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Graal-Müritz im August

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In der Luft lag noch immer die letzte Stille der Nacht. Die Sonne war gerade über dem Meer aufgegangen und erste Geräusche eines Tages, der gerade anbrach, wurden im Sekundentakt lauter. Noch bevor die Küstenbewohner ihre Augen richtig offen hatten, wussten sie, dass ein heißer Sommertag bevorstand. Endlich ein Sonntag, der diesen Namen tatsächlich auch verdiente. Die nicht enden wollende Hochdrucklage schob seit Wochen eine derartige Gluthitze vor sich her, dass dieser Sommer mehr an einen am Mittelmeer als an den an der Ostseeküste erinnerte. Jahrelang zeichnete kein Wetterdienst an der mecklenburgischen Küste so ein stabiles Hoch mit Werten über 30 °C auf. Der beste Grund für den Rostocker Meteorologen, Stefan Kreibohm, auf der Insel Hiddensee grienend vor der Kamera zu stehen. Selten genug hatte er so viel Gutes zu berichten. In Fachkreisen der Wetterfrösche wurde der diesjährige Sommer längst als der „Jahrhundertsommer“ gehandelt.

Faszinierende Sonnenuntergänge ließen die zuvor andauernden Regenwochen vergessen. Das waren unzählige Wochen, in denen eine unvorstellbare Menge Wasser, wie aus Kannen gegossen aufs Land klatschte. Überall in Graal-Müritz, auf den Wiesen, im Wald und selbst in den Ortschaften ringsherum, kam es zu Überschwemmungen. Blitzschnell waren die Wiesen voll mit Wasser, riesige Seenlandschaften bildeten sich und verwirrten den Blick des Betrachters, selbst Souterrainwohnungen mussten ausgepumpt werden. Über eine längere Zeit waren die Graal-Müritzer Einwohner mit außergewöhnlich hohen Schäden beschäftigt, nicht nur an den eigenen Häusern. Das viele Wasser zerstörte Pflanzen und Bäume, auch gab es Schäden im beliebten Rhododendron Park. Selbst die größte Buche im Park, um die herum sich im Sommer Lyrikfreunde trafen, um ihrer Muse freien Lauf zu lassen, wurde so stark beschädigt, dass sie ein Opfer der übermäßigen Wassermassen wurde. Obendrein durchzog ein penetrantes Lüftchen alle Ecken des Ortes. Selbst das Meer konnte den Geruch von stinkendem Morast nicht übertünchen. Die hoch gepriesene Meeresbrise, dahin war sie und das für lange Zeit. Noch schlimmer sollte es kommen, weil der eklige Geruch unzählige Insekten anzog, die kamen jetzt aus nicht erkennbaren Löchern gekrochen. Überall schienen sie sich breit machen zu wollen.

Wetterkapriolen sind an der Küste oft zu erleben. Einheimische und Touristen waren an manch ein außergewöhnliches Ereignis gewöhnt, nicht nur die Herbststürme schienen gefährlich zu sein. Aber während der stürmischen Tage dieses Sommers waren sich die Einheimischen in Graal-Müritz ausnahmsweise mal einig.

„So schlimm wier dat noch nie, all gor nich in’n Sommer“, meinte auch Karl Hansen. Er war einer von vier alten Graal-Müritzer, die sich fast jeden Abend um Punkt 19 Uhr zum Klönen auf der Seebrücke trafen. Kamen sie ins Streiten, wurden sie sich meist beim Wetter einig. Beim abendlichen Snack auf Platt kamen interessante Neuigkeiten aus dem Ort ans Licht. Trotz unterschiedlicher Meinung war immer etwas dabei, das sie eher verband als trennte. Jeder von ihnen sorgte Abend für Abend für spannenden Gesprächsstoff. Auf diese Weise standen alle vier Männer wenigstens einmal am Tag im Mittelpunkt. Allein deshalb waren ihnen diese abendlichen Treffen auf der Seebrücke wichtig, denn zu Hause gaben meist ihre Frauen den Ton an.

So war es nicht verwunderlich, dass vor allem die pikanten und frivolen Geschichten in ihrer Altherrenrunde heiß begehrt waren. Selten genug passierte etwas in dem beschaulichen Ort Graal-Müritz. Die vier Alten von der Seebrücke passten auf. Egal, ob es brannte oder ein Einbruch passierte, sie wussten über alles als erste Bescheid. Bei der Überführung harmloser Täter half der eine oder andere schon mal mit. Vor kurzem erst hatte einer von ihnen zwei Jungs erwischt, die ein geschnitztes Holztier im Klangwald zerstören wollten. Alle außer Erwin hatten ihr ganzes Leben hier verbracht, sie waren nicht weit rumgekommen.

„De Krimistoff licht bi uns up de Straat“, wusste Hansen zu berichten. Er war der Älteste der Vier. Mit seiner über jedes Ziel hinausschießenden, kriminellen Phantasie ließ er seine Freunde von der Seebrücke oft irritiert zurück. Doch die spannendsten Geschichten kannte nur er und brillierte in spannender Erzählweise täglich damit. Er wusste von kriminellen Jugendlichen genauso zu berichten, wie von aufgesetzten Hörnern manch eines Ehemanns.

„Dat is so as in anner Kaffs och. Wat fählt, is mal so ein echtet grotet Ding as vör twei Johr“, stellte Hansen spitzfindig fest. „Uns’ Urt ist väl tau ruhig, passiert rein gor nix, von den välen Touristen in’n Sommer mal ganz afseihn.“

Von der Seebrücke, dem zentralen Platz im Ort, ließen sich Neuigkeiten rasant wie ein Lauffeuer verbreiten. Erwin, der einzige Zugezogene unter ihnen, war des Plattdeutschen nicht mächtig. Heute erinnerte er an den einzigen aktiven Detektiv im Ort: „Erinnert ihr euch an Kommissar a.D. Ole Timm? Der hat ja jede Menge auf dem Faden. Wie viele Strolche der wohl inzwischen hinter Gitter gebracht hat?“

„Un nich nur in Graal-Müritz.“

„In letzter Zeit ist es etwas ruhiger um ihn geworden“, erzählte Erwin weiter. „Bestimmt will hei ok bloß mal Rentner sin“, gab Enno seinen Senf dazu.

„Nee, ick heff hürt, dat hei all wedder an einen niegen Fall an is“, ergänzte Karl Hansen.

„Wir passen ja auch noch auf, und wenn nichts passiert, helfen wir eben den Touristen“, so Erwin auf Hochdeutsch. Das sich in dieser Runde immer noch ganz befremdlich anhörte.

Im Sommer wimmelte es an der Ostseeküste nur so von Touristen und für die Alten bedeutete das jede Menge Erzählstoff. Doch am liebsten diskutierten sie, wie die meisten Alteingesessenen im Ort, über alte Zeiten.

Das war die Zeit als die Graaler und die Müritzer eigenständige Orte waren. Müritz stammt aus dem Slawischen und bedeutet so viel wie „Gegend am Meer“. Graal dagegen wurde erst viel später, 1752, in Büdnereien aufgeteilt. 1938 wurden dann beide Teile per Dekret zusammengelegt und seitdem wurde der Ort lediglich mit einem Bindestrich getrennt. Das sollte formal gesehen als Trennung genügen. Nicht so in Graal-Müritz. In den Köpfen einiger alteingesessener Einwohner gab es immer noch Barrieren. Ganz früher machte sich der Satz breit: „Die Graaler leben, aber die Müritzer müssen leben.“ Offenbar gab es noch heute einige Meinungsunterschiede von damals. Einige Einwohner sahen den Teil, in dem sie selbst wohnen, als den Schöneren an.

Doch wenigstens einte so ein lang anhaltendes Hoch alle wieder und nicht nur bei den Einheimischen herrschte Freude darüber. Nach dem schlechten Saisonstart sorgte ein Hoch für einträgliche Geschäfte bei allen im Ferienort. Die Küstenbewohner atmeten auf und der Regen schien vergessen.

Aber nicht nur das Meer stand in der Gunst der Erholungssuchenden. Genau genommen schien die Rostocker Heide höher frequentiert zu sein, als die Waldbrandstufe es hergab. Eine erfrischende Kühle mit dem Reiz der besonderen Stille lockte Urlauber und Einheimische gleichermaßen in den Wald. Einige von ihnen empfanden die Luft wie Samt und Seide. Das waren jene, denen die Natur weitaus mehr Erholung als die gnadenlose Hitze am Strand bot. Ein empfindsames Ohr gelangte zur Ruhe und weder hupende Autos noch kreischende Kinder nervten. Unter schattigen Bäumen ließ es sich lang und tief durchatmen. In aller Frühe störte keine Menschenseele den Frieden in der Rostocker Heide. Wenn da nicht eine eher seltene Meldung in der Morgenausgabe der Sonntagszeitung auf sich aufmerksam machen würde.

Die Nachricht war winzig, und wahrscheinlich wurde die Vermisstenanzeige von niemandem richtig wahrgenommen. Nur spärliche Hinweise konnte man lesen: „Wer hat junge, dunkelhaarige Frau gesehen? Seit Freitag wird sie vermisst. Wer kann Angaben machen? Bitte helfen Sie bei der Suche!“

Für die vier Alten von der Seebrücke war so eine Meldung genau das Richtige, um ihre Phantasie zum Blühen zu bringen. Endlich hatten sie eine echte Gelegenheit, ihre Spürnasen mal richtig in Einsatz zu bringen. Aber lasen sie so früh am Tag die Zeitung? Ein Sonnenanbeter sowieso nicht. Die fühlten sich von so einer knappen Nachricht an einem heißen Tag wohl kaum angesprochen, obwohl um Mithilfe der Bürger gebeten wurde. Der Schreiber hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die gesuchte Person präzise zu beschreiben. Lediglich allgemeine Angaben über Haare und Größe wurden erwähnt. Dabei wusste doch jeder, wie im Sommer die Uhren tickten. In den Orten entlang der Küste gab es jede Menge Veranstaltungen und niemand interessierte sich für eine vage Geschichte in der Zeitung. Wer das las, dachte vielleicht eher an eine Ente, die das berüchtigte Sommerloch stopfen sollte.

Das Böse ruht nie

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