und faßte ihr unters Kinn. Dabei bemerkte er, daß in ihren braunen Augen Tränen glitzerten.

»Du bist noch ein richtiges Kind«, sagte er mit sanfter Stimme, »und doch ein Kind mit einer ungeheuren Fähigkeit, mich wütend zu machen. Nach Hause mit dir, Miss Emily.«

Sie starrte in seine Augen und entdeckte etwas in ihnen, das sie nicht verstand. Sie fragte sich, was es war. Sein Blick schien unauflöslich mit ihrem verschlungen zu sein wie der Faden des Dichters, der sich durch eine Erzählung zieht. Sie fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde und ihr Busen sich hob und senkte, weil es ihr den Atem verschlug.

Er ließ ihr Kinn los, stand auf und drehte sich, ohne auch nur noch ein Wort zu sagen, um und schritt erhobenen Hauptes aus der Kaffeestube.

Emily saß lange Zeit still da. Nie zuvor war sie sich so jung und unreif vorgekommen. Sie fühlte sich gedemütigt, daß sie zu glauben begann, sie hätte Zeichen von Kummer in Marys Verhalten hineingelesen, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren. Mit einem leisen Seufzer, der ein halbes Schluchzen war, stand sie auf. Sie hatte das Gefühl, eine ungeheuer forsche und mondäne Miss Emily Anstey zurückzulassen. Es war ein geläutertes Schulmädchen, das das Pferd bestieg und wegritt.

Mary Anstey saß in der Stille der Kirche und betete verzweifelt um den Glauben, die Kraft und die Hoffnung, ihre Hochzeit durchzustehen. Nach einer Weile merkte sie, daß jemand neben ihr kniete. Sie versuchte, sich auf ihre Gebete zu konzentrieren, aber sie wurde von der Vorstellung gequält, daß die Person neben ihr ihre Gedanken lesen konnte.

Sie erhob sich.

»Miss Anstey.«

Ihr stiller Gebetspartner war Mr. Cummings gewesen.

»Mr. Cummings. Was für einen schönen Tag wir heute haben, nicht wahr? Das Land bietet sich unseren Gästen von seiner besten Seite dar.«

»Ja«, sagte Mr. Cummings entgegenkommend und dachte an die abgeernteten, schlammigen Felder draußen und die skelettartigen Zweige der kahlen Bäume.

»Zu Hause herrscht eine solch heillose Unruhe durch all die Hochzeitsvorbereitungen«, fuhr Mary atemlos fort, »daß ich das Gefühl hatte, hierher kommen zu müssen, um Frieden zu suchen.«

»Und Hilfe?«

»Ja, natürlich. Man bedarf immer der geistlichen Führung, egal wie … w-wie gl-glücklich man ist.« Und damit sank Mary auf ihre Bank zurück und brach in Tränen aus.

»Bitte nicht«, bat Mr. Cummings und fuhr sich mit der Hand durch seine widerborstigen Haare. »Ich kann es nicht ertragen, Sie so kummervoll zu sehen. Ich weiß, Sie haben Angst vor der Ehe. Das geht den meisten jungen Bräuten so.«

Mary trocknete ihre Augen sehr sorgfältig und sagte mit tonloser, leiser Stimme: »Ich liebe ihn nicht. Er flößt mir Angst ein.«

»Ah!« Mr. Cummings atmete hörbar auf und setzte sich neben sie.

»Er ist nicht der Mann, den ich kannte«, fuhr Mary fort. »Er hat sich verändert. Er ist hart und kalt. Er macht mir Angst.«

»Meine liebe Miss Anstey! Die Hochzeit muß abgesagt werden. Sie dürfen ihn nicht heiraten.«

»Doch, ich muß. Ich habe meinen Eltern gegenüber Verpflichtungen. Diese Heirat bedeutet ihnen so viel. So ungeheuer viel. Ich weiß, sie scheinen weltlich und töricht zu sein, aber sie sind sehr lieb.«

»Sie waren nicht sehr lieb, als sie Ihnen damals nicht erlaubt haben, Devenham zu heiraten.«

»Sie haben gedacht, sie tun das Beste für mich«, meinte Mary unglücklich. Eine große Träne rollte ihr die Wange hinunter und verfing sich in einer glänzenden braunen Locke, wo sie hängenblieb und im Kerzenlicht der Kirche schimmerte.

»Ich war sehr jung. Sie dachten, ich wüßte nicht, was ich wollte. Und, ach, sie hatten recht! Ich habe in einer Traumwelt gelebt. Er war so jung und ungeduldig und seiner selbst nicht sicher, als er Captain Tracey war, so sanft und freundlich. Jetzt ist er hart und fordernd und herrisch.«

»Sie sind ja ganz blaß geworden«, sagte Mr. Cummings. »Lassen Sie uns ein wenig im Kirchhof auf und ab gehen. Die frische Luft wird Ihnen gut tun.«

»Ich glaube nicht, daß mir irgend etwas gut tut«, seufzte Mary, aber sie erlaubte ihm, sie aus der Kirche ins Freie zu führen, wo an diesem glitzernd kalten Tag ein schneidender Wind blies. Sie gingen um die Rückseite der Kirche herum, dahin, wo sich die hohen, schweigenden Grabsteine gegen den blaßblauen Himmel abhoben.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, um Sie zu trösten, Miss Anstey«, begann Mr. Cummings. Er stützte seine breite, verläßliche Hand auf einen marmornen Cherub mit einem Gesicht von zeitloser Bosheit. »Jeder Mann würde etwas darum geben, Sie heiraten zu dürfen.« Er versetzte dem Cherub mit der Faust einen Hieb. »Jeder Mann. Wenn ich das Recht hätte … Aber ich darf nicht mehr sagen. Ich hätte früher sprechen sollen, aber es erschien alles so hoffnungslos. Ich wußte, daß Sie auf ihn warteten – sehnsüchtig warteten –, genauso wie ich sehnsüchtig gewartet habe.«

Mary wandte sich ihm zu und schaute ihn an, Mitleid und Erstaunen in ihren tränenblanken Augen.

»Ich wußte gar nicht, Mr. Cummings, daß es eine junge Dame gibt, die …«

Ihre Stimme erstarb angesichts der glühenden Liebe in seinen Augen.

Lange Zeit standen sie da und schauten einander an – Mr. Cummings voll hoffnungsloser Liebe und Mary, die sich dieser Liebe allmählich bewußt wurde.

Verwundert legte sie ihm die Hand an die Wange, und er ergriff sie, drehte sie um und drückte ihr einen Kuß in die Handfläche.

»Da haben wir’s«, sagte er mit rauher Stimme. »Jetzt ist mein Geheimnis raus. Ein schöner Gottesmann bin ich, Miss Anstey. Statt Ihre Bürde zu erleichtern, mache ich sie noch schwerer.«

»O nein«, antwortete Mary traurig. »Ich wußte es nicht. Aber ich weiß es jetzt, und es ist ein Wissen, das ich immer wie einen Schatz hüten werde.«

Sie drehte sich um und ging langsam nach Hause.

Peter Cummings konnte nichts anderes tun, als ihr nachzuschauen, bis er sie nicht mehr sah, und sich den Alptraum vorzustellen, der vor ihm lag. In ein paar Tagen würde er die Liebe seines Lebens mit einem anderen Mann trauen.

Die Einstudierung der Hochzeitszeremonie fand am folgenden Tag statt. Die Braut sah bleich und mitgenommen aus. Der Bräutigam war so kurz angebunden, daß es schon an Unhöflichkeit grenzte, und stieß seine Antworten knurrend hervor. Emily Anstey war todunglücklich.

Es erschien ihr nur zu offenkundig, daß Mr. Cummings auf irgendeine Weise seine Liebe erklärt haben mußte und daß die sanfte Mary ebenfalls von heftiger Liebe zu dem Pfarrer erfüllt war.

Natürlich kann nur ich das wissen, dachte Emily. Mary sieht so schlecht aus, daß die anderen bestimmt denken, sie ist nervös, wie es Bräute nun einmal sind. O Gott, ich muß etwas tun, um diese Hochzeit zu verhindern. Es ist mir egal, wenn Devenham noch einmal gedemütigt wird. Er verdient es wahrhaftig, gedemütigt zu werden, dieser arrogante, gefühllose Großtuer! Man braucht sich ja nur anzusehen, mit welch bösen Blicken er die arme Mary anstarrt.

Es war eine Erleichterung, als die Probe beendet war und der Graf die Einladung zum Abendessen schroff ausschlug, da er etwas mit Arthur Chester zu besprechen habe.

»Was fehlt dir?« fragte Mr. Arthur Chester neugierig, als er mit dem Grafen vor einer dampfend-heißen Bowle Punsch im Gasthaus saß. »Was hat dir denn die Laune so gründlich verdorben?«

»Sie mag mich nicht«, erwiderte der Graf ohne Umschweife.

»Dann nimm sie nicht!«

»Oh, sie wird sich mit der Zeit an mich gewöhnen. Die Frauen sind alle gleich. Aber ich weigere mich, noch einmal eine Niederlage von den Ansteys einzustecken – und alles nur, weil sich ihr Gänschen von Tochter in den Pfarrer verliebt hat.«

»Aber lieber Freund!«

»Ich bin nicht blind, das kannst du mir glauben.«

»Dann sag die Hochzeit ab!«

»Nein«, antwortete der Graf starrköpfig. »Ich habe dieses Mädchen von ganzem Herzen geliebt, und ich werde sie eines Tages wieder lieben. Und sie mich! Als mir die Ansteys mit ihrer ungeheuerlichen Vulgarität vor zehn Jahren erklärten, ich sei nicht gut genug für ihre Tochter, habe ich mich danach gesehnt, sie ihre Worte auf Knien zurücknehmen zu lassen. Ich habe mich danach gesehnt, im Triumph zurückzukehren und sie zu meinen Füßen kriechen zu sehen.«

»Wie barbarisch! Aber jetzt bist du zurückgekommen, und mehr kriechen können sie nun wirklich nicht. Laß sie vergeblich am Altar warten! Auf diese Weise wirst du sie noch mehr demütigen, sie kann ihren Pfarrer heiraten, und alles ist wieder in Butter.«

Der Graf sah seinem Freund voller Ärger in das schmale, dunkle, ausdrucksvolle Gesicht.

»Bei dir klingt alles so unproblematisch. Einfach auf und davon! Ich habe meinen Stolz. Ich habe geschworen, das Mädchen zu heiraten, und den Schwur mache ich wahr.«

Mr. Chester verdrehte den Hals mit leicht schmerzhaftem Gesichtsausdruck. Er trug einen modischen hohen steifen Kragen – Vatermörder genannt – und wünschte, seine Wäscherin wäre nicht ganz so großzügig mit der Stärke umgegangen.

In Wirklichkeit war er Colonel Chester, zuletzt beim 10. Dragonerregiment, aber seitdem er den Dienst quittiert hatte, legte er auch keinen Wert mehr auf seinen Offiziersrang und hatte sich geschworen, keine Uniform mehr anzuschauen.

Er war von kleiner Statur, die Nase in seinem olivfarbenen Gesicht war auffallend groß und spitz. Da er zu romantischen Gefühlen neigte, war er begeistert nach Malden Grand gereist, um dabeizusein, wenn sein Freund das Mädchen heiratete, auf das er so lange gewartet hatte. Jetzt war er enttäuscht, feststellen zu müssen, daß diese außergewöhnliche Romanze nahe daran war, unglücklich zu enden.

»Verstehst du denn nicht«, machte er einen neuen, vorsichtigen Anlauf, »sie ist ein hübsches kleines Ding und sehr schüchtern. Du bist so daran gewöhnt, Männer herumzukommandieren und Schlachten zu schlagen, daß man – hm – nicht gerade behaupten kann, daß du mit dem schönen Geschlecht sehr sanft umspringst. Schade, daß du nicht das jüngere Mädchen heiraten wolltest. Die hat Temperament.«

»Miss Emily Anstey hat kein Benehmen«, sagte der Graf kalt. »Ich mag es, wenn sich Damen wie Damen benehmen. Stell dir vor, sie war so unverfroren, mir in diesem Gasthaus aufzulauern und mir zu sagen, daß meine Liebe und die ihrer Schwester erloschen seien.«

»Ich kann nicht behaupten, daß ich das tadelnswert finde. Sie hat doch ganz recht.«

Der Graf schenkte sich ein Glas Punsch ein. Plötzlich fiel ihm seine Ankunft in »The Elms« wieder ein. Ein paar kurze, tröstliche Augenblicke lang war seine Rückkehr ganz so gewesen, wie er sie sich immer erträumt hatte. Das war es, woran er all die langen Jahre gedacht hatte. Nicht Rache! Warme Lippen, ein schmiegsamer Körper, aufwallendes Blut.

Als er mit Mary am nächsten Tag ausgefahren war, hatte er die Pferde angehalten und sie in die Arme genommen, um sie zu küssen. Sie hatte bei seiner Berührung gezittert, und ihre Lippen waren eiskalt gewesen. Ihr ganzer Körper schien vor ihm zurückzuschrecken. Dieses vorwitzige Geschöpf, diese Emily soll doch der Teufel holen. Hätte sie nicht so leidenschaftlich reagiert, wäre ihm Marys zurückhaltende Art wie das ganz natürliche Verhalten eines jungfräulichen Mädchens erschienen.

»Sie ist ein Flittchen!« stieß er wütend hervor.

»Doch nicht etwa Miss Anstey!«

»Vergiß es. Ich meine eine andere. Die Hochzeit findet morgen statt. Die Gäste sind alle versammelt, und ich muß die Sache irgendwie zu Ende bringen.«

»Du kannst die Sache nicht zu Ende bringen!« rief Emily Anstey leidenschaftlich am Vorabend der Hochzeit aus.

Ihre Schwester hob ihr tränennasses Gesicht vom Kissen. »Ich muß.«

»Er liebt dich nicht«, behauptete Emily entschlossen. »Mr. Cummings liebt dich.«

»Nein, sag das nicht! Oh, hätte ich es doch nie erfahren! Geh weg, Emily!«

»Hör zu!« sagte Emily mit Nachdruck und rückte ein Stück näher an ihre Schwester heran. »Weißt du noch, als wir vor zwei Jahren den Streich gespielt haben? Ich habe eine braune Perücke aufgesetzt und du eine blonde. Wir sind in vertauschten Rollen auf die Abendgesellschaft gegangen. Wir haben alle hereingelegt, sogar Mama und Papa! Ich gehe morgen als Mary, und du bist ich. Er wird die falsche Schwester heiraten, und weil ich mein Gelübde als Mary Anstey ablege, ist die Hochzeit nicht gültig, und er wird so schockiert sein, daß er weggeht und nie wiederkommt. Ich habe so etwas in ›Lady Janes auswegloser Lage‹ gelesen. Sie sollte einen …«

Mary setzte sich im Bett auf und starrte ihre Schwester mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. »Solch eine ungeheuerliche Idee ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen«, stieß sie mühsam hervor. »Peregrine würde mich erschießen. Laß mich jetzt auf der Stelle in Frieden und wage es nicht, mir jemals wieder mit solchem Unsinn zu kommen. Nein! Kein Wort mehr.«

Emily ging in ihr Zimmer, setzte sich in einen Stuhl am Fenster und beobachtete das Muster, das das Binsenlicht an die Decke warf.

Irgendwie mußte die Hochzeit verhindert werden. Nur einmal angenommen, es gelang ihr, Mary zu betäuben. Während Mary schlief, konnte sie sich die braune Perücke aufsetzen, so tun, als sei sie Mary, und sagen, Emily sei so krank, daß sie nicht an der Hochzeit teilnehmen könne. Ihre dümmliche, kurzsichtige Cousine Bertha wäre sicherlich entzückt, Brautjungfer sein zu dürfen.

Der Graf würde ungeheuer wütend sein und seine Wut an ihr auslassen. Aber er würde Mary keine Schuld geben. Mary konnte dann Mr. Cummings heiraten, denn nach dieser Schande würde Papa Mary jeden Mann heiraten lassen. Gott sei Dank hatte niemand erfahren, daß sie den Grafen im Gasthof aufgesucht hatte. Emily begann, eifrig Pläne zu schmieden. Es hatte keinen Sinn, Mary schon jetzt zu betäuben. Sie könnte am nächsten Morgen schon wieder wach sein. Es war besser, das Mittel in ihre Frühstücksschokolade zu tun. Emily stöhnte. Selbst in ihren besten Zeiten fand sie es sehr schwierig, früh aufzustehen.

»Dann wirst du eben die ganze Zeit wach bleiben müssen, mein Fräulein«, befahl sich Emily streng. »Und morgen früh wirst du genauso bleich und farblos aussehen wie Mary.«

Vor Emilys innerem Auge erschien das Bild des wütenden, überheblichen Grafen, und sie erschauerte. Aber Mary mußte um jeden Preis gerettet werden. Mary hatte schon genug gelitten und sollte nicht noch mehr leiden müssen.

Emily preßte den Mund zu einer schmalen Linie zusammen und zündete die Kerzen an, nahm einen Liebesroman zur Hand und machte sich bereit, die ganze Nacht durch zu warten.

Es war ein wahrer Segen, daß die Kammerzofe der Anstey-Schwestern noch nicht lange im Dienst war. Ihre frühere Kammerzofe war vor kurzem mit einer guten Pension in den Ruhestand gegangen. Die jetzige, Félice, eine schwarzäugige Französin, deren einziges Interesse im Leben der zweite Lakai zu sein schien, machte ihre Schützlinge auf tüchtige, aber unpersönliche Weise zurecht und hatte sie – dessen war sich Emily sicher – nie so genau angeschaut, daß sie sie auseinanderhalten konnte.

Emily hatte in Marys Morgenschokolade etwas Laudanum, ein Opiumpräparat, getan, die blonde Perücke auf dem Kopf ihrer Schwester befestigt und die Bettvorhänge zugezogen.

Emily trug die braune Perücke und bemühte sich nach Kräften, ihr lebhaftes Mienenspiel durch Marys ernsthaften Gesichtsausdruck zu ersetzen. Sie war davon überzeugt, daß sie dank des dichten weißen Schleiers, der zum Brautkleid gehörte, ohne weiteres als ihre Schwester gelten konnte.

Sobald Mary ihre Schokolade getrunken hatte und wieder eingeschlafen war, trug Emily Félice auf, Mama Bescheid zu geben, daß »Emily« zu krank sei, um an der Hochzeit teilzunehmen, und das Brautjungfernkleid zu Cousine Bertha zu bringen und diese zu bitten, sie möge Emilys Rolle bei den Hochzeitsfeierlichkeiten übernehmen.

Obwohl es noch nicht Zeit war, Toilette zu machen, drängte Emily Félice dann, ihr beim Anziehen des weißen Seidenbrautkleids, das mit winzigen Perlen und spanischer Spitze verziert war, zu helfen, so daß sie bereits angekleidet war und den Schleier trug, als Mrs. Anstey heraufkam, um nach der armen »Emily« zu sehen und sich zu wundern, warum Emily in Marys Zimmer schlief.

Emily erzählte ihrer Mutter eine lange Geschichte von nächtlichen Kopfschmerzen und Übelkeiten und sagte, daß »Emily« darum gebeten habe, ruhen zu dürfen, und bei der Hochzeitsfeier wieder zur Familie stoßen würde.

Mrs. Anstey schlich auf Zehenspitzen in Marys Zimmer und betrachtete voller Sorge die schlafende Gestalt im Bett, während Emily schreckliche Ängste ausstand und hoffte, daß ihre Mutter die Bettvorhänge nicht zurückzog und erkannte, daß das Mädchen im Bett nicht Emily war.

Die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie vorhatte, berührte Emily nicht wirklich. Das Glück ihrer Schwester rangierte für sie weit vor der Demütigung des Grafen oder der peinlichen Kränkung der Familie Anstey.

Sie lebte beständig in einer Traumwelt und spielte die Rolle der Heldin in einem Roman. Dementsprechend hatte sie vor, nach allen Regeln der Kunst in Ohnmacht zu fallen, wenn man ihr auf die Schliche gekommen war, weil ganz gewiß niemand ein bewußtloses Mädchen beschimpfen und verfluchen würde.

Sie betete inständig, daß ihre Mutter erst wieder auftauchen würde, wenn es Zeit war, in die Kirche zu fahren, aber Mrs. Anstey hielt es für ihre Pflicht, vorsichtig auf die Geheimnisse der Hochzeitsnacht anzuspielen. Glücklicherweise war dieses Thema der braven Frau so überaus peinlich, daß sie in alle möglichen Richtungen schaute, nur nicht zu Emily.

Auf einmal war es Zeit aufzubrechen. Vor lauter Erregung, einmal in ihrem Leben im Rampenlicht zu stehen, war das Gesicht von Cousine Bertha fiebrig gerötet, und ihre lange Nase leuchtete dunkelrosa. Das Oberteil ihres Kleides war für ihren flachen Busen etwas zu weit geschnitten, aber sie hatte das Problem gelöst, indem sie ihr Handtäschchen in das Dekolleté gestopft hatte.

Als Emily auf den Arm ihres Vaters gestützt an der Kirchentür stand, wurde ihr plötzlich übel vor Angst. Der Stolz, der ihrem Vater aus den Augen leuchtete, verursachte ihr so heftige Gewissensbisse, daß sie beinahe laut aufgeschrien hätte.

Aber es war zu spät, jetzt noch umzukehren. Die Kirchentür stand offen, die Orgel spielte, und ihr Vater führte sie nach vorne. Sie näherte sich dem Altar mit demütig geneigtem Kopf und wünschte, ihr Schleier wäre dichter.

Dann hob sie den Blick und sah, wie sie der Graf, ohne eine Regung erkennen zu lassen, scharf beobachtete. Er trug ein rosenfarbenes Seidenjackett, das so tadellos geschneidert war, daß es wie eine zweite Haut saß.

Seine Kniehosen waren aus weißer Seide, und auf seinen Schuhen glänzten Diamantschnallen. Diamanten glitzerten auch zwischen den schneeweißen Falten seiner Halsbinde und auf den Knöpfen seiner langen, silber-weiß gestreiften Weste. Sein schwarzes Haar war gelockt und pomadisiert und schimmerte in der halbdunklen Kirche bläulich.

Bewegungslos und blaß stand der Pfarrer, Mr. Peter Cummings, in seinem grün-goldenen Talar da. Er senkte den Blick, um seiner Angebeteten ein stilles Lebewohl zu sagen, und sein Blick schien den weißen Schleier regelrecht zu versengen, als seine durch qualvolle Liebe geschärften Augen das Gesicht von Miss Emily Anstey erkannten.

Es entstand eine lange Stille. Die Hochzeitsgäste begannen, unruhig zu werden und sich zu wundern, warum der Pfarrer nicht anfing.

Mr. Cummings stöhnte unhörbar vor Erleichterung. Offenbar hatte Mary in letzter Minute Mut gefaßt und gesagt, sie wolle den Grafen nicht heiraten, und der Graf hatte sich damit abgefunden, statt dessen die jüngere Schwester zu heiraten.

Emily merkte erst, was vorging, als sie den Pfarrer in feierlichem Ton fragen hörte: »Willst du, Emily Martha Patterson Anstey, diesen Mann zu deinem rechtmäßigen Ehemann nehmen?«

Automatisch antwortete sie: »Ja«, und dann wartete sie darauf, daß der Graf losbrüllte, es sei alles Betrug.

Aber er sagte nichts.

Betäubt und schockiert stand Emily wie versteinert da, während sich die Hochzeitszeremonie hinzog. Wie in Trance gab sie die Antworten, die sie auswendig kannte, da sie schon auf so vielen Hochzeiten gewesen war, und die sie in vielen Frühlingsnächten dem Geliebten ihrer Träume zugeflüstert hatte.

Sie hörte, wie der Graf versprach, sie zu lieben und zu ehren.

Mr. Cummings’ Stimme wurde immer kräftiger. Triumphierend strebte er dem Ende des Gottesdienstes zu.

»O barmherziger Gott, himmlischer Vater, der du Mann und Weib geschaffen, wir flehen dich an, sei mit deinem Segen diesen zwei Menschenkindern gnädig, daß sie fruchtbar sind und sich mehren und zusammenleben in göttlicher Liebe und Aufrichtigkeit …«

Sich mehren! dachte Emily und fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Ihre Stirn brannte. Die Stimme des Pfarrers schien sich zu heben und zu senken.

Schließlich war alles vorbei. Sie warf den Schleier zurück, wobei ihr die übereifrige Cousine Bertha tolpatschig behilflich war.

Die Augen des Grafen durchbohrten sie. »Willkommen, Ehefrau«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.

Ich bin mit ihm verheiratet, dachte Emily schwach. Oh, was habe ich getan?

Liebe ist kein Spiel/Wer von Liebe träumt

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