Читать книгу Nachtfunke 2 - Marion Hübinger - Страница 8
ОглавлениеKapitel 5
Elin
Wolken türmen sich auf, dicht und ungestüm. Sie ergreifen Besitz von den Gipfeln der Berge, verdunkeln die Welt, nehmen alles in sich auf. Es ist das, was sie nicht sieht, das ihr den Atem raubt. Sie zwingt sich zur Ruhe. Es muss mehr geben, irgendwo hinter dem Halblicht wird sie die Antwort finden.
Eng liegt Elin an den Körper ihres Gefährten geschmiegt. Die Nacht ist kühl. Ihr ist kalt. Das Feuer allein genügt kaum noch, um sie zu wärmen. Seit sie hinter die Schleier gesehen hat, seit sie vor dem Rat zugeben musste, wie wenig ihre Gabe von Nutzen ist, ist etwas in ihr erstarrt. Niemals zuvor hat sie sich derart hilflos gefühlt. Sie sollte dankbar für die Wärme sein, die Finos Körper ihr spendet.
Doch Fino wird gehen. Und es zerreißt sie innerlich zu wissen, dass sie sich trennen müssen. Sie weiß, dass seine Gedanken selbst hier auf ihrem Lager in die Ferne schweifen. Über den Berggrat hinweg, auf der Suche nach Antworten, die sie nicht geben kann. Liebevoll legt sie die Hand auf seine Brust. Die Unruhe hat sich dort eingenistet wie ein hartnäckiger Feind.
»Meinst du, es ist ein Fehler?«
»Was glaubst du?«, fragt er, statt zu antworten.
Ihre leisen Worte verlieren sich in der Dunkelheit. »Du hast die Argumente auf deiner Seite.«
»Aber was denkst du wirklich?«
Sie schließt die Augen und lauscht in die Stille, bevor sie sich zu einer Antwort durchringt. »Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.«
»Schon gut, Elin, es ist nicht deine Schuld.«
»Und ob es das ist!« Ihre Stimme zittert.
Es raschelt. Fino stemmt sich auf die Unterarme. Die Glut ist fast heruntergebrannt, und sie ist froh, dass er ihr Gesicht nicht genau sehen kann.
»Als ich versucht habe, mit deiner Großmutter zu sprechen, war ich mir sicher, dass sie mir etwas Bedeutsames sagen wollte. Dass ihre Visionen noch immer ein Teil von ihr sind.«
»Nur weil ihr Körper an Kraft verliert, heißt es nicht, dass ihr Geist nicht weiter auf Reisen geht.«
»Du hast sicher recht, Elin. Aber was sieht dein Geist?«
Sie wünschte, sie könnte ihm eine Antwort geben, die ihm Gewissheit gibt. Dabei spürt sie seine Zweifel, seine stummen Fragen.
Ernüchtert rollt sie sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Was geschieht mit ihr, wenn sie in die Dunkelheit des Halblichts abtaucht? Lange genug hat sie darüber nachgedacht. Immer und immer wieder. Stein für Stein umgedreht. Die Schwärze bleibt. Sie ist wie ein Makel. Schlimmer noch. Ein eitriger Pickel auf der Haut. Wenn ihre Mutter noch hier wäre, würde sie ihr ins Gesicht lachen. Sich bestätigt sehen, dass Asya die falsche Wahl für ihre Nachfolge getroffen hat. Und genau deswegen erstickt Elin jeden Zweifel in seinem Keim. Niemals wird sie ihrer Mutter diese Macht zusprechen, ihre Gabe in Frage zu stellen. Es wäre, als ob sie am Ende doch noch siegen könnte. Über ihren Tod hinaus.
Auf einmal spürt sie Finos Atem an ihrer Halsneige. Gewiss dreht er sich in Erwartung einer Antwort zu ihr. Ihr Herz klopft rasend schnell.
»Es ist, wie es ist. Das Halblicht gibt nur preis, was ich sehen soll.« Sie nimmt einen tiefen Atemzug. »Ohne meine Sehergabe hätte ich dich jedoch niemals gefunden.«
»Dafür werde ich bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Aber jetzt ...«, Fino hebt abrupt den Kopf. »Haderst du mit der Entscheidung im Rat, Elin?«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
»Ich vertraue Asya«, antwortet sie mit fester Stimme, »und du solltest es auch tun.« Anschließend bettet sie Finos Kopf zwischen ihre Hände und kommt seinem Gesicht ganz nah. »Asya hat uns ihren Segen für den Aufbruch gegeben. Sie hat eine Zukunft für uns gesehen. Selbst wenn diese nicht hier sein wird, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte.«
Zärtlich fahren ihre Finger über die kurzen Bartstoppeln, seine weichen Lippen, und sie spürt augenblicklich, wie sich ihr Gefährte an sie drängt.
»Mein Krieger«, wispert sie. »Gib auf dich Acht. Ihr seid nur zu sechst, und es kann gefährlich werden.«
»Nicht weniger gefährlich als unser Weg hierher.« Ein tiefes Stöhnen unterstreicht Finos Worte, während sie seine Hand an ihrem Nacken spürt, weil er sie näher an sich heranzieht. Ihre Eule pulsiert sanft unter der Haut. Schauder ziehen über ihren Körper, an jeder einzelnen Stelle, die Fino berührt.
»Ich muss es einfach versuchen, Elin. Gemeinsam müssen wir nach vorne sehen. Die Nächte werden kälter, du spürst es doch auch? Von da, wo wir herkommen, kennen wir diese Kälte nicht. Nicht so, dass man morgens mit Steifheit in den Gliedern aufwacht. Das Essen reicht gerade zum satt werden. Was uns fehlt, sind Vorräte, frisches Fleisch ...«
Ihr Finger legt sich auf Finos Mund. »Ich weiß, was du meinst. Dich und die anderen gehen zu lassen, fällt mir trotzdem nicht leicht. Was, wenn ihr euch verirrt? Oder sich einer von euch verletzt?«
»Wir bleiben zusammen, das verspreche ich dir, Elin.«
Sie ringt nach den richtigen Worten. »Nur wenige Sonnenläufe.«
»Wenn es nur um mich ginge, würde ich dich keinen einzigen Atemzug lang allein lassen. Aber ...«, ihr Gefährte hält inne, »es geht um unsere Stämme. Wir dürfen nichts unversucht lassen.«
»Ich wünschte, ich könnte euch begleiten.«
»Du wirst hier gebraucht, und das weißt du auch. Du hast Mut für zehn, und die Leute vertrauen dir. Lass dich nur nicht von Telman ärgern.«
»Mit dem Dickschädel komme ich schon klar, mach dir keine Sorgen.«
Für den Moment schließt sie die Augen. Sie sieht ihrer beider Wege vor sich. Fino und sie sind Seelengefährten, vereint durch ein unlösbares Band, weil ihr Bran füreinander summt. Ihre Wege sind vorherbestimmt, von Geburt an. Nicht, dass es leicht ist, die Auserwählte zu sein. Wenn sie zurückblickt, dann erinnert sie sich vor allem an die lange Lehrzeit, die ihr wenig Freiraum gelassen und sie unfreiwillig zur Außenseiterin gemacht hatte.
»Hast du nie gezweifelt? Ich meine, auf deinem Weg zum Krieger?«
Schweigen streift über sie wie eine sanfte Windbö. Elin rechnet kaum noch mit einer Antwort.
»Nachdem meine Mutter ...«, beginnt Fino leise und räuspert sich. »Nach dem Tod meiner Mutter bin ich krank geworden. Sehr krank. Ich konnte kein Essen in mir behalten. Allerdings war ich beinahe froh darum. Weil ich dachte, dass ich dann zu schwach wäre, um ein Krieger sein zu müssen. Ich wollte keiner sein. Alles sträubte sich in mir, meinen Vater stolz zu machen. Er hat mir die Suppe regelrecht aufgezwungen, hat mich angestachelt, mich verhöhnt. Am Ende hat er es geschafft, dass ich wieder auf die Beine kam. Nur, um mich kurze Zeit später von sich zu stoßen.«
»Ich bin froh, dass meine Mutter nicht mehr unter uns ist«, presst Elin heraus. »Ist es schlimm, dass ich so denke?«
»Nein, sie war dir so wenig Mutter, wie mein Vater ein Vater war.«
Das Feuer brennt langsam herunter. Sie liegen auf einem abgewetzten Fell, über ihnen der endlose Himmel, ihre Körper eng aneinandergepresst, um der nächtlichen Kälte etwas entgegenzusetzen. Zärtlich streicht sie über den Widder an seinem Oberarm. Ihr Gefährte ist im Zeichen des Schwertes geboren, ein Krieger und noch besserer Anführer.
»Irsa hat deinen Weg begleitet, so hart er auch gewesen sein mag, und sie hat dich zu mir geführt«, sagt sie. »Ich habe es durch die Schleier gesehen. Darum vertraue ich jetzt darauf, dass sie auch diese Entscheidung segnet. Geh mit Irsas Segen, Fino, und komm zu mir zurück.«
Sein warmer Atem in ihrem Gesicht lässt sie erneut schaudern. Ihre Lippen legen sich auf seine, erst sanft, dann immer fordernder. Sie drückt ihn zu Boden, ihre Hände krallen sich in seine Schultern. Ihr Bran schwingt mit seinem, ihr Verlangen wird von einem Augenblick auf den nächsten zu seinem. Sie stöhnt auf, als er seine Hand unter den dicken Umhang schiebt und über ihren Rücken fährt. Sein zufriedenes Brummen bringt sie zum Lachen. Ein befreites Lachen. In dem Moment, indem seine Finger die Rundung ihres Hinterns nachfährt, spürt sie die Erregung am ganzen Körper. Haut an Haut, kühl von der Luft und doch erhitzt von ihrer Sehnsucht nacheinander. Sie möchte mehr, möchte ihn in sich spüren, möchte in Finos dunkle Augen sehen, die so viel Traurigkeit enthalten, möchte ihn zum Stöhnen bringen. Als sie sich aufrichtet und seine Männlichkeit in ihren Unterleib einführt, gibt er einen Siegeslaut von sich, wie es nur ein Krieger vermag. Komm so schnell du kannst zurück, Fino von den Laxis!
Fino
Wir stehen vor einem Abhang, der beinahe senkrecht nach unten führt, das Gras feucht und extrem rutschig. Wir sind durchnässt, denn es hat die ganze Nacht geregnet. Nur ein schmaler Felsüberhang hat uns Schutz geboten. Die Lust auf dieses Unternehmen ist bereits gesunken. Ich kann es den anderen an ihrer Haltung ansehen. An ihren Blicken, die sie mir heimlich zuwerfen.
»Der Berg ist verflucht nochmal steiler als alle, die wir hinter uns haben.« Der Schmied kratzt sich den kahlen Hinterkopf.
»Wir sollten einen anderen Weg suchen«, schlägt Aso vor und sucht mit den Augen die Umgebung ab.
Dragon springt ihm fast ins Gesicht. »Du willst wieder alles zurück? Nicht mit mir!«
Alle haben recht. Auf ihre Weise. Der Fels unter uns wirkt gefährlich steil. Ich gehe ein paar vorsichtige Schritte, setze einen Fuß nach dem anderen fest in die Erde. Es kann funktionieren.
»Lauft quer zum Abhang und haltet das Gewicht zum Berg gerichtet. Lasst uns hoffen, dass es danach einfacher wird.«
Dragon spuckt auf den Boden. »Hoffen, das ist alles, was wir seit gestern tun!«
»Deine schlechte Laune bringt uns dafür weiter, was?«
Ich sollte mich nicht provozieren lassen. Schon gar nicht von Dragon. Seit er mich aus der Höhle befreit hat, hält er diesen Trumpf in der Hand. Um ihn, wann immer es ihm gefällt, gegen mich zu verwenden.
Hast du allen Ernstes gedacht, du kannst es allein mit denen aufnehmen?
Damals hatte ich eine falsche Entscheidung getroffen. Hatte sein Wissen als Überheblichkeit gedeutet und war Thanes Kriegern in die Falle gegangen. Bis heute weiß ich nicht, was passiert wäre, wenn mich Dragon nicht gerettet hätte.
Zerknirscht lenke ich ein. »Wir finden einen Weg ins Tal. Lasst uns nicht gleich an der erstbesten Schwierigkeit scheitern.«
»Ich frage mich die ganze Zeit, wie es die anderen schaffen sollen, wenn wir kaum vorwärts kommen«, sagt der Schmied und wirkt dabei ernster als mir recht ist. »Habt ihr schon mal an die Kinder gedacht? Oder die Alten?«
»Darüber können wir uns später noch Gedanken machen.« Dragon haucht sich in die Hände. »Aber wenn wir hier noch länger stehen bleiben, wird mir verflucht noch mal kalt. Also los!« Er lässt es sich nicht nehmen, mich zu überholen und sich an die Spitze zu setzen. Die Zwillinge heften sich an seine Fersen.
Meine Kiefer mahlen aufeinander, während ich ihnen langsam folge. Wenn ich wenigstens wüsste, dass sich all das lohnt.
»Gestampfter Schweinekot, hier geht´s nicht weiter.« Einer der Zwillinge brüllt laut nach hinten.
»Was heißt, hier geht’s nicht weiter?«
Dragons sieht mir mit finsterem Blick entgegen. »Er meint genau, was er sagt, Fino.«
Mein Puls schießt in die Höhe, als ich die Drei erreiche. Der Abhang wird an dieser Stelle von einer Kluft abgelöst. Ein tiefer Einschnitt voller Geröll und scharfkantiger Felsen, der ein Weiterkommen fast undenkbar macht. Als ob der Berg uns ständig herausfordern will.
In dem Moment kommt der Schmied schwer schnaufend neben mir zum Stehen. »Das sieht nicht gut aus.«
»Sag ich doch«, behauptet Dragon. »Ergibt nicht viel Sinn, weiterzugehen.«
»Das werden wir sehen.« Asos eifriger Versuch, einen Fuß auf die Geröllhalde zu setzen, löst sofort eine Lawine aus Steinen aus. Mit einem Aufschrei rettet er sich auf das feste Gras. »Mann, das kann jetzt nicht sein. Es muss einen anderen Weg geben.«
»Und wo, wenn ich fragen darf?« Dragon funkelt ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Siehst du irgendwo einen Pfad?»
Zum Glück lässt sich Aso nicht aus der Ruhe bringen. Seine Miene bleibt gefasst. »So schnell geben wir nicht auf.«
»Das sehe ich genauso.« Der Schmied stemmt die Arme vor die Brust. »Wir Laxis sind hart im Nehmen.«
»Willst du damit etwa behaupten, wir Fens sind verweichlicht?«
»Ich habe nur eine Feststellung gemacht. Und außerdem ist Aso ja wohl auch ein Fens.«
Dragon wettert weiter. »Er zählt nicht. Sein Vater ist keiner von uns.«
Unmerklich rücken die Zwillinge näher zu ihm, oder bilde ich es mir nur ein?
Fens und Laxis. Zwei Völker, die nur die Not zusammengeführt hat. Wird es immer so sein?
»Wenn es der Wunsch der Gruppe ist zurückzugehen, werde ich mich anschließen. Wir haben alles Menschenmögliche getan, um einen Weg ins Tal zu finden.« Ich bemühe mich um einen versöhnlichen Ton. Wir können uns keine Unstimmigkeiten leisten. Immerhin habe ich Elin versprochen, dass wir zusammenbleiben.
»Was ist, wenn wir an einer anderen Stelle versuchen, die Kluft zu durchqueren? Vielleicht ein Stück weiter oben?«
Aso, dein Versuch ehrt dich, danke.
»Und wie? Besser, wir rutschen gleich auf dem Hintern nach unten.« Dragon grinst zu den Zwillingen, die wie auf ein stummes Kommando anfangen, hämisch zu lachen.
»‘ne Rutschpartie, au ja. Das wäre ein Spaß.«
»Ich schlage vor ...«
»Bemüh dich nicht weiter, Aso«, schneidet ihm Dragon das Wort ab.
Ich stoße die Luft scharf aus. Die Stellung von Elins Bruder unter den Fens war nie eine Ruhmreiche. Aso ist der Sohn eines Fremdlings, eines Dahergelaufenen. Bisher hatte er keinerlei Ansprüche auf eine bedeutsame Rolle in seinem Stamm. Höchstens die eines Sonderlings. Das hatte sich auf unserem langen Marsch allerdings geändert. Jetzt erinnert er mich an einen Krieger. Es würde ihm gefallen, wenn er davon wüsste. Ich beobachte seinen wachsamen Blick und die aufrechte und angespannte Körperhaltung.
»Lasst es uns weiter oben versuchen. Wir mussten schon ganze Felsen umrunden, da werden wir wohl noch einen weiteren Umweg in Kauf nehmen können.«
»Nach oben?« Dragon schüttelt den Kopf. »Was soll dort besser sein? Dieser Einschnitt wird uns nicht den Gefallen tun, wie von Zauberhand zu verschwinden. Oder bist du lebensmüde und willst zurück auf den Grat?«
»Wir sollten abstimmen«, entscheide ich und stelle mich zwischen die beiden Streitenden.
»Ich habe keine Lust, wieder nach oben zu klettern. Das ist völlig abwegig«, stellt Dragon sofort klar. Er schnürt sich den Umhang enger und wirkt entschlossen. Die Zwillinge nicken zustimmend.
»Ich will nach unten, je schneller desto besser«, brummt der Schmied genau in dem Augenblick.
»Dann ist ja alles klar, vier gegen zwei.« Statt meine Entscheidung abzuwarten, dreht sich Dragon um und läuft los.
Ein weiteres Mal lässt er mich spüren, wie wenig er von mir als Anführer hält. Nicht so offensichtlich wie Telman, der jede meiner Entscheidungen ablehnt. Dragon nimmt mich schlicht nicht ernst. Ich balle die Hände zu Fäusten. Es pocht an meinen Schläfen.
Denk daran, dass Besonnenheit der bessere Ratgeber ist.
Kanoas Worte helfen mir, mich zu beruhigen. Mein alter Lehrer hat mir beigebracht, wie ich mich von Hass, Wut oder gar Rachegefühlen frei machen kann. Denn davon hatte ich genug in mir, als mich mein Vater für drei Wildschweine bei ihm zurückließ.
Ich sehe Dragon und den Zwillingen zu, wie sie halb rutschend, halb kletternd vorankommen. Mit einem fragenden Blick wende ich mich zu Aso. Sein knappes Nicken genügt als Signal, dass wir uns ebenfalls in Bewegung setzen. Richtung Tal.
»Na dann, wollen wir unser Glück versuchen.«
Eine Weile hört man nichts als Schnaufen, einen kurzen Japser, wenn sich losgetretene Steine ihren Weg bergab suchen, und vielfaches Fluchen. Ich benötige meine gesamte Konzentration, um den spitzen Felsen auszuweichen und nicht zu schnell ins Rutschen zu geraten. Dabei spendet mir der Gedanke Kraft, dass meine Vorfahren den mühsamen Weg über die Bergketten der Moragen genau wie wir zu Fuß auf sich genommen haben. Genau wie wir haben sie nach fruchtbaren Tälern gesucht. Schon damals muss viel Mut dazu gehört haben, in unbekannte Bergregionen vorzustoßen. Mit leuchtenden Augen und dem Geschmack von Kräuterwasser im Mund haben die Ältesten vor den Feuern im Steinernen Kreis davon erzählt. Jetzt sind es genau diese Geschichten, die mich vorwärts treiben. Die mir Hoffnung geben, mich noch einmal auf die Suche zu machen. Vielleicht wird sie am Ende belohnt, egal, wie laut ein Dragon oder ein Telman über mich fluchen.
»Warum bist du überhaupt mitgekommen?«
Diese Frage lauert seit dem Moment, als wir beschlossen hatten, aufzubrechen, auf meiner Zunge. Zusammen mit Dragon kümmere ich mich darum, aus dem trockenen Gras und Gestrüpp ein Feuer in Gang zu bringen. Die Stelle, die wir für die Nacht ausgewählt haben, ist nicht perfekt, aber besser als nichts. Ein kümmerlicher Grasfleck im Schatten eines Felsens, gerade groß genug, dass wir alle Platz finden. Irgendwann, als die Helligkeit des Tages bereits am Schwinden war, haben wir die Kluft hinter uns gelassen. Sie verschwand unter großem Felsgestein, als hätte es sie nie gegeben.
Dragon hebt den Kopf. Sein Blick ist irgendetwas zwischen überheblich und finster. »Hast du überhaupt gemerkt, wie es Elin geht? Ich meine, hast du sie richtig angesehen?«
»Was soll das?«
»Ich mein ja nur. Dann wüsstest du nämlich, dass sie vollkommen am Ende ist. Sogar ihre Gabe lässt nach, und das hat sie noch nie in all den Jahren, seit ich sie kenne.«
Dragons Ton hat etwas Scharfes an sich, darum muss ich achtsam mit dem sein, was ich sage.
»Wir sind alle erschöpft, das ist nichts Neues, Dragon, und genau darum will ich verhindern, dass ...«
»Was du willst, interessiert im Grunde niemanden!« Dragon beugt sich so nah zu mir, dass ich die hervortretenden Adern an seinen Schläfen sehen kann. »Wir Fens folgen Elin, nur, damit das klar ist. Oder was glaubst du, warum ich hier bin?«
Das Zischeln einer Schlange unmittelbar vor meinen Füßen könnte mich nicht mehr in Erregung versetzen. Wutentbrannt werfe ich ein Büschel Gras in das schwelende Feuer, das nicht richtig in Gang kommen will. Ich bin nicht bei der Sache. Wie auch?
»Ich bin Elins Gefährte«, sage ich entschieden, doch es klingt mehr nach einer Drohung.
»Ein Fremder bist du, ein elender Flüchtling. Elin hat etwas Besseres verdient.«
Meine Faust, in der ich eben noch das Gras gehalten habe, schwingt ungebremst in Dragons Gesicht. Er schreit laut auf und hält die Hand an seine Lippe. Blut läuft an seinem Kinn herunter.
»Du meinst doch nicht etwa dich?«, verhöhne ich Dragon, weil es eine Wohltat ist, mich endlich nicht mehr zurückhalten zu müssen. Dragons Nähe ist wie eine Spitze, die ständig in eine eiternde Wunde sticht.
»Ich kenne sie besser als du!«, speit mir Dragon entgegen und ist schon im nächsten Moment aufgesprungen.
Ich warte nur darauf, dass er zurückschlägt. Angespannt beobachte ich jede seiner Bewegungen, während ich hochschnelle. Dragons Körperhaltung spricht davon, wie sehr er mich hassen muss.
»Wage es ja nicht noch einmal ...«
Genau in dem Augenblick höre ich Stimmen. Dragon muss sie auch bemerkt haben, denn er senkt sofort seine eigene.
»Das ist der einzige Grund, warum ich mitgekommen bin. Um Elin vor deinen schwachsinnigen Ideen zu schützen. Niemals werden wir einen besseren Ort finden, nicht in einer Handvoll Nächte, egal, was du dir erhoffst.«
»Du willst mich also im Auge behalten, ist es das? Besser ich bin mit dir unterwegs, als dass ich mein Lager mit Elin teile, oder?« Die Erkenntnis erheitert mich beinahe.
Selbstverständlich hatte mir Elin anvertraut, dass ihre langjährige Freundschaft mit Dragon einen gewaltigen Riss bekommen hatte, als dessen Bran für sie zu summen begann und sie ihn abgewiesen hatte. Ich dachte, ihn mittlerweile besser einschätzen zu können. Ich habe mich getäuscht. Dragon ist keiner, der so leicht aufgibt.
»Gibt es etwas, das wir wissen sollten?« Aso hat uns erreicht und sieht fragend von Dragon zu mir.
Ich schüttle unmerklich den Kopf, während sich Dragon bückt und mit zusammengekniffenem Mund am Feuer zu schaffen macht.
»Euer Feuer ist übrigens erbärmlich.«
»Dann kümmere dich nächstes Mal selbst darum«, brummt Dragon, ohne aufzusehen.
Fast tut er mir leid. Ich muss an einen dieser Vögel denken, die ihr Gefieder zwar aufplustern, um mehr Eindruck zu machen, aber niemanden damit imponieren. Mir nicht und schon gar nicht Elin. Wenn wir zurück sind, werde ich nicht umhin kommen, ihre angebliche Freundschaft erneut anzusprechen.
»Es wird bald dunkel«, sagt Aso, der ein Tuch voller kümmerlich aussehender dunkelblauer Beeren auf dem Boden vor uns ausbreitet. »Die anderen sind auch gleich zurück.«
Tatsächlich höre ich in dem Moment die laut tönende Stimme des Schmieds, der die Zwillinge mit neuen Geschichten zu versorgen scheint. Sie nähern sich unserer Gruppe ohne Eile.
»Alles ist ruhig. Kein Anzeichen von irgendwas, geschweige denn Menschen.« Zufrieden setzt sich der Schmied neben mich und hüllt sich in sein Fell. »Wird nur reichlich schnell kühl, was meint ihr? Nicht ein Stern am Himmel zu sehen. Könnte eine ungemütliche Nacht werden.«
Im Stillen pflichte ich ihm bei. Die Wolken hängen noch immer viel zu tief. Es riecht nach mehr Regen.
»Dann lasst uns essen und schlafen, damit wir morgen ausgeruht sind.« Ich nehme mir eine Handvoll Beeren und lege kleine Zweige in das Feuer nach. Es macht wirklich nicht viel her. Trotzdem hoffe ich, dass es genügt, um wilde Tiere fernzuhalten. Nachdenklich kaue ich auf den winzigen Früchten. Sie schmecken leicht säuerlich. Ihnen mangelt es an der saftigen Frische, die ich mir erhofft habe.
Meine Krieger fehlen mir. Allen voran mein Freund Inde. Unsere Vertrautheit. Wie oft haben wir in den Bergen unser Lager aufgeschlagen, wie oft zusammen in die Nacht gestarrt. Meine Männer und ich haben uns wortlos verstanden. Sie haben mich als ihren Anführer respektiert und trotzdem ihre Scherze mit mir getrieben. Ich seufze leise. Wie sehr mir doch die Gemeinschaft fehlt!
Es dauert lange, bis ich in dieser Nacht Schlaf finde.