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Rostock, Polizeirevier am Hafen

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Lisa fuhr im Tempo ihrer Kollegen und steuerte die Richtung ihres Lieblingskaffees an. Voller Vorfreude spürte sie bereits den feinen Duft eines Latte Macchiato in ihrer Nase. Sie stieg gerade aus, als ihr Handy zum ersten Mal an diesem Tag einen Ton von sich gab.

Etwas schrill der Ton, dachte sie noch, bevor eine feste Stimme sie fast anschrie, noch bevor sie „Liebich“ sagen konnte. Geschickt hielt sie das Handy unterm Kinn und schloss nebenbei ihr Auto ab.

„Gut, dass ich Sie erwische, Frau Liebich. Können wir uns heute noch in der Dienststelle sehen? Sie haben zwar frei, aber ließe sich das einrichten?“

„Sie haben es aber sehr eilig. Hat das etwa mit der vermissten Frau zu tun?“

„Wie, das wissen Sie …?“ Aufmerksam hörte sie den knappen Worten ihres Chefs zu.

„Klar, ich komme. Bin schon unterwegs. Etwa in einer halben Stunde könnte ich am Hafen sein.“ Ihr fiel auf, dass ihr Chef in Rätseln sprach. So kannte sie ihn gar nicht und fand, dass er sich genauso bedeckt hielt, wie die beiden Kollegen am Mittelweg. Was hatte das zu bedeuten? Mit den wenigen Details ließ sich nicht wirklich viel anfangen. Allerdings dachte sie, dass der Chef sie noch nie in die Dienststelle zitiert hatte, wenn es keinen wirklichen Grund dafür gab. Bevor sie antworten konnte, sagte ihr Chef: „Kommen Sie erst mal her, dann sehen wir weiter.“ Seine letzten Worte hallten noch in ihren Ohren nach. Das emotionale Durcheinander noch eben vom Strand schien wie weggeblasen. Sie musste über sich selbst lächeln. Wie meist, Probleme können sich einfach in Luft auflösen. Sie gab kräftig Gas und bei dem Tempo hätte sie bei einer Kontrolle größte Chancen ein paar Punkte einzusammeln.

Auf Höhe von Karls Erlebnis-Dorf begegneten sich Lisas gelber Flitzer und der BMW von Hauptkommissar Peter Heilmeyer. Beide waren auf halber Strecke nur in entgegengesetzter Richtung zwischen Rostock und Graal-Müritz unterwegs. Keiner nahm vom anderen Notiz, sie wussten noch nicht, dass sie bald gemeinsam in einem Team arbeiten würden. Zuvor waren sie sich nie begegnet!

Vor einigen Monaten hatte sich Lisa für ein Praktikum im Kriminalkommissariat Rostock beworben. Ihr Antrag wurde erst vor wenigen Tagen bewilligt. Gleich nach dem Urlaub plante sie ins Kriminalkommissariat zu wechseln. So wenigstens war ihr Plan vor dem Studium. Wenige Tage blieben ihr nur noch im alten Revier und sie musste an die letzten Jahre denken: Eigentlich schade, dass ich gehe. Der Chef war in Ordnung und mit den anderen lief es auch gut. Veränderungen sind mal wichtig und wie es aussieht, könnte mein Praktikum mit einem speziellen Fall beginnen. Alles Mögliche kreiste in ihrem Kopf und sie drückte gleich noch einmal aufs Gaspedal.

Lisa konnte jetzt die letzten Traditionssegler erkennen und musste an ihre eigene Ausfahrt während der Hanse Sail denken. Eine unvergleichliche Pracht, diese maritime Kulisse am Rostocker Stadthafen. Einige Segler waren noch immer zur Besichtigung freigegeben und boten regelmäßig Rundfahrten an. Von der Warnow aus gab es einen spektakulären Anblick auf die Stadt. Ein Luxus, dass sie jeden Tag diesen traumhaften Anblick genießen konnte. Gab es einen besseren Arbeitsplatz?

Viele Jahre fuhr sie immer wieder diesen Weg und alles rundherum war ihr vertraut. Jemand, der die maritime Kulisse liebt, wird jedes Jahr aufs Neue beeindruckt sein. Hanse Sail bedeutete, dass jeder Platz am Kai bis in die dritte Reihe mit Schiffen besetzt war. Um die 200 Segler trafen sich regelmäßig zu diesem maritimem Großereignis, dass jedes Jahr am zweiten Wochenende im August stattfindet. Lisa hasste jede Art von Sentimentalitäten und dachte weise, dass dieses tolle Spektakel in Rostock ihr auch ohne die Dienststelle jedes Jahr erhalten bleiben würde. Nur um die Leute tat es ihr leid, die vielen Jahre kam sie ohne irgendwelche Streitereien oder Missverständnissen sehr gut klar. Wenn es die Zeit zuließ, würde sie hin und wieder mal bei ihnen vorbeischauen.

Lisa erreichte das Polizeirevier. Abgehetzt klopfte sie an die Tür des Chefs und betrat ohne Aufforderung sein Büro. Sie veranstalteten nie eine großartige Begrüßungszeremonie. Doch heute preschte Lisa schneller als sonst los: „Kaum bin ich paar Tage weg, schon gibt es eine Vermisste.“

Ihr Chef schaute von seinen Papieren auf und meinte ruhig: „Da sind Sie ja. Prima, dass Sie so schnell kommen konnten. Tut mir leid, dass Sie Ihren Urlaub unterbrechen mussten. Kann auch sein, dass sich alles schnell klärt. Aber Sie wissen ja wie es in der Urlaubszeit bei uns aussieht. Seit Tagen sind zwei krank, na ja und Urlaubszeit ist auch noch.“

Lisa setzte sich und hörte ihrem Chef voller Erwartung zu. „Erst einmal ein paar Eckdaten. Gesucht wird Sarah Niemann.“

Kaum hatte ihr Chef den Namen ausgesprochen, zuckte sie zusammen.

„Sind Sie sich sicher, Sarah Niemann?“, fragte Lisa ungläubig.

Sie kannte eine Sarah Niemann. Ziemlich gut sogar. Aber, nein, das war bestimmt nicht ihre Sarah. Der Name von der Person am Strand fiel ihr wieder ein. „Das muss ein Irrtum sein. Ich hatte heute am Strand eine Tasche gefunden, deren Besitzerin Sofie Timm heißt. Ihre Tasche lag den ganzen Vormittag unbeaufsichtigt rum, sodass ich den Namen in Erfahrung bringen wollte, um für den Fall, dass sie vermisst wäre, einen Anhaltspunkt zu haben.“

„Ich kann Sie beruhigen, eine Frau mit diesem Namen wurde bei uns nicht registriert, aber gut, dass Sie so umsichtig waren.“

Lisa begann fast zu stottern, als es endlich aus ihr rausbrach: „Aber eine Sarah Niemann kenne ich auch, seit frühester Kindheit sogar. Wir sind in Lütten Klein zur Schule gegangen und …“ Sie konnte auf einmal nichts weiter über ihre Freundin sagen, weil sich ihre Gedanken überschlugen. Nach einer kurzen Pause konnte sie erst wieder weitersprechen: „Aber das liegt viele Jahre zurück.“

„Was wissen Sie von Frau Niemann?“ Ihr Chef schien erfreut darüber zu sein, dass er womöglich ein paar konkrete Details von seiner Kollegin erfahren würde.

„Vor längerer Zeit holten wir gemeinsam an der Abendschule das Abitur nach. Während dieser Zeit pflegten wir auch engeren Kontakt, ich würde sogar Freundschaft dazu sagen. Die vermisste Frau, das wird nicht meine Freundin sein. Gibt es von der Vermissten ein Foto?“

„Das kann jede Minute hier eintreffen, genauso die genaue Beschreibung. Um ehrlich zu sein, was wir bisher wissen, ist ziemlich mau.“ Der Chef verheimlichte seiner Kollegin, dass er längst wusste, dass es nur eine Sarah Niemann in Rostock und Umgebung gab. Mit dieser Nachricht wollte er warten, bis er hundert Prozent sicher war. Und erst recht, seit er wusste, dass die beiden Frauen sich kannten. Indessen ratterte im Hintergrund das Geräusch eines Faxgerätes. Lisa blieb mit einer vagen Vorahnung am Schreibtisch sitzen. Unzählige Bilder liefen vor ihren Augen ab. Sie spürte sofort, dass die gesuchte Frau „ihre Sarah“ sein musste. Der Chef wusste mehr. Sie kannte ihn lange genug und wusste, dass seine Zurückhaltung der Beweis für ihre These war.

Unsicher begann sie erst langsam, dann immer intensiver und wie aufgezogen von Sarah zu sprechen: „Ich weiß nicht genau, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe. Jedenfalls heiratete sie vor zehn Jahren aus heiterem Himmel einen arroganten Fatzke. So einen Schlaumeier von der Zeitung. Den Mann konnte ich nicht ausstehen. Aber das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Ich erinnere mich, wie dieser Mann Sarah stets hinterher spionierte. Wenn wir mal verabredet waren, dauerte es nicht lange und er war ebenfalls in der Nähe. Dabei sahen wir uns seit sie geheiratet hatte selten genug. Ständig setzte dieser Mann meine Freundin unter Druck. Der Höhepunkt aber war, dass er verlangte, sie solle unsere Freundschaft aufgeben. Er meinte tatsächlich, dass ich sie negativ beeinflusste. Dabei wollte er lediglich, dass sie keine weiteren Kontakte, außer zu ihm haben sollte. Er war besitzergreifend und wollte praktisch Macht über sie ausüben. Für mich wäre das kein Leben gewesen. Natürlich versuchte ich ihr die Augen zu öffnen. Aber versuchen Sie mal einer Gehörlosen einen Donnerschlag zu erklären. Sie hielt trotz gröbster Gemeinheiten immer an ihm fest. Am Anfang beschwerte sich Sarah zwar über die Gängelei ihres Mannes. Bald aber verdrängte sie mehr und mehr, hielt einfach still. Wir trafen uns immer seltener. Irgendwann blieb unsere Freundschaft auf der Strecke. Mein Job hielt mich auch in Schach und unsere Treffen wurden weniger, bis sie ganz ausblieben.“ Lisa machte eine Pause, als müsste sie nachdenken, dann sprach sie weiter: „Es ist noch nicht allzu lange her, als wir uns zufällig in Karls Erlebnis-Dorf in Rövershagen trafen. Sie wirkte unzufrieden und sah sehr schlecht aus. Zudem wirkte sie um Jahre gealtert. Dabei hatte ich das Gefühl, dass die Beziehung nicht nur seelische Narben hinterlassen hatte. Ich merkte zwar, dass sie sich öffnen wollte, doch wir waren uns inzwischen fremd geworden.“

„Kam es zwischen Ihnen noch zu einem weiteren Treffen?“

„Nein, die gab es nicht mehr und jetzt ist es womöglich dafür zu spät?“

Lisa merkte beim Erzählen, dass sie von der alten Freundin eigentlich nicht sehr viel wusste. „Vor einem knappen Jahr sah ich Sarah zufällig in Rostock, ich hätte sie fast nicht wiedererkannt, so drastisch hatte sie sich auch äußerlich verändert. Sie war nicht mehr die gepflegte Frau, die ich kannte. Zu einem Gespräch zwischen uns kam es auch nicht.“ Lisa sackte in sich zusammen und schwieg. Sie schaute ihren Chef an und sprach mit kehliger Stimme: „Wenn das wirklich meine Sarah sein sollte, wird sie gefunden. Bestimmt! Das muss ein Irrtum sein.“

Inzwischen habe ich den letzten Teil der Arbeit begonnen, ich weiß, das wird schwierig. Lange hatte ich mir den Kopf zerbrochen, damit das Ende gut wird. Es soll ein würdiger Höhepunkt werden.

Früher warst du oft wütend auf mich, ich konnte dir nie was recht machen. Wenn du mich jetzt sehen würdest. Du könntest nicht glauben, wer vor dir steht.

Jeden Tag arbeite ich bis ich todmüde bin, erst dann kann ich einschlafen ohne zu grübeln. So wie du früher. Das habe ich wohl auch von dir. Nie aufzugeben, du hast mich oft genug ermahnt. Ich frage mich, warum du unser Ziel verraten und unsere gemeinsame Arbeit einfach aufgegeben hast? Hast du dabei mal an mich gedacht? Oder soll das etwa eine Prüfung sein? Testest du mich etwa, ob ich ohne dich standhaft bleibe?

In der vergangenen Woche wäre fast alles vorbei gewesen, denn beinah hätte man unser Verlies entdeckt. Doch ich bin geschickt und davongekommen. Wie gut, dass die Nachbarn nicht ahnen, was in ihrer Nähe geschieht. Sie haben nicht die geringste Vorstellung. Sie kümmern sich nicht um mich und ich mich nicht um sie. Du zeigtest mir früh schon, wie ich mich vor neugierigen Blicken der Leute unsichtbar machen kann. Das beherrsche ich perfekt. Heute liefen viele fremde Personen in der Gegend herum. Das hat mich nervös gemacht. Fast wäre es verhängnisvoll verlaufen. Meine Brille hatte ich im Dickicht vor dem Verlies verloren. Die hätte mich verraten. So eine Nachlässigkeit darf mir nie mehr passieren. Ich muss mehr aufpassen. Bei dem Großeinsatz der Bullen in der gesamten Gegend konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Unvorstellbar, wenn die mich überrascht hätten? Alles wäre verloren.

Das Böse ruht nie

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