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Prolog

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Sein Haus grenzte an die Rostocker Heide und lag nahe an der Ostseeküste. Soweit die Augen sahen, streckten sich mächtige Laub- und Nadelbäume in die Höhe. Dagegen wirkten die mit Schilfrohr gedeckten Häuser winzig, wie auf eine Perlenschnur gefädelt. Seines fügte sich bescheiden in die Reihe der anderen Häuser ein, ohne Blumen vor der Tür oder anderem Schnickschnack. Obwohl er die bröckelnde Hausfassade erneuern ließ, war das einzige Auffällige das Unauffällige geblieben und das harmlose Grau des neuen Anstriches hatte nichts daran geändert. Friedlich steht das Haus da und wirkt verlassen und nicht nur, weil der äußere Glanz fehlt. Längst ist die Patina, die nur den mit Leben gefüllten Häusern eigen ist, verloren.

Niemand ahnte, selbst bei näherer Betrachtung nicht, was sich an diesem Ort einst zugetragen hatte. Doch nicht nur das Haus hatte sich von einer auf die andere Minute geändert. Alles was dem Jungen wichtig war, wurde komplett auf den Kopf gestellt. Ohne Ankündigung überschlugen sich die Ereignisse in seiner Familie.

Inzwischen längst im Erwachsenenalter, schien wenigstens seine kräftige Statur von Vorteil zu sein. Wie ein Schutzschild schirmte sein riesiger Körper ihn vor lauernden Blicken der Nachbarn ab. Die fragten ihn ohnehin nicht, wie es ihm in all den Jahren erging. Die meisten Leute hatten sich zurückgezogen, obgleich ihre Neugier ständig präsent blieb. Gern hätten sie gewusst, was tatsächlich am Rande des Waldes mit den Eltern geschah, damals als der Junge allein zurückblieb.

Seitdem waren einige Jahre vergangen und sie wären für den Jungen besser zu ertragen gewesen, wenn sein Körper nicht so oft von Anspannungen und Ängsten heimgesucht wurde. Ständig plagten ihn Zweifel, in deren Stunden sich sein Plan nicht umsetzen ließ. Manchmal erschien ihm selbst alles sinnlos. Immer dann, wenn sein Körper von einem zittrigen Beben gepackt wurde. Das Schlimmste an diesem Zustand war, dass er überhaupt nichts dagegen tun konnte. Ganz im Gegenteil, er wurde immer unsicherer und fiel in ein noch tieferes Loch. Jedes Mal wurde es schwieriger und es gelang ihm nur mit allergrößter Mühe aus dieser Finsternis herauszukommen. War er erst aus dem Gleichgewicht gebracht, setzte ungewollt diese altbekannte Nervosität ein. Ein erbärmlicher Zustand, den er aus seinen letzten Kindertagen kannte. Ob er wollte oder nicht, durch diese Qualen wurde er viel zu früh erwachsen.

Inzwischen hatte er gelernt, seine innere Zerrissenheit zu kaschieren. Nur wer näher mit ihm zu tun hatte, merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Wer ihn oberflächlich betrachtete, erkannte zwar das nervöse Zucken in den Augen, hielt das aber eher für eine Marotte oder einen Schönheitsfehler. Begann die Unruhe, mied er den direkten Blickkontakt. Generell aber hielt er dem festen Blick unbekannter Personen schlecht stand. Mit den Jahren unterließ er es deshalb, konsequent über seine seelischen Wunden zu sprechen. Manchmal sagte eine Stimme in seinem Kopf: „Vertrau dich jemandem an, das ist besser für dich, die Last der Erinnerung ist allein schwer zu ertragen.“

„Nein, das, was dir passierte, kann niemand wirklich verstehen“, gab bald darauf eine andere Stimme ihm die Antwort.

Je mehr Jahre vergingen, desto stärker wurden die Zweifel, sich überhaupt helfen zu lassen. Wer sollte das schon können? Ihn verstehen?

Als Ergebnis seiner Zwiegespräche blieben meist jede Menge Fragen zurück.

Längst hatte er die Hoffnung, so etwas wie Gelassenheit in sein Seelenleben zu bringen, begraben. Zwar wurden seine Selbstgespräche seltener, aber waren sie erst mal da, packten sie ihn mit voller Wucht. Er schien in ihnen gefangen zu sein. An manchen Tagen litt er wie ein Hund, rein gar nichts schien ihm dann zu gelingen. In diesen Momenten empfand er seine Lage ausweglos und igelte sich total ein. An anderen Tagen fühlte sich sein Herz schwer und weich zugleich an. Es gab Tage, an denen er glaubte, den Dreh für sich herausgefunden zu haben, um wenigstens etwas gelassener leben zu können. Das lag am routinierten Ablauf seiner Arbeit und den planbaren Zeiten seines Studiums. Beides sorgte für eine Balance im Alltag, die ihm gut tat. Manchmal keimte sogar ein winziger Hoffnungsschimmer auf, sein Leben könnte doch noch einen normalen Verlauf nehmen. Er hatte inzwischen gelernt, allein, ohne den Vater, dem Lehrmeister von einst, weiterzumachen. Job und Studium schienen ohnehin nur diesem einen Ziel untergeordnet zu sein, er musste das Angefangene zu Ende bringen. Ein winziges Zeichen seines Vaters würde jedoch helfen, den Sinn seines Tuns lebendig zu halten.

Seit er verlassen wurde, lebte er allein, ja fast isoliert. Er kannte es nicht anders von seinen Eltern, also hielt er es so wie sie. Zu niemanden hatten sie Kontakt, nicht mal zu den Nachbarn. Aber genauso wenig nahmen diese jetzt Notiz von dem Jungen. Er wollte unter keinen Umständen auffallen und setzte deshalb in der Wahl seiner Kleidung darauf, möglichst salopp zu erscheinen. Damit hob er sich kaum von den anderen seines Alters ab. Mit seinem sportlichen Look entsprach er dem allgemeinen Bild junger Leute auf der Straße. Aber da gab es noch die andere Seite von ihm: In regelmäßigen Abständen wiederholte er ein Ritual. Dieses Ritual ließ ihn Höhen und Tiefen gleichermaßen durchleben. Es gehörte wie Essen und Trinken zu ihm. Die Kerze am Fenster als Signal des Wartens. Warten auf ihn, seinen Vater!

Vor etwa zehn Jahren fing alles an. Sein Vater verschwand einfach so nach dem Frühstück. Knapp ein Jahr später, kam auch seine Mutter nicht von der Arbeit zurück. Anders als bei dem Vater deutete ein kurzer Brief von ihr an, dass sie fortgegangen war, um nach etwas zu suchen. Aber nach was? Wonach wollte sie suchen, allein und ohne ihn? Das verstand er als Jugendlicher nicht und suchte auch nach keiner möglichen Erklärung. Er war gerade vierzehn Jahre alt geworden. In ihrem Brief bat die Mutter den Jungen, ihr zu verzeihen. Aber verzeihen, nein, das konnte er nie.

Das Verschwinden der Mutter schien für alle Behörden eindeutig zu sein. Ähnliche Familientragödien kamen hin und wieder vor. Die Frau verließ ihr Kind, um irgendwo ein anderes, neues Leben zu beginnen. Ohne Mutter zu leben, so entschied ein Amt, sei er zu jung. Der Bruder des Vaters und eine weitläufige Tante kamen in unregelmäßigen Abständen, um ihn bei wichtigen Angelegenheiten im Haus zu unterstützen. Schnell bekamen die beiden mit, dass der Junge ihre Hilfe missbilligte und die ohnehin kurzen Besuche wurden seltener, bis sie ganz wegblieben. Der Junge igelte sich fortan ein und lebte ungestört, ohne Bevormundung der Verwandten, sein Leben weiter. Irgendwie wurde er erwachsen.

Einfachheitshalber bewohnte er von Anfang an nur den oberen Bereich im Haus. Nie würde ihm in den Sinn kommen, die einstigen Räume der Eltern zu betreten. Allerdings brachte in letzter Zeit seine Phantasie häufig Bilder zum Vorschein, die ihn mehr verwirrten als trösteten. Trügerisch ließen ihn diese Sinnbilder Umrisse seiner Eltern erkennen. Zwar halfen solche Sinnestäuschungen manchmal, mit dem Alleinsein fertig zu werden, doch meist blieb er deprimierter als zuvor zurück. Und diese Tagträume waren auch der Grund, dass er an der äußeren und inneren Seele des Hauses kaum etwas verändert hatte. Peinlichst genau achtete er auf winzigste Details. Alles sollte im Haus originalgetreu erhalten bleiben. Sämtliche Gegenstände befanden sich auf ihrem ursprünglichen Platz. Haargenau, so wie es war, als sie noch zu dritt hier lebten. Neue Möbel, Teppiche, Geschirr oder derlei Sachen brauchte er ohnehin nicht. Im Wohnzimmer stand auch noch der einstige Lieblingssessel seines Vaters, den er schon sehr früh auf besondere Weise kennengelernt hatte. Dieser Sessel blieb für ihn für immer das hässlichste Relikt aus seinen Kindheitstagen. Niemals durfte er ohne den Vater darauf Platz nehmen. Schon beim Anblick des antiken Ohrensessels lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieser Sessel versetzte ihn mehr als alles andere im Haus in die Tage seiner Kindheit zurück. Damals schien sein Vater ganz und gar darin zu versinken und der Junge beobachtete ihn häufig dabei. An einigen Tagen saß der Vater reglos darin und grübelte. An anderen Tagen saß er wie auf einem Thron und las konzentriert in seiner Zeitung. In den vielen Jahren des Alleinseins bemühte sich der junge Mann den Teil seiner Erinnerung, die mit diesem Sessel zusammenhingen, auszulöschen. Das gelang mal mehr und mal weniger. Fühlte er sich einsam, ging er hinters Haus, um einen Blick auf den Sessel zu erhaschen. Manchmal erschien dann das Phantombild des Vaters. Seine Silhouette in der typischen Haltung: Angespannt nach hinten gelehnt und die Hände auf seinem Bauch waren gefaltet. Er sah sie wieder, seine nervösen Augen, die mit langem Blick nach etwas gierten. Wenn er aus seinem Sessel hervorkroch, sahen seine Augen leer und kalt aus. Bei den Gedanken an diese kalten Augen seines Vaters wurde er von Ekel gepackt. Selbst der grobe Griff fiel ihm wieder ein, mit dem er ihn an Händen und Füßen packte. Die damals empfundenen Schmerzen wurden plötzlich real und deutlich zu spüren. Gab es für ihn einen Ausweg aus diesem Martyrium oder sollte er für immer darin gefangen bleiben? Unzählige Fragen tauchten wieder auf. Wo sollte er damit hin? Er blieb gefangen in der Vergangenheit, ohne Licht oder dem Gedanken an einen neuen Tag. Er musste etwas tun, um sich von seinem inneren Wirrwarr zu befreien …

Das Böse ruht nie

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