Читать книгу Nachtfunke 2 - Marion Hübinger - Страница 9

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Kapitel 6

Elin

Das Licht der Tage nimmt schnell ab. Sie weiß nicht, ob das Halblicht mit ihr spielt. Tag und Nacht verschwimmen. Die Wolken werden dichter, legen sich wie Nebel über Fels und Gras. Nicht ein Blick ist ihr gewährt auf das, was dahinter liegt. Die Schleier wehen achtlos im Wind. Kälte zieht auf.

Am Ende jeden Tages ist Elin erschöpft und aufgedreht zugleich. Sie sehnt sich nach dem erlösenden Schlaf und kann dennoch keine Ruhe finden. In ihrem Kopf arbeitet es ständig weiter. Wenn sie sich nicht um alles gleichzeitig kümmern müsste! Da ist ein Kind mit Bauchschmerzen, die Sorge um die kalten Nächte, weil erst eine winzige Höhle gefunden wurde, im nächsten Moment gilt es einen Streit zweier Familien um den besseren Schlafplatz in der Nähe des Felsens zu beenden. Dazu kommt die Einteilung der spärlichen Nahrung, die die Frauen sammeln und auf offenen Feuerstellen zubereiten: Beerenmus, Beerensuppe, ein Sud aus schmackhaften, aber wenig gehaltvollen Kräutern.

Wann immer sie zwischendurch Zeit findet, begibt sie sich zu ihrer Großmutter. Die Besuche lassen sie immer mehr verzweifeln. Asyas Zustand verschlimmert sich weiter. Selbst Myras Kräuter zeigen keine Wirkung. Und wäre all das nicht schon genug, so schwebt über allem die Sorge um Fino und die Angst davor, dass er und die anderen nicht zurückkommen könnten.

Erst in der Stunde zwischen Tag und Nacht, wenn das Licht dem dunklen Streifen hinter den Bergen weicht und das erste Funkeln am Himmel zu sehen ist, wagt sie einen Blick hinter die Schleier. Mit bangem Herzen. Steht sie nicht hier an einem Ort, an dem die Kraft aller zu spüren ist? Ist sie nicht mehr als bereit zu sehen? Das Halblicht gibt nichts preis. Nichts als eine Welt, die in Weiß getaucht ist. Eine noch ungeschriebene Geschichte.

Weißes Land, wo bist du?

Lauern dort Gefahren? Gibt es etwas, vor dem sich Fino fürchten muss? Ist er, sind sie alle auf dem richtigen Weg? Im Takt der Axt, die das Holz spaltet, jagen ihre Gedanken vorbei. Wo ist die Zuversicht früherer Zeiten hin, als der junge Anführer ihr Bran zum ersten Mal berührt hat? Dort hinter den Schleiern, die alles offenbaren.

Fino

Wir sind den vierten Tag unterwegs. Zwischendurch war selbst ich versucht, Dragons wiederholtem Drängen nach einer Umkehr nachzugeben. Das Vorankommen wurde auf langen Strecken immer beschwerlicher. Noch etliche Male mussten wir einen neuen Weg einschlagen und nach Möglichkeiten für den weiteren Abstieg suchen. Kann ich unseren Leuten all diese Strapazen aufbürden? Wenn nicht endlich die ersten Baumwipfel unterhalb eines Hügels aufgetaucht wären, wäre ich Opfer meiner eigenen Verzweiflung geworden.

Es ist schließlich der Schmied, der uns anspornt. »Los jetzt, endlich ist Wald in Sicht, das ist doch mal was Gutes.»

Wir klettern einen letzten Steilhang hinab, größtenteils rückwärts und mithilfe der Hände, weil der Felsen derart zerklüftet ist, dass er anders nicht zu überwinden ist. Jeder von uns kommt am Ende mit zerschrammten Knien oder Handflächen an, trotzdem hat sich der Abstieg gelohnt. Es ist, als hätten wir einen kleinen Sieg errungen. Aufgeregt erreichen wir den Wald, obgleich er nicht mehr ist als eine Ansammlung von dürren Riesen, die wild wucherndes Blattwerk tragen.

»Bleibt zusammen«, sage ich, aber keiner der Männer hört auf mich. Sie laufen aller Vorsicht zum Trotz auf die Bäume zu. Schneller als mir lieb ist, verschluckt sie der Wald. Ich höre Rufe, Lachen, und beobachte den Schmied, wie er auf den erstbesten Stamm klopft.

»Es ist gutes Holz, Fino«, ruft er mir zu.

Statt zu antworten gehe ich zu ihm und lege die Hand an die Rinde. Mein Blick wandert hinauf bis an die Baumspitzen. Vom Himmel ist kaum etwas zu sehen. Störrische Zweige ragen an allen erdenklichen Stellen heraus, als wollen sie zeigen, dass sie hier das Sagen haben. Herabgefallene Nadeln bedecken den Boden. Ich umrunde den Baum, während der Schmied weiter geht. Die dicksten Äste hängen tief, fast bis auf Kniehöhe. Hier und da wachsen Moose, wölben sich Wurzeln aus der Erde. Die Luft hat seit gestern noch an Kälte zugenommen, aber sie riecht frisch. Auf einmal fällt ein Tropfen auf meine Nasenspitze. Schon kurz darauf öffnen die dunklen Wolken, die seit heute Morgen lauernd um den Berggipfel herumgeschlichen sind, ihr nasses Maul. Zum ersten Mal an diesem Tag lächle ich. Der Wald ist ein willkommener Freund, denn er bietet Schutz vor dem Regen.

Als Aso direkt neben mir aus dem Dickicht auftaucht, erschrecke ich beinahe. »Komm, Fino, wir suchen nach einem trockenen Plätzchen.«

»Wo sind die anderen?«

»Ein Stück voraus, sie warten auf uns.«

»Gut, wir sollten zusammenbleiben.«

Aso lacht hell auf. »Was soll schon passieren?«

»Wir kennen dieses Land nicht, vergiss das nie, Aso. Ein Anführer muss immer mehr im Blick haben als ...«

Ich beende meinen Satz nicht, denn im selben Moment höre ich ein lautes Rascheln hinter uns. Eines, das nicht hierher passt.

»Was ...?«

»Pst, leise!«

Langsam drehe ich den Kopf. Eine bisher nicht dagewesene Unruhe erfasst mich. Von irgendwoher aus dem Wald droht Gefahr. Es ist mehr eine Vorahnung, denn ich spüre diesen Knoten in meinem Bauch. Mit einer Hand deute ich Aso an, sich nicht zu rühren. Alles in mir ist angespannt, bereit, sofort zu reagieren. Der Regen, der beharrlich auf den Boden prasselt, nimmt mir die Sicht. Doch ich könnte schwören, eine Bewegung zwischen den Bäumen entdeckt zu haben.

Ein Laut, den ich noch nie zuvor gehört habe, dringt zu uns. Wie das Ächzen eines Stammes im Sturm, nur angsteinflößender. Sofort starre ich auf die Stelle, wo ich ein Tier vermute. Ein Wildschwein? Oder ein Wolf? Vorsichtig suche ich nach dem Messer in meinem Beutel. Es ist nicht viel, gibt mir aber trotzdem ein Gefühl von Schutz.

Wieder der tiefe Laut, einem Knurren ähnlich, und doch völlig anders.

»Wa ... was kann das sein, Fino?« Aso hat sich dicht an mich gedrängt. Er zittert, und ich kann es ihm nicht verdenken.

»Beweg dich nicht», zische ich leise. »Erst wenn ich es sage, dann rennst du los. Klettere auf einen Baum, verstanden?«

»I ... in Ordnung.«

Im Stillen fluche ich über meine Dummheit. Wir hätten zusammenbleiben müssen. Es wäre meine Aufgabe gewesen, darauf zu achten. Was ist mit den anderen? Wissen sie um die Gefahr?

»Fino? Wo bist du?«

Ich zucke erschrocken zusammen. Der Schmied ist ganz in der Nähe, doch ich wage es nicht, ihm zu antworten.

»Verdammt, Fino, so sag doch ... argh ... was ist das ... Hilfe!«

Ohne Zögern gebe ich meine Deckung auf und laufe los. Dorthin, wo der Schrei hergekommen ist. Im selben Moment brechen aus dem Wald mehrere Kreaturen hervor. Riesig. Schillernd. Mit wilden Augen und aufgerissenen Mäulern.

»Fino, pass auf!«

»Verschwinde, Aso!«

»Nein! Ich ... autsch, verflucht ...!«

»Renn!«

Mein Blick trübt sich, denn etwas Großes und Dunkles rast auf mich zu. Im letzten Augenblick kann ich ausweichen, indem ich mich auf die Seite schmeiße und unter dem riesigen Körper wegrolle. Sofort springe ich wieder auf. Der Boden ist glitschig. Gerade rechtzeitig drehe ich mich um. Die gewaltige Bestie stürzt ein weiteres Mal in meine Richtung. Ich hechte zur Seite, entkomme ihrem Schwung, und danke Irsa, dass ich im Kampf mit wilden Tieren erprobt bin. Schnell breche ich durch das Dickicht, rutsche auf den feuchten Blättern aus und stolpere förmlich über den Körper des Schmieds. Er wimmert, was kein gutes Zeichen ist. Besorgt beuge ich mich über ihn. Meine nassen Haare hängen mir ins Gesicht.

»Los, steh auf, du musst klettern!«

»Fino, hast du sie gesehen?«

»Natürlich, du musst hier sofort weg!«

»Ich kann nicht, mein Bein ...«

»Du kannst, los jetzt!«

Verbissen hieve ich den schweren Körper des Mannes hoch. Er steht wackelig, aber er steht. Doch schon im nächsten Moment erfordert ein weiteres Knurren meine Aufmerksamkeit. Nein, nicht nur eines. Ich spüre die Tiere mehr, als dass ich sie sehe. Der Widder an meinem Arm pulsiert heftig. Was täte ich jetzt für einen Speer! Mein Mund ist trocken. Als der Schmied schmerzhaft nach meiner Schulter greift, unterdrücke ich einen Aufschrei.

Aus einem Impuls heraus schubse ich den Schmied von mir und stoße gleichzeitig auf das angreifende Tier mit dem Messer ein. Ein sinnloser Versuch. Denn jetzt sehe ich mich dem massigen Monstrum und seinen weit ausholenden spitzen Hörnern gegenüber. Heißer Atem strömt aus dem gewaltigen Maul. Ich gehe rückwärts. Stürze. Krieche auf allen Vieren weiter. Das Tier bläht seine riesigen Nasenlöcher auf. Es riecht die Angst. Oder das Blut.

»Der Baum, Schmied ... du musst ... argh ...«

Etwas Scharfes trifft meinen Rücken. Es fühlt sich an, als würde er aufgeschlitzt. Panisch reiße ich den Kopf herum. Ein zweiter Hornträger. Schwarz, das Fell feucht und glänzend wie Schlangenhaut. Instinktiv springe ich mit hochgezogenem Bein hoch und mein Fuß tritt gegen ein Gesicht aus Augen, Maul und Zähnen. Schmerz jagt durch mein Hirn. Trotzdem robbe ich weiter, bis ich einen Stamm in meinem Rücken spüre.

Lauernd bewegt sich die Kreatur weiter. Ich behalte sie genau im Auge, während ich langsam die Arme hebe. Meine Hände tasten nach einem Ast über meinem Kopf. Und einem weiteren. Der Schmerz in meinem Rücken raubt mir fast die Sinne. Ich muss klettern! Mir bleibt nur die eine Chance. Doch ich begehe den Fehler, mich nach dem Schmied umzusehen. Und schreie auf.

»Nein!«

Das andere Tier erwischt ihn im Rennen mit der Wucht seines Absprungs und begräbt den Schmied unter sich. Ein hohes Blöken, Hörner, die sich in Fleisch graben, panische Schreie, alles vermischt sich mit meinem eigenen Entsetzen.

In einer hektischen Bewegung springe ich auf, packe nach dem erstbesten Ast und ziehe mich hoch. Nicht schnell genug. Mein Fuß rutscht ab. Das Monster reagiert sofort, verbeißt sich in meine Wade. Seine gewaltige Masse zerrt an mir. Meine Finger rutschen. Wie soll ich mich festhalten? Mit letzter Kraft trete ich nach den Hörnern des Tieres. Haut reißt. Blut spritzt. Vor meinen Augen flimmert es. Oh göttliche Irsa, hilf! Ich sehe Elin, meine Mutter, Kanoa und Inde, mein Freund ... mit einer letzten Kraftanstrengung hebe ich die Beine nach oben und ziehe mich weiter hoch. Stück für Stück.

Mein Angreifer gibt einen lang gezogenen, eindringlichen Ton von sich. Er umkreist den Baum. Unermüdlich. Mit seinen Hörnern rammt er mehrfach den Stamm. Vergeblich. Was ihn noch wütender zu machen scheint. Mit Grauen sehe ich das Bild des zerfleischten Schmieds vor meinen Augen, als sich die zweite Kreatur dazu gesellt. Die Spitzen der Hörner blutgetränkt. Die beiden brüllen um die Wette.

Meine Arme zittern. Von den Beinen ganz zu schweigen. Ich atme hektisch, noch immer im Bann der Panik. Wo zwei dieser Art sind, können noch mehr sein. Allein die Vorstellung macht mich wahnsinnig. Wo sind Aso, Dragon und die Zwillinge? Wie kann ich sie warnen? Mein Rücken brennt, als läge er direkt im Feuer. Ich beiße mir die Lippen blutig, um nicht vor Schmerzen zu schreien.

Die beiden Kreaturen, langbeinig, doch mit der Masse eines Wildschweins ausgestattet, schnuppern den Boden ab. Als suchten sie nach einer neuen Fährte. Immer wieder stoßen sie dabei mit ihren Hörnern aneinander.

Mit der Zeit werde ich müde. Aber auch die Bewegungen der Tiere werden immer unkontrollierter. Liegt es an der Dämmerung, die sich über den Wald senkt, dass sie sich zurückziehen? Oder daran, dass die Tiere im Dunkeln ebenso wenig sehen können wie ich? Mit klopfendem Herzen beobachte ich, wie sie aus meinem Blickfeld verschwinden. Erst dann erlaube ich mir, die Augen zu schließen. Zumindest für einen kurzen Moment. Es wäre fatal, jetzt einzuschlafen. Vorerst verbirgt mich die Nacht. Allerdings verbirgt sie damit auch die Gefahr. Und den Tod.


Nachtfunke 2

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