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Graal-Müritz, Strand

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Kaum hatte Lisa den Strand erreicht, fühlte sie sich ohne ihre Strandmuschel der gleißenden Sonne erbarmungslos ausgeliefert. Das gesamte Strandequipment mitzuschleppen, hätte nur den Rahmen gesprengt. Für die wenigen Stunden reichten ihr das große Strandtuch und etwas zu trinken. Wenn die Sonne den Sand erst richtig aufheizte und man sich die Füße darin verbrannte, half sowieso nur eine Abkühlung im Meer. Bei den Temperaturen gab es auf der Welt keinen besseren Fleck, dachte sie sich und lag inzwischen entspannt auf ihrer kleinen Decke und hatte sich eingerichtet. Mit blinzelnden Augen nahm sie ein paar Schäfchenwolken am leuchtend blauen Himmel wahr. Nie besuchte sie einen anderen Strand als den in Graal-Müritz. „Strand der guten Träume“, nannte sie ihn, wenn sie von den Touristen mal nach einem idealen Strand gefragt wurde. Bisher fand sie an der gesamten Ostseeküste keinen besseren. Wenn ihr Lieblingsplatz am Rande der Dünen frei war, dann brauchte sie nichts anderes mehr.

Am Strandaufgang 10 hatte sie heute sogar noch freie Platzwahl. Im Gegenteil, der gesamte Strandabschnitt sah relativ leer aus. Sie wählte immer den Aufgang 10. Hierher verirrten sich selten mal Touristen. Der Strandaufgang wurde vor allem von den Einheimischen des Ortes genutzt und war ohne Fahrrad nur aufwendig zu erreichen. Den Mehraufwand nahm Lisa gern in Kauf. Dafür konnte sie ohne quietschende Kinder und lärmende Jugendlichen relaxen und entspannt den tanzenden Wellen zusehen. Bei ihrem intensiven Job machte ein Strandtag am schnellsten ihren Kopf frei. Und einen klaren Kopf brauchte sie im Moment dringend.

Seit gestern quälte sie die Frage, ob das geplante Jura-Studium überhaupt das Richtige für sie sei. Ihr Vater kreiste bei dem Gedanken immer wieder in ihrem Kopf herum. Das hing mit ihrer Studienbewerbung zusammen. Eigentlich glaubte sie, den Konflikt mit ihm hinter sich gelassen zu haben. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein.

Plötzlich lautes Geschrei in der Nähe zwischen Strandaufgang 10 und 11. Lisa schoss aus der Rückenlage hoch, um zu sehen, was los war. Ein Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand, warf Brotstücke in die Luft. Mit jedem Wurf begann das zänkische Schreien zwischen den lauernden Möwen. Aufgebläht und laut flogen die geschickten Fänger mit ihrer Beute davon. Andere flogen hinterher und versuchten ihnen den Brocken abzujagen. Lisa betrachtete skeptisch das Spektakel am Strand. Ganz nebenbei stellte sie fest, dass der Typ sich sehen lassen konnte. Eine sportliche Figur und das lange Haar lässig und ungekämmt. Selbst aus der Entfernung gefiel ihr, was sie sah. Dazu der knackige, gut gebräunte Körper, der nur von einer knappen Badehose verdeckt wurde. Aber Lisa war nicht in der Stimmung sich beeindrucken zu lassen. Er war zwar durchaus ihr Typ, auch zählte er nicht mehr zum jungen Semester, was sie mochte. Immerhin hatte er es geschafft, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dabei entging ihr auch nicht, dass er von seinem Platz aus ständig in ihre Richtung stierte, auch wenn er sich hinter einer Zeitung versteckte. Offenbar war das mit den Möwen nur ein Versuch gewesen, sie anzubaggern. Lisas Lust auf einen Strandflirt hielt sich in Grenzen, lapidare Gespräche wären das Letzte was ihr an diesem Tag fehlte. Ihre letzte Beziehung lag länger als zwei Jahre zurück. Bereits kurze Zeit später fühlte sich die Trennung richtig gut an. Der Mann, den sie kürzlich im Internet kennengelernt hatte, der reichte ihr voll und ganz. Vielleicht würde irgendwann mehr daraus, möglich wäre es, dachte sie bei sich. Lisa spürte auf einmal Wut in sich aufsteigen, denn das Geschrei wurde schriller. Die Möwen nervten inzwischen so sehr, dass diese Wut in ihr hochkroch und sich breit machte. Ein „Füttern verboten“-Spruch hing längst auf ihren Lippen. Sie besann sich schnell wieder und fragte sich, warum sie sich mit dem anlegen sollte? Der würde sich am Ende etwas darauf einbilden und hielt den Vorwurf womöglich für eine Anmache. Abrupt drehte sie sich vom kreischenden Spektakel ab. Sollte der doch seinen Spaß haben, sie jedenfalls wollte ihren freien Tag einfach nur in Ruhe genießen! Schnell schien der Mann vergessen und in ihrer bequemen Seitenlage fand sie zum Ursprung ihrer Gedanken zurück. Sie hatte es geschafft, die Greifswalder Uni wollte sie tatsächlich immatrikulieren. Was für ein Wahnsinn! Vor einem Jahr hatte sie sich für den Studiengang ‚Jura‘ mit den Schwerpunkten Kriminologie und Strafrechtspflege beworben und in dieser Woche hatte sie die Zusage bekommen. Also würde sie sich in den nächsten Jahren mit Wirtschaft, Gesellschaft, Recht herumschlagen müssen. Polizeidienst ade! Ihr Ziel rückte in greifbare Nähe. Sie konnte es selbst kaum glauben, denn das Prozedere der Bewerbung verlief ohne irgendwelche Probleme. Klar, sie hatte hart gearbeitet und es wurde ihr nichts geschenkt. Vielleicht waren ja ihre langen Praxiserfahrungen ausschlaggebend. Die schriftlichen Tests hatte sie sich allerdings einfacher vorgestellt. Die Prüfungskommission sprach von mehr Bewerbern als sonst. Womöglich sollte nur die Quote stimmen und sie hatten deshalb eine Frau gewählt? Unsinn, dachte sie wieder, warum bin ich nicht stolz auf mich, anstatt mich in diesen Selbstzweifeln zu verlieren. Genau wie damals als sie noch zu Hause wohnte. Warum holte sie jetzt ihre Vergangenheit wieder ein?

Inzwischen hatte Lisa sich an die Hitze gewöhnt. Sie genoss es, dass ein paar Wolken die Sonne durchkreuzten. Doch, wie meist am Strand störten ihre langen Haare und sie drehte sie gekonnt zu einem Zopf nach oben. Dann drehte sie sich entspannt zu den Dünen um, lauschte dem Wind und hörte den Wellen zu, wie sie miteinander stritten.

Der Wechsel von Sonne, Wind und Wolken lösten in ihr ein wohlig schauriges Gefühl aus. Sie dachte an früher und überlegte, ob sie etwa mit dem Studium ihrem Vater beweisen wollte, dass mehr in ihr steckt. Früher, als sie noch zu Hause wohnte, debattierte er ständig vehement gegen ihren Berufswunsch. Er sagte zwar, Polizistin sei ein gefährlicher Job. Meinte aber, dass er für seine Tochter ganz andere Pläne hätte. Irgendwann sollte sie seinen Platz im Gericht einnehmen. Das schien für ihn so gut wie sicher. Ein juristischer Beruf war das erklärte Muss für seine einzige Tochter. Denselben Weg wie er sollte sie wenigstens einschlagen. Bis vor einem Jahr leitete er die Staatsanwaltschaft am Rostocker Gericht. Man kannte ihn. Aber hatte er auch Gelegenheit sich bei Entscheidungen ihres Studienplatzes einzumischen? Ob er seine Beziehung genutzt hatte? Lisa würde das wohl kaum erfahren. Kindheitserinnerungen tanzten vor ihren Augen. Sie sah das ernste Gesicht des Vaters. Wie streng er war, ständig verunsicherte er sie mit seinen überdurchschnittlichen Erwartungen. Damit erreichte er nur das Gegenteil. Sie fühlte sich oft klein und unsicher. Es gab eine Zeit, in der sie sich überhaupt nichts zutraute. Die Mutter dagegen hielt immer zu ihr. Sie unterstützte sie jedes Mal, wenn es mal brenzlig mit ihm wurde. Doch ihre Mutter war es auch, die davon sprach, wie sehr sie ihrem Vater ähnelte.

Nur weil er ständig an ihr nörgelte, machte sie auch nicht gleich das Abitur, obwohl die Lehrer sie drängten. Damit wollte sie seiner Bevormundung entkommen. Später holte sie das Abitur an der Abendschule nach. Und nun? Jede andere hätte diesen Bescheid mit tausend Luftsprüngen begrüßt. Sie dagegen jammerte auf hohem Niveau. Hatte er sich etwa doch eingemischt? Lisa setzte sich auf und starrte den langsam ziehenden Wolken hinterher. Als ob dort eine Antwort auf ihre Zweifel zu finden wäre. Etwas wollte sich in ihr aufbäumen. Oder eine innere Stimme rief ihr zu: „Von meinem Vater brauche ich keine Unterstützung. Ich schaffe das allein! Das werde ich ihm jetzt erst recht beweisen!“

Inzwischen war wieder Ruhe am Strand eingekehrt. Der Möwenfütterer hatte sich verflüchtigt, ohne dass sie es bemerkt hatte. Ihre Gelassenheit schien tatsächlich zurückgekommen zu sein. Dieser Strandtag war dafür genau richtig. Sie stand auf und schaute sich zufrieden in der Gegend um. Dabei fiel ihr auf, dass für Mitte August relativ wenig Leute am Strand lagen. War die Mittagszeit schuld oder die heiße Sonne? Ein kleiner Appetit machte sich inzwischen auch bei ihr bemerkbar. Sicher hatten sich auch die meisten hier in den Schatten verkrochen oder waren zum Essen unterwegs.

Im selben Moment ertönte ein schrilles Geräusch über der Ostsee. Ein Heli kreiste relativ flach, als wollte der Pilot die Haare der Leute am Strand zählen. Das laute Brummen schmerzte geradezu in ihren Ohren. Ihr entging die Suchkamera nicht. War etwa jemand verunglückt? Bestimmt was anderes, überlegte sie. Bei dem seichten Wellengang verunglückte niemand. Obwohl die Strömung an den Buhnen immer wieder unterschätzt wurde. Außerdem suchte der am Strand und nicht auf dem Wasser.

Sie beobachtete den Heli noch eine Weile, fand aber keinen plausiblen Grund. Vielleicht war das Ganze belanglos und ein Fotograf schoss schöne Sommerbilder vom Strand, beruhigte sie sich. Doch auch ihre Phantasie brachte sie nicht weiter. Wer weiß, wie lange das hier weiterging. Ruhe würde sie bei dem Krach auch keine mehr finden. Sie beschloss, den Vormittag besser im Café Inkognito mit einem Latte Macchiato zu beenden. Das wäre perfekt zum Abschluss dieses Strandtages.

Zwar wollte Lisa den ganzen Tag am Strand bleiben, aber zu ihren großen Stärken gehörte es flexibel zu sein. Schnell verstaute sie ihre Sachen in der riesigen Strandtasche und zog sich nebenbei an. Beim Packen fiel ihr nebenan eine Decke auf. Dort lagen jede Menge Frauensachen. Seit Stunden kümmerte sich niemand darum. Zurück blieb selbst eine Handtasche. Lisa schaute auf den Strand. Alle Strandläufer, die sie erkennen konnte, waren angezogen. Sie fragte sich, ob wieder nur ihre blühende Phantasie schuld an den Gedanken war oder die Sachen hatten wirklich mit der Suche des Hubschraubers zu tun. Sofort verwarf sie die Idee und hielt sie für absurd. Warum sollte ausgerechnet in ihrer Nähe ein Unglück passieren, das wäre zu viel des Zufalls.

Bepackt mit Decke und Strandtasche lief Lisa zu Fuß zum etwas weiter entfernten Mittelweg. Dort gab es weit und breit den einzigen offiziellen Parkplatz. Kaum war sie dort angekommen, wurde sie von einer dicken Staubwolke eingenebelt. Ein Auto raste heran, nur schwach schimmerte die blaue Farbe eines Polizeifahrzeuges durch die Staubwolke. Sie staunte nicht schlecht, als sie feststellte, dass ihre Kollegen im Anmarsch waren. Der Fahrer hatte ein derart rasantes Tempo drauf, dass der aufgewirbelte Staub ihr fast den Atem nahm. Genau vor ihren Füßen blieb der Fahrer stehen. Dabei gaben die Reifen einen letzten quietschenden Ton von sich.

Zwei Mann saßen im Wagen. Lisa erkannte sofort den Fahrer, sie wusste, dass seine Dienststelle in Sanitz war. Ein paar Mal waren sie sich während Weiterbildungen in Güstrow begegnet. Der Blonde schien sich genauso an sie zu erinnern. Er ließ die Scheibe des Wagens herunter und grüßte betont freundlich: „Hallo Lisa, so ganz allein am Sonntag unterwegs?“

Lisa ignorierte die Frage. „Was ist denn bei euch los? Erst der Heli da oben und jetzt ihr im Eiltempo.“

„Eine Frau aus der Nähe von Rostock wird vermisst. Unser Revier ist bei der Suche eingeteilt. Fast alle von uns sind dabei, Anweisung vom großen Chef. Aber wenn du mich fragst, ich glaube nicht an eine Entführung. Obwohl in diese Richtung ermittelt wird.“

„Wahrscheinlich ein übereifriger Fehlalarm, bei dem viel Wind gemacht wird, weil Druck von Oben kommt“, meinte der andere im Wagen sarkastisch.

„Garantiert nur eine harmlose Beziehungskiste und wir müssen mit voller Besetzung dranbleiben. So ein Einsatz ist zwar mal was anderes, doch an einem Sommertag wäre mir weniger Hektik etwas lieber“, meinte der Blonde etwas pikiert.

„Was hast du? Kommt selten genug vor, dass wir in dieser Ecke mal im Einsatz sind“, griente der andere im Wagen gelassen. „Wir wissen bisher nur, dass von der Frau seit über 24 Stunden jede Spur fehlt. Jeder Versuch, sie zu erreichen, schlug wohl fehl. Sie hatte eine Verabredung nicht eingehalten, telefonisch ist sie auch nicht mehr zu erreichen. Als in der Nacht nur der AB ansprang, gab der Ex der Vermissten die Vermisstenanzeige auf. Er gab weiter an, dass er bereits überall nach ihr gesucht hätte und sie eigentlich zuverlässig sei.“

„Indirekt meinte er sogar, dass man ein Verbrechen nicht ausschließen sollte.“

„Wir sind jetzt seit 8 Uhr auf den Beinen. Die Frau ist wie vom Erdboden verschluckt. Meine Schicht ist seit einer halben Stunde vorbei. Anstatt bei meinen Kids zu sein, heißt es Doppelschicht schieben und nur, weil der Alte von ganz Oben so ein ‚Gefühl‘ hat.“

Der andere verdrehte nur die Augen: „Wir werden erst mal alle Strände bis Dierhagen abklappern. Vielleicht finden wir was Auffälliges. Eine Frau löst sich schließlich nicht in Luft auf oder wird vom Erdboden verschluckt.“

„Hunderte Partner werden täglich verlassen, weil einer von ihnen die Nase voll hat. Wenn keine Kinder darunter leiden müssen? Ist doch okay, wenn man rechtzeitig einen Schlussstrich zieht.“

„Du sprichst wohl aus Erfahrung“, antwortete lächelnd der Dunkelhaarige.

„Wo denkst du hin. Bei den unregelmäßigen Zeiten im Job kann ich mir keinen festen Partner leisten. Aber Frau weiß halt wie Frau tickt. Wahrscheinlich kann ich mich besser in eine hineinversetzen als du.“

„Wer weiß, was tatsächlich mit der Frau los ist? Vorgestern hatte sie angeblich eine Verabredung mit einer Freundin in Poppendorf, das meinte zumindest der Ex. Die Freundin sagte allerdings, dass es gar keine Verabredung gab. Das ist seltsam, oder?“

„Ja schon, aber der beste Beweis für meine These. Die Frau hatte Besseres vor, und plante ihren Schritt aus langer Hand.“

„Wenn du meinst. Hoffentlich ist die Lösung tatsächlich so simpel! Wir müssen uns beeilen, am Nachmittag sind weitere Befragungen dran. Die Freundin wird die Erste sein.“

„Gut wäre es, wenn du recht behältst und sich alles als harmloser Irrtum entpuppt. Vielleicht sitzt sie tatsächlich gemütlich zu Hause und lässt es sich gut gehen.“

„Das glaube ich nicht. Davon hätten wir längst erfahren.“

„Kennt ihr den Namen? Oder wisst ihr, wo sie herkommt?“

„Das ist Chefsache! Bestimmt erfährst du in deiner Dienstelle mehr. Die Kripo Rostock arbeitet eng mit allen Polizeidienststellen zusammen, bestimmt auch mit deiner am Hafen. Es soll eine Soko eingerichtet werden, wenn es bis morgen kein Ergebnis gibt. Hattest du am Strand was entdeckt?“

Lisa überlegte, ob sie die Frauensachen angeben sollte. Schob den Gedanken schnell weg, ihr Gefühl sagte, dass sie sich nur lächerlich machen würde. „Nö, hier ist nichts los. Auffälliges hätte der da oben mit seiner Kamera längst entdeckt. Mein freier Tag hätte nur entspannter ablaufen können.“

Sie verabschiedeten sich und der VW Motor heulte wieder laut auf. Die Zwei rauschten in derselben Geschwindigkeit an ihr vorbei, wie sie gekommen waren. Inzwischen parkte eine riesige Autokarawane auf dem Parkplatz. Sind ja deutlich mehr Leute am Strand, als ich dachte. Die meisten Sonnenhungrigen blieben allerdings gleich hier am Mittelweg. Am Aufgang 10 war dagegen deutlich weniger los. Das war auch gut so. Schließlich soll er auch künftig mein Lieblingsstrand bleiben. Ihre Kollegen waren nicht mehr zu sehen. Sie warfen nicht mal einen Blick auf einige wilde Falschparker.

Lisa schaffte es nur mit allergrößter Mühe, ihr Auto aus der engen Lücke zu befreien. Sie startete zwar ihr Auto, legte aber keinen Gang rein. Ihre Gedanken kreisten immer noch um die Worte ihrer Kollegen. Sie schaltete den Motor wieder ab und ging noch einmal den Weg am Strand zurück. Genau an die Stelle, von der sie gerade herkam. Während sie den weiten Weg zurücklief, ärgerte sie sich mehrmals über sich selbst, weil ihre ungewöhnlich starke Phantasie sie wieder mal nicht in Ruhe ließ. Endlich angekommen, fand sie die Tasche immer noch unberührt am Strand. Sie hob einen zufällig neben der Tasche liegenden Stock auf und stocherte in der Tasche herum. Dabei kamen nicht nur ein Handy und ein Portemonnaie zum Vorschein, sondern mehrere typische Frauenutensilien, wie Bürste, Lippenstifte und Schminkzeug. Vorsichtig hob sie mit einem Taschentuch das Portemonnaie auf und schaute nach einem Ausweis. Tatsächlich, sie fand eine Karte mit einem Namen darauf. Zufrieden steckte sie alles in die Tasche zurück und beeilte sich zu ihrem Auto zurück zu kommen. Während sie den langen Weg zurücklief, überlegte sie, ob sie den Namen schon einmal gehört hatte.

In den letzten Jahren musste ich oft daran denken, was du mir angetan hast, als ich noch ein Kind war. Gerade fünf Jahre alt war ich damals. Mit diesen seltsamen Spielen begann alles. Zuerst musste ich mich auf deinen Schoß setzen. Die ersten Male fühlte sich das ganz harmlos an. Schnell wolltest du mehr und deine Berührungen wurden intensiver. Mit deiner starken Stimme hast du mich gemahnt, ruhig zu bleiben. Diese Berührungen fühlten sich für mich immer falsch an. Mutter bekam nichts mit. Ob sie etwas wusste, werde ich wohl nie erfahren. Vielleicht aber hatte sie auch ganz bewusst die Augen verschlossen. Ich habe sie nie danach fragen können. Später wurde dein abartiges Spiel fast zur Normalität.

Heute steht nur noch der Sessel, auf dem du mich quältest, verlassen auf seinem Platz, neben dem Fenster. So wie immer. Er erinnert mich an meine schlimmsten Tage und Nächte. Doch gibt es von diesem Sessel aus auch die beste Sicht in den Wald, weit hinein, bis zu unserem Versteck.

Als ich damals plötzlich ohne Ankündigung allein zurückblieb, fühlte ich mich schlecht. Ich war ein Kind und blieb mit zu vielen Fragen allein zurück. Lange Zeit wollte mir nichts mehr gelingen. Wie gelähmt war ich, meine bis dahin vertraute Welt brach wie ein morscher Baum einfach in sich zusammen. Nichts, was mit mir passierte, hatte ich wirklich verstanden. Ein unerträglicher Zustand, der mich mehr und mehr mürbe und einsam werden ließ.

Ich erinnere mich, dass ich erst viele Wochen nachdem ich allein zurückblieb, mich wieder auf den Weg in die Höhle machen konnte. Mit dem was ich sah, konnte ich allein nichts anfangen. In diesem Loch spürte ich zum ersten Mal eine wahnsinnige Einsamkeit. Ein Zustand, den ich bis dahin nicht benennen konnte. Seitdem bin ich praktisch stumm und mache alles nur noch mit mir allein ab. Mit wem hätte ich denn damals sprechen sollen?

Später, viel später, es war an einem düsteren Wintertag, da wurde mir plötzlich klar, dass ich das begonnene Werk allein zu Ende bringen musste, auch wenn es deine Idee war. Ob ich will oder nicht, damit werde ich auch dein begonnenes Werk vollenden. Vielleicht wirst du das Ergebnis irgendwann ja sehen? Wie du staunen wirst. Alles ist so, wie du es mir einst beigebracht hast. Du wirst erkennen, dass ich deine Regeln befolgt habe. Inzwischen bin ich viel geschickter und traue mir mehr zu.

Wenn ich dir früher zusah, fühlte ich, wie tief du mit dieser Arbeit verbunden warst. Und nur hier war es, wo ich dein zweites Gesicht erlebte. Du warst ganz anders als zu Hause. Du hast mich, glaube ich, sogar als gleichberechtigten Partner gesehen, nicht als deinen Sohn. Und ich war stolz, weil du mich in deinen geheimen Plan eingeweiht hattest. Ich wollte von dir lernen und beobachtete ganz genau jeden deiner Handgriffe. Selbst deine dunkle Seite konnte ich in diesen Stunden mal vergessen.

Viel später entdeckte ich, dass ich einige deiner Gewohnheiten übernommen hatte. Weißt du noch am Wochenende dein morgendlicher Trott durch den Wald? So wie du früher, mache ich mich jetzt auch an jedem Freitag im Haus zu schaffen. Ich lebe im Einklang mit gewohnten Beschäftigungen, das bekommt meinem Seelenleben gut. Ekel überkommt mich nur, wenn ich in den Spiegel sehe. Ich sehe DICH in meinem Spiegelbild. Mir ist als schaute ich in deine Augen. Lange ertrage ich diesen Anblick nicht mehr. Stattdessen würde ich manchmal lieber das Haus verlassen, genau wie du und Mutter damals. Dann kam mir eine Idee, die sich breit und breiter machte. Ein Gedanke, der mich wieder an das Haus kettete. Bist du meinetwegen fort? Vielleicht erfahre ich die Wahrheit nie.

Du sagtest einmal, dass du mich auf die Probe stellst und mir deshalb die Schmerzen zufügst. Du meintest, weil ich dir so viel bedeute, musste das sein. Muss ich noch mehr dafür tun? Bestimmt bist du in der Nähe und beobachtest mich. Du wirst doch wissen wollen, ob dein Sohn dir nacheifert und dein Werk vollendet?

Was ich bisher da unten geschafft habe, könnte auch für dich eine Genugtuung sein. So dicht bin ich an dein Konzept herangekommen. Etwas fehlt noch. Das werde ich auch noch schaffen. Ich bin mir sicher!

Das Böse ruht nie

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