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Kapitel 2

Fino

Bei Asyas Anblick wird mein Herz schwer. Die alte Frau, die nicht nur die Wunden des erbitterten Kampfes gegen meinen ärgsten Feind, sondern auch die meiner Seele mit ihrem großen Wissen geheilt hat, lehnt keuchend an einem Felsen. Myra sitzt daneben und spricht leise zu ihr, während sie ihr sanft über die weißen Haare streicht. Nicht weit entfernt entdecke ich Gundo, Myras Gefährten. Er ist umringt von ein paar Männern, die gestikulierend auf ihn einzureden scheinen. Sie alle haben sich in den letzten Tagen abgemüht, Asya bis an diesen Ort zu tragen, nachdem deren Kräfte immer mehr am Schwinden waren. Der Blick der Alten ist glasig. In letzter Zeit waren ihre Worte oft verworren, als müsse sie sich selbst durch das Dickicht ihrer Gedanken wühlen.

»Wie geht es ihr?«, fragt Elin leise.

Ich zucke zusammen, als Myra zu uns hoch sieht. In ihren großen rehbraunen Augen liegt unendlich viel Traurigkeit. Die Schwester meines besten Freundes Inde ist jung, die Geschehnisse haben sie allerdings schneller reifen lassen als ein Samenkorn die Erde durchstößt. Nicht mehr lange, dann wird sie selbst Mutter.

»Wir können nicht viel für sie tun, Fino«, sagt Myra und macht dabei Platz für Elin. »Das Atmen fällt Asya immer schwerer.«

»Bei den meisten, die in der Höhe mit Luftproblemen zu kämpfen hatten, ist es mit der Zeit besser geworden.« Ich kratze mich verzweifelt am Hinterkopf. »Warum nicht bei ihr?«

»Sie ist alt.« Myra steht auf. Sie schlingt die Arme um sich und sieht in die Ferne. »Asya sagt, dass ihr Herz nicht mehr hinterher kommt. Es verliert seine Kraft.«

»Nicht jetzt«, fluche ich so laut, dass mir Elin einen mahnenden Blick zuwirft.

Wie viele Sonnenläufe ist es her, dass wir uns auf den Weg gemacht haben? Dreimal hat sich der Mond bereits gefüllt, jetzt ist nur eine schmale Sichel zu sehen. Tag um Tag haben wir zu Irsa, der Göttin, gebetet haben, uns den Ort aus Asyas Vision finden zu lassen. Längst habe ich aufgehört sie zu zählen. In meinen dunkelsten Momenten habe ich bereut, keinen anderen, keinen besseren Ausweg gewusst zu haben. War Flucht wirklich die beste Entscheidung? Eine Flucht über die unwegsamen Bergriesen der Moragen, nicht wissend, was dahinter auf uns warten würde? Nur um zu erkennen, dass sich eine Bergkette nach der anderen aneinanderreihte. So hoch, dass wir die Waldgrenze viele Male hinter uns lassen mussten. So gefährlich, dass ich nie aufhören durfte, um das Leben der mir anvertrauten Menschen zu bangen.

Sieben Opfer hat der Berg zu sich gerufen. Schwäche und Alter haben zugelassen, dass wir drei der ältesten Fens betrauern mussten. Drei weitere, deren Schritte zu unachtsam gesetzt worden waren. Mitanzusehen, wie Onaki, Enya und die kleine Isa die Felsen hinabstürzten und uns jede Möglichkeit der Hilfe genommen war, ließ uns der Verzweiflung näher rücken. Auch Elins Mutter hat es nicht geschafft. Meine Gefährtin verliert nie ein Wort darüber. Die Unversöhnlichkeit der beiden hielt bis zuletzt an. Hinzu kam der offen ausgetragene Hass auf mich. Am Ende war Sare ein Fehltritt zum Verhängnis geworden. Damit hat sie die mühsam unterdrückte Wut auf ihre Tochter und auf ihr eigenes ungerecht empfundenes Schicksal mit in die Tiefe genommen.

Oh Irsa, du Göttliche, sag, sind wir am richtigen Ort angekommen?

Mit vielem haben Elin und ich gerechnet, als wir uns mit dem Rat der Seherinnen und Asya berieten und unsere Leute darum baten, noch einen weiteren, vielleicht einen letzten Berg zu erklimmen. Mit schroffen Felshängen, die uns den Weg versperrten und uns zu einem kräftezehrenden Umweg zwangen. Weil sich das Tal, in dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, als zu schmal und unwirtlich erwiesen hatte. Niemand von uns hatte in seinen kühnsten Träumen daran gedacht, Wasser im Überfluss zu finden.

»Es ist nicht gerecht.« Eine einzelne Träne rollt über Myras Wange. »Asya hat es so weit geschafft. Ich wünschte, ich hätte noch etwas von den Kräutern aus unserer Höhle.«

»Du kannst nichts dafür, Myra.«

Behutsam lege ich einen Arm um ihre Schulter und lenke sie ein paar Schritte weg. Weg von dem Krankenlager und den anderen Seherinnen, deren Mienen wachsam auf ihre Anführerin gerichtet sind. »Du hast dein Bestes getan. Ich weiß doch, wie viele Pflanzen du unterwegs gesammelt hast und ...«

»Aber ich weiß noch lange nicht genug über diese fremden Kräuter«, unterbricht mich Myra aufgewühlt.

Wie müde sie aussieht. Habe ich ihr angesichts ihres Zustandes zu viel zugemutet? Noch sieht man erst eine kleine Wölbung, doch die Art und Weise, wie sie ihre Hände in abwesenden Momenten auf den Bauch legt, zeigt, wie sehr sie sich mit dem Gedanken vertraut macht, ein Kind auszutragen. Was, wenn sie sich überfordert hat, als sie vorschlug, sich um Elins Großmutter zu kümmern?

»Jetzt kannst du dich ausruhen und anderen die Pflege überlassen.«

Myra schüttelt energisch den Kopf. »Das meinst du nicht im Ernst, Fino! Ich lasse Asya nicht im Stich!«

»Schon gut.« Ich hebe die Hände.

Wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass mich Myra schwer verletzt aus den brennenden Trümmern einer unserer Hütten gezogen hat. Während die Thuns in unser Dorf eingefallen waren und es mordend in Brand gesteckt hatten, war ich Pollis, dem Sohn ihres Anführers, in einem fast aussichtslosen Kampf gegenübergetreten. Am Ende hatte ich ihn besiegt. Doch zu welchem Preis? Myra hatte mich gestützt, als wir die Toten unseres Dorfes beklagten, hatte meine Entscheidung zu fliehen nicht in Frage gestellt, und dabei doch ihre ganze Familie verloren. Wie tief muss sich der Verlust in ihr Herz eingebrannt haben. Ihr Herz, das jetzt für zwei schlägt. Verzeih mir Inde, mein Freund. Ich weiß, dass deine Schwester bereits viel zu viel Leid für ihr junges Leben gesehen hat.

»Du bist eine großartige Heilerin geworden, Myra. Inde wäre stolz auf dich, wenn er dich jetzt sehen könnte. Deine Familie, sie alle ...«, ich gerate ins Stottern.

Schon auf unserer Flucht aus dem brennenden Dorf war ich daran gescheitert, die richtigen Worte zu finden. Solche, die den Verlust weniger schmerzhaft machen könnten.

Es ist schön, wenn du von ihm sprichst. So bleibt er in den Erinnerungen lebendig.

Myra hatte bei diesen Worten geweint und mich gleichzeitig gebeten, sie nicht zu schonen.

»Er fehlt mir. Seine Launen. Die Neckereien. Inde hätte sich jeden Tag beschwert, dass es nichts als jämmerliche Gräser und verschrumpelte Beeren zu essen gibt.«

Um Myras Mundwinkel zuckt es. »Mich würde er bestimmt damit aufziehen, dass ich mal wieder mit dem Kopf durch die Wand möchte. Du kennst seine freche Zunge.«

»Und wie«, ich lache befreit auf, »sie hat ihm so manchen Ärger eingehandelt.«

»Ob Inde sich gut mit Gundo verstanden hätte, wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hätten, was meinst du?«

»Sicher! Und deine Mutter erst! Sie wäre so froh über dein Glück, Myra.«

Gundo ist ein guter Mann. Und dazu ein Laxis. Ein Leben lang wird er für jeden sichtbar die Brandnarben des Überfalls auf unser Dorf auf seinem Körper tragen. Was ihn anfangs daran zweifeln ließ, ob er Myra seine Gefühle gestehen sollte. Doch er fand in Zeiten der Trauer die richtigen tröstenden Worte und gab Myra den Halt, den sie brauchte, um so etwas wie eine Zukunft zu sehen. Ich bin dankbar, dass sich die beiden gefunden haben. So wird der Stamm der Laxis nicht untergehen.

»Myra, geh mit Gundo zusammen an den See. Elin und ich kümmern uns um Asya.« Ich drücke Myra die Hand und weise mit dem Kopf in die Richtung. Dorthin, wo sich diejenigen, die den See erreicht haben, gegenseitig in die Arme fallen, ans Wasser stürzen und ihren Durst stillen. Ich hoffe für Myra, dass sich Freude in ihrem Herzen breit machen kann, wenn sie diesen besonderen Moment mit Gundo teilt. Sie hat es mehr als verdient, glücklich zu sein.

»Vielleicht finde ich dort unten auf dem feuchten Boden neue Kräuter.« Myra spricht leise, mehr zu sich selbst. Sie dreht ihr Gesicht in den Wind und schließt für einen Moment die Augen.

»Du hast alles versucht, Myra. Asya hat keinen Weg gewusst, wie wir ihr helfen können. Sie ist eine Seherin, vergiss das nicht.«

Ich höre ein Aufschluchzen. »Es ist, als ob Asya für all diejenigen steht, für die ich nicht da sein konnte. Ich möchte sie nicht gehen lassen.«

»Das verstehe ich.«

»Wenn ich wenigstens wüsste, wie meine Mutter oder Inde sterben mussten ...«

»Quäl dich nicht, Myra.« Ich fasse die junge Frau an den Schultern und rede eindringlich auf sie ein. »Ich weiß, wovon du sprichst. Der Tod ist Teil des Lebens, schon immer. Sobald wir uns an einem sicheren Ort niederlassen, werden wir unserer Toten gedenken. Und einen Ehrenstein in der Mitte des Dorfes aufstellen.«

Myra wirft mir einen seltsamen Blick zu. »Du glaubst nicht, dass es hier sein wird?«

Ein Frösteln legt sich auf meine Arme. So sehr ich es mir wünsche, mit den anderen in Jubel auszubrechen, es gelingt mir immer noch nicht. Obgleich dieser Ort so viel mehr verspricht, als wir alle erhofft haben. Irgendetwas tief in mir sträubt sich.

Mein Schweigen deutet Myra auf ihre Weise. »Was sagt Elin dazu?«

»Sie weiß es nicht.«

»Dann sprich mit ihr!«

»Es ist nur ein Gefühl, Myra.« Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. «Als läge ein schwerer Stein auf meiner Brust. Dabei bin nicht ich derjenige mit der Sehergabe.«

»Und genau darum musst du mit Elin sprechen. Vielleicht kann sie dir mehr Antworten geben.«

»Meinst du, dass Asya diesen Ort in ihrer Vision gesehen hat?«

»Möglich ist es«, sagt Myra ausweichend. Sie zieht die Brauen zusammen, während sie in die Senke blickt. »Der Berg ist wie ein Fremder, das Tal eine Vertraute. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber in einem Tal leben.«

»So geht es mir auch, Myra. Wir haben schon immer in der Ebene am Fluss gelebt, dort war unser Zuhause. Ich weiß nicht ...«, ich stocke, »ob wir für ein Leben am Berg geschaffen sind.«

»Dann lass es uns ausprobieren, Fino.« Myra wendet sich um. »Ich gehe jetzt mit Gundo nach unten. Alles andere wird sich fügen.«

Wie weise sie ist, die kleine Schwester meines besten Freundes. Für einen Moment bleibe ich am Grat stehen, allein mit meinen Gedanken. Warum habe ich mich Myra anvertraut? Hätte ich meine Bedenken nicht eher mit Elin teilen sollen? Innerlich winde ich mich gleich einer Schlange um eine ehrliche Antwort. Myra ist eine Laxis. Jeder Stein in unserem Dorf war ihr genauso vertraut wie mir. Myra hat verloren, was auch ich verloren habe. Die Heimat. Die neu zu finden wir seit heute hoffen können.

»Asya, kannst du mich hören? Ich werde dich jetzt den Berg hinunter tragen.« Ich knie neben Elin und suche den Blick der alten Seherin.

Elin hält die knochige Hand der alten Frau in ihrer und schüttelt traurig den Kopf. »Ich versuche schon die ganze Zeit, zu ihr durchzudringen. Es ist, als hätte sich ihr Geist zurückgezogen.«

»Wir haben Wasser gefunden. Bald wird es dir besser gehen.« Vorsichtig lege ich einen Arm unter den ausgemergelten Körper und hebe ihn hoch. Ich spüre jeden einzelnen Knochen. Meine Schulter beschwert sich beim Anheben, ich lasse mir allerdings nichts anmerken.

»Großmutter, wir sind da. Wir haben deinen Ort gefunden.«

Das Lächeln, das sich über Elins Gesicht zieht, stimmt mich nachdenklich. Ich hätte es ihr doch sagen sollen.

Während ich so achtsam wie möglich den Berghang hinunter gehe, nagen Elins Worte an mir. Ist sie sich sicher und bin nur ich derjenige, der sich rastlos fühlt? Ich denke an die Nacht des Sonnenwendfeuers zurück.

Ich, Fino von den Laxis, werde der Mann an deiner Seite sein, mit dem du dein Volk in eine neue Heimat führen wirst.

Diese Worte haben sich in meine Seele gebrannt. Ich sehe den Moment noch genau vor mir. Als ich das Feuer gewaltsam zum Erlöschen gebracht und mich Elins Mutter einen Verräter genannt hatte. Ohne auch nur einen Augenblick des Zögerns hatte mich Elin, die Frau aus meinen Träumen, vor den Augen ihres Stammes zu ihrem Gefährten erwählt. Mich, der die letzten meines Stammes über die Berge ins nächste Tal geführt und sie bei den Fens in Sicherheit gewogen hatte. Nur um mitzuerleben, wie der grausame Thane von den Thuns mit seinen Kriegern auch in deren Tal einfiel. Er hätte keinen besseren Zeitpunkt dafür wählen können. Die Fens waren zur Feier des längsten Tages auf den Berg gestiegen, um der Göttin Irsa mit einem großen Feuer zu huldigen. In letzter Sekunde hatte ich verhindern können, dass dieses Feuer weithin für jeden sichtbar gewesen wäre. Am Ende war uns nichts anderes als der Aufbruch geblieben.

Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Ich fühle mich steif, die Muskeln in meinem Bein sind hart, als mute ich ihnen zu viel zu. Automatisch ziehe ich das Bein nach. Mein Atem geht schwer. Ich bin erleichtert, als wir die Ebene erreichen. Meine Kräfte sind unter dem Gewicht der alten Frau schnell geschwunden.

Elin und die anderen Seherinnen wählen ein Lager in der Nähe des Seeufers, geschützt hinter einem Busch, und ich bette Asya vorsichtig auf das ausgebreitete Fell. Sofort bilden die Frauen einen Kreis und beginnen mit ihrem Gesang. Schwach und entkräftet die Körper, aber die Stimmen von Luna, Sori, Kala und Nasren tragen weit über das Wasser. Ich beobachte, wie die Fens innehalten, als würden sie sich in ihren Gedanken den Gebeten der Seherinnen anschließen. Mitten unter ihresgleichen meine Seelengefährtin. Sanftes Licht umgibt Elin. Sie ist von ihrem Volk auserwählt, zu Irsa zu beten. Dazu bestimmt, Asya zu folgen und den Rat der Seherinnen zu leiten. Die Luft ist erfüllt vom Gesang, ergreifend traurig und schön zugleich. Die Fens rücken zusammen, halten sich bei den Händen. Dieser Moment hat etwas Ehrfürchtiges an sich. Auch ich senke den Kopf und bete zu Irsa um ihren Segen, wie es bei uns Laxis Sitte ist.

Anschließend begebe ich mich zum Ufer des Sees. Die intensive Dunkelheit seines Blaus lässt nicht erkennen, wie tief er ist. Obgleich der Wind hier unten nur schwach über die Hügel streicht, kräuselt sich das Wasser in seiner Mitte. Vorsichtig strecke ich die Zehen hinein. Angesichts der unerwarteten Kälte ziehe ich sie schnell zurück. Erst jetzt knie ich mich auf den Boden und schöpfe mit hohlen Händen die ersten kostbaren Schlucke.

»Man kann den Grund nicht sehen.« Der Gesang ist verhallt, als Elin neben mir auftaucht.

»Es sieht schön aus, wie sich die Felsen in ihm spiegeln.«

Elin beugt sich tiefer und lässt die Hände sanft durch das Wasser gleiten. »Ich mag die Ruhe, die von ihm ausgeht.«

»Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.«

»Keine Sorge, freiwillig wird niemand in den See steigen. Dafür ist er viel zu eisig.« Sie lacht hell und fast schon kindisch auf. »Meine Hände frieren fast ab.«

Nasren, die schmächtige Seherin mit den faltigen Händen, füllt neben uns Wasser in eine Kelle.

»Brauchst du Hilfe?«

»Danke, es geht schon. Ich hoffe, Asya tut das kühle Wasser gut.«

Mein Blick folgt ihr, über das Lager der alten Seherin hinweg, hin zu den Hügeln, auf denen sich die Menschen wie fleißige Ameisen verteilen. Sie prüfen den Boden, suchen nach Essbarem, nach Holz, nach einem geeigneten Schlafplatz, wie sie es an jedem Ort getan haben, an dem wir bisher gerastet haben. Nur, dass es dieses Mal für immer sein soll. Ich schenke Elin ein hoffnungsvolles Lächeln und nehme sie bei der Hand, während wir aufstehen.

»Ist alles so, wie du hinter den Schleiern gesehen hast?«

Elins kurzes Zögern führe ich auf ihre Ergriffenheit zurück. »Vergiss nicht, noch sind es Asyas Visionen, die uns lenken.«

Nachdenklich schüttle ich den Kopf. »Aber deine Seherinnengabe ...«

»Bildet sich erst voll aus, wenn ich ihren Platz eingenommen habe.«

»Da hat mir dein Bruder aber ganz Anderes erzählt.«

»Er hat übertrieben. Meine Visionen reichen längst nicht an die von Asya heran.«

»Und trotzdem hast du uns hierher geführt.«

Elin wendet sich zu mir und legt die Hände auf meine Brust. »Wir beide, Fino. Nur gemeinsam sind wir so stark wie ...«, sie lächelt verschwörerisch und ich sehe ihren Blick über meine Schulter hinweg wandern, »wie der mächtige Fels dort drüben.«

Mir entweicht ein amüsiertes Glucksen. »Möge der Fels niemals ins Wanken geraten.«

»Möge er uns seinen Schutz anbieten und wir uns in seinem Schatten betten. Nur du und ich.«

Aufgewühlt nehme ich das Funkeln in Elins Augen wahr. In diesem Moment gibt es nur uns beide.

Mit der wilden Sehnsucht in unseren Herzen.

Von Verlusten zerrissen.

Von der einen Hoffnung zusammengeschweißt. Der Hoffnung auf einen Neuanfang.

Ich überwinde den letzten Lufthauch, der uns trennt, und nehme Elin in die Arme. Umwinde sie mit der Kraft meines Brans, spüre das Zittern, das augenblicklich durch ihren Körper geht. Meine Hand fährt ihren Nacken hoch. Meine Nasenflügel blähen sich auf. Ich sauge den Geruch ihrer Haut ein, nach Erde, würzigen Kräutern und dem scharfen Schweißgeruch, der auf ihrem Hals liegt. Wie ein ausgehungertes Wild lechze ich nach mehr.

»Später«, höre ich den Hauch von Elins Stimme, während sie sich sanft von mir löst. »Später, Fino.«

Meine starke Gefährtin. Ich nehme einen tiefen Atemzug und richte den Blick auf den See. Das Licht verändert sich schneller als gedacht. Eben noch lag er verheißungsvoll vor uns, jetzt liegen die ersten Schatten des Abends über dem Wasser.

Ich kneife die Augen zusammen, versuche mehr zu erkennen, womöglich unsere Zukunft zu sehen. Auf der einen Seite des Sees beginnt das flache Plateau, das bis an den steilen Felsen reicht. Er ragt weit in den Himmel. Ein stolzer Wächter, der mich an das Dorf der Fens und an die beiden Felsen an dessen Zugang erinnert. Hinter dem See steigen die Hügel wieder an. Das zarte Grün an vielen Stellen lässt auf fruchtbaren Boden hoffen.

Ohne, dass wir uns absprechen müssen, folge ich Elin auf das Plateau. Wie auf ein unsichtbares Zeichen verstummen die Menschen und ich erhebe die Stimme. Gleich einem Blinden, der sich in der Dunkelheit zurechtfindet, fließen die Worte aus mir heraus.

»Fens und Laxis, wir sind stolz auf euch. Euer Mut und eure Zähigkeit gehören belohnt. Lasst uns zur Ruhe kommen und diesem Ort freundlich begegnen. Noch heute Abend werden wir ein Feuer entzünden und Irsa Dank sagen.«

In dem Moment, in dem Elin ihre Faust auf die Brust legt, weiß ich, dass ich die richtigen Worte gefunden habe. Mit bewegter Stimme spreche ich weiter.

»Seid dennoch sorgsam und vorsichtig, niemand sollte sich zu weit entfernen und schon gar nicht allein. Möge Irsa, die Göttliche, diesen Ort segnen.«

»Möge Irsa gnädig auf uns blicken», vollendet Elin meine Rede.

»Möge Irsa gnädig auf uns blicken«, folgt es im Chor dreimal aufeinander.

Ein Gefühl der Ergriffenheit erfasst mich, als ich zu den Menschen blicke, die fortan mein Stamm sein werden. Sie alle haben ihre Faust auf die Brust gelegt und jubeln uns zu.

»Fino! Elin!«

Mein Herz pocht und mein Bran summt für die Frau an meiner Seite.

Gefährtin. Seelenpartnerin. Feuerfrau.

Nachtfunke, die du mich zum Glühen bringst.


Nachtfunke 2

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