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Rostocker Heide – Rövershagen

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Am Ortseingang von Rövershagen hielt ein Auto. Zwei Personen stiegen aus, nur begleitet von einem zu kurz geratenen Vierbeiner. Unvermittelt blieb die Frau auf dem Hauptweg, der direkt in den Wald führte, stehen.

„Michael, meinst du die Richtung stimmt?“ Kritisch schaute sie ihren Mann an. „Es gibt nirgendwo einen Hinweis!“ Thea zweifelte schon wieder, ob ihr langgehegter Wunsch, Wald und Meer an einem Tag zu genießen, sich überhaupt umsetzen ließe. Beides hatte sie lange zuvor für diesen Tag geplant. Dazwischen einen sehr speziellen Ort aufsuchen, das war’s, was sie viele Monate vor sich herschob. Heute endlich sollte es klappen. Erst gestern hatte sie alles perfekt eingefädelt. Warum also zweifelte sie jetzt wieder? Michael brauchte sich nur auf ihr Vorhaben einzulassen. Aber sie hätte es besser wissen müssen, dass ihr Mann sich schräg stellen würde. Sie verlangte nie etwas von ihm, nicht mal heute konnte er sich ihr zuliebe überwinden und Freude zeigen.

Michael trottete gelangweilt neben ihr her, trotz des kurzen Fußmarsches.

Vor ihren Augen zeigte sich eine Gabelung mit Wegen in alle Himmelsrichtungen.

„Und? Wie weiter?“ Theas ratloser Blick sprach Bände. „Ich geh mal zum Unterstand rüber“, meinte sie resigniert.

Neben der verwitterten Hütte stand eine Holztafel. Wenige Schritte nur und sie stand vor dem Schild.

„Sieh dir das bloß mal an!“, rief Thea ihrem Mann zu. „Es ist kaum noch was zu entziffern, das Schild hat seine besten Tage lange hinter sich. Vielleicht erkennst du ja was?“

Michael ging zu seiner Frau und schaute genervt auf das Schild. „Idioten! Diese blöden Typen sägen noch mal den Ast ab, auf dem sie selbst sitzen“, schimpfte er sofort los. Vandalismus machte ihn jedes Mal sauer. Ausnahmsweise beruhigte er sich heute schnell wieder. „Ist doch klar! Lass uns den rechten Weg nehmen!“

„Wenn du meinst.“ Thea willigte ohne Widerstand ein, ihr Mann war zwar maulfaul, aber auf seine Orientierung konnte sie sich stets verlassen.

Kaum waren sie auf dem schmalen Schotterweg unterwegs, herrschte wieder Funkstille. Lediglich ihr Hund schien den Tag genießen zu können. Quietschvergnügt lief er an langer Leine weit voraus. Stolz deutete sein erhobener Schweif an, dass er längst wusste, welche Richtung er zu gehen hatte. Gut, dass wenigstens einer wusste, was er wollte und sich dabei noch pudelwohl fühlte. Sie bemühte sich ihre gute Laune doch noch auf ihren Mann zu übertragen.

Munter plauderte sie drauf los: „Ideales Ausflugswetter, aber für dich wohl eher zu still?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie sofort weiter: „Gut, dass wir früh losgekommen sind.“ Kein Kommentar.

Typisch mein Mann, dachte Thea. Er liebt lediglich die Stille seines Arbeitszimmers. Sein Lebensplan ist eben auf andere Dinge fokussiert. Ausflüge in der Natur gehörten nicht dazu. Und das wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Immerhin hatte er überhaupt zugestimmt. Thea riss ihren Mann aus seinen Gedanken. „Wir sollten vor dem Strandgang Meyers Hausstelle aufsuchen. Das Café wurde neu ausgebaut und liegt mitten im Wald. Das wird dir gefallen. Die Eigentümer öffnen im Sommer jeden Tag, auch am Wochenende. Passt doch!“

Michael schien aufzuhorchen. Thea entging das nicht und fügte schnell hinzu: „Neulich erzählte mir jemand von der netten Atmosphäre, ’ne Menge Haustiere ringsherum und freundliche Gastgeber. Vor allem der Nusskuchen muss eine Klasse für sich sein. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke.“

Michaels Interesse hielt sich trotz Theas ausschweifender Beschreibungen in Grenzen.

„Hast es gestern wieder gut hinbekommen, deinen Willen durchzusetzen und jetzt willst du mich mit einem blöden Kuchen ködern?“

Thea blieb gelassen, überlegte stattdessen, wie sie ihr derzeit wichtigstes Thema anbringen konnte. Der RuheForst in Rövershagen spukte schon lange durch ihren Kopf. Sie fragte sich seit geraumer Zeit, ob das eine reale Option für sie und ihren Mann wäre, in diesem Waldstück die letzte Ruhestätte zu finden.

Ohne zu zögern, ließ sie raus, woran sie eben dachte: „Bin gespannt auf diesen RuheForst, auch wenn das Gerede von Claudia und Hans für mich eher übertrieben ankam. Was meinst du?“ Schweigen. „Ein abgestecktes Areal mitten im Wald, ob uns das wirklich anspricht?“ Sie sprach weiter ohne eine Antwort abzuwarten. „Die heftigen Gefühle neulich bei Hans? Ob die überschwängliche Begeisterung überhaupt echt war? Wir kennen ihn ja nicht wirklich, aber so ein Theater? Erinnerst du dich?“

„Klar erinnere ich mich an diesen arroganten Schnösel. Von der Performance seines Lebens sprach der. So ein Geschwafel in einem solchen Zusammenhang.“

Thea registrierte wohlwollend, dass Michael ihr wenigstens zuhörte und ging auf seine Argumente ein. „Genau! Und seine unpassende Wortwahl. Sinnliche Atmosphäre im Wald, was soll das schon bedeuten? Arme Claudia, wie die das mit dem Typ aushält? Aber sie kennt ihn ja auch erst kurze Zeit. Was soll im Ruhewald überhaupt anders sein als hier?“

Mit fragendem Blick drehte Thea sich im Kreis und blickte sich demonstrativ zu ihrem Mann um! Michael lief bereits in einem gehörigen Abstand zu ihr und hatte dennoch zugehört.

„Als deine Sportsfreundin neulich den Kerl anschleppte, hätte ich ihn am liebsten rausgeschmissen, so blöd wie der sich benahm. Der muss psychisch krank sein, sonst reagiert man nicht in dieser Art. Ich bin froh, dass wenigstens zwischen uns nicht solche schwülstigen Gespräche ablaufen“, entgegnete er ihr, immer noch leicht genervt.

„Geht mit dir wohl kaum! Intimen Gesprächen weichst du aus oder fegst das als Weiberkram vom Tisch“, konterte Thea.

„Wenn du meinst! Mich wunderte viel mehr, dass dir nicht auffiel, wie der Typ deiner Freundin ständig ins Wort fiel. Und das mit einem bissigen Ton! Ich dürfte nicht annähernd so arrogant sein.“

„Bleib mal ganz ruhig! Im Gegenteil, ich würde mich freuen, wenn du dich überhaupt an einem Gespräch beteiligst. Selbst auf die Gefahr hin, dass du mich mal unterbrechen solltest.“

Thea wollte ihren Mann nicht komplett verärgern, aber mit ihrem Thema war sie noch nicht durch: „Claudia blieb während des Gesprächs über den RuheForst pietätvoll und sachlich. Bei ihr hörte sich alles plausibel an.“

„Genau! Und nur deshalb lasse ich mich auch auf dein Abenteuer ‚Wald‘ ein.“

„Falls Claudias Beschreibung zutrifft, könnte der Ruhewald für uns interessant werden. Zum Glück hast du dich von einer Seebestattung verabschiedet. Aufs Wasser schauen ist ja ganz okay, aber was von uns bleibt, sollte besser auf festem Grund bleiben.“

Michaels Lust über Hans und Claudia zu sprechen, hatte sich endgültig erledigt. Seine Miene sprach Bände. Das entging Thea natürlich nicht. Sie atmete tief durch Mund und Nase, um die Luft völlig übertrieben herauszustoßen.

„Du atmest viel zu flach. Riech mal bewusst die satte Waldluft. Einfach phantastisch. Überhaupt Wald passt zu uns.“

Michael kannte Theas Monologe zur Genüge. Inzwischen hatte er gelernt, halb zuzuhören und zugleich den eigenen Gedanken nachzuhängen. An diesem Tag schien sie besonders aufgedreht zu sein.

„Zurück zur Natur, das war’s, was wir wollten. Die Nähe von Wald und Meer genießen. Erinnerst du dich an meinen Lieblingsspruch? Wer Meer hat braucht weniger. Ich kann mir meine letzte Ruhestätte im Wald gut vorstellen. Perfekte Idylle, und die Ostseeküste ganz nah.“

Die gestrige Arbeit kreiste längst durch seinen Kopf.

Und etwas später ertönte schon wieder seine gereizte Stimme: „Bei deinen Plänen im Wald habe ich nur einen Wunsch. Achte bei der Wahl eines Baumes im Ruhewald bitte darauf, dass der Baum weit von den beiden entfernt steht. Sonst könnte es mit der Ruhe schnell vorbei sein. Und vom Lauschen des säuselnden Windes ganz zu schweigen.“ Kaum war sein letztes Wort gesagt, machte sich ein dickes Grienen in seinem Gesicht breit.

Das allerdings blieb von Thea unbemerkt. „Was hast du? Ich mag Claudia. Überhaupt, ohne die beiden hätten wir den Ausflug wieder und wieder verschoben. Irgendwann wäre es zu spät. Außerdem schließt sich im Wald der Kreislauf des Lebens. Wir kommen zur Natur zurück, dort wo wir hergekommen sind. Ein wunderbarer Gedanke.“

Auf Außenstehende machte die spezielle Art ihrer Unterhaltung meist den Eindruck eines Streitgesprächs. Für sie war es hingegen völlig normal, solche Gespräche zu führen, das war wie an jedem x-beliebigen Tag.

Plötzlich zog der Hund stark an der Leine und Michael musste all seine Kraft aufwenden, um den ungestümen Hund zu bändigen. „Was hat der denn auf einmal“, murrte er entsetzt.

„Arko ist eben ein echter Jack Russell, der weiß, dass er im Wald aufzupassen hat“, rief Thea ihrem Mann zu.

Sie und Michael mussten sich ranhalten, um mit dem Hund Schritt zu halten.

„Bei seinem Tempo sind wir wahrscheinlich in wenigen Minuten total erschöpft und den RuheForst können wir vergessen.“ Thea schnaufte hörbar, kaum, dass sie die Worte herausgebracht hatte. Die Hektik stand ihr mit der stark einsetzenden Röte förmlich ins Gesicht geschrieben.

Michael konnte die Leine von Arko nicht mehr festhalten. Plötzlich rannte der wie vom Blitz getroffen samt Leine quer durch den Wald. Er entfernte sich in einem derart rasanten Tempo vom eigentlichen Weg, dass beide dem Hund nur noch verwirrt hinterher schauen konnten. Sie riefen laut Arko hinterher. Keine Reaktion.

„Was soll das denn bedeuten? So was hat er sich noch nie geleistet. Macht sich einfach aus dem Staub.“ Thea bemühte sich den Hund nicht aus den Augen zu verlieren.

„Ich glaube, er ist in diese Richtung“, meinte Michael und zeigte nach links zu einer Stelle, die noch tiefer in den Wald hineinführte.

Thea blieb ratlos stehen. „Was hat Arko bloß?“, fragte sie irritiert. „Er kennt sich gar nicht hier aus und rennt los, als ob er ein Ziel hätte.“

Die gesamte Gegend war mit meterhohem Farn überwuchert und sofort fehlte vom Hund jede Sicht. Um wenigstens die Richtung im Auge zu behalten, mussten sich die beiden ranhalten. Michael schien etwas zu hören: „Psst, sei still, hörst du das, da drüben? Das jämmerliche Jaulen?“

„Hoffentlich ist er in keine Tierfalle getappt?“, schlussfolgerte Thea.

„Ach was, nicht unser Arko!“, widersprach Michael. „Irgendwas ist jedenfalls passiert! Er rennt doch nicht ohne Grund einfach weg?“ Michael war sich jetzt ganz sicher, dass sein Hund etwas entdeckt hatte und setzte noch eins drauf. „Auf mein Wort hört er jedenfalls, weil ich ihn nicht so verwöhne wie du.“

„Das ist ja jetzt ganz klar zu erkennen“, giftete Thea ironisch zurück.

„Bleib mal ganz ruhig! Sieh da vorn, er kommt zurück.“

„Sieht aus, als wäre alles ok. Auf den ersten Blick jedenfalls.“

Außer Atem rannte der Hund direkt seinem Herrchen entgegen. Energisch stieß er mit seiner Schnauze immer wieder an dessen Hosenbein, jaulte dabei und lief unruhig hin und her.

„Nee, da stimmt etwas nicht. Er muss was entdeckt haben, das er uns zeigen will“, meinte Michael nun auch unruhig geworden. „Komm, lass uns gleich nachsehen! Ich finde sein Verhalten jedenfalls sehr merkwürdig.“

Thea würde am liebsten kehrtmachen. „Willst du dich wirklich durch den dichten Farn quälen? Was soll da schon sein? Nur Zecken, nichts weiter“, maulte sie weiter.

So wie meist, wenn es nicht nach ihrem Kopf ging, wurde sie schnell lustlos und launisch. Ihr Mann ließ sich nicht abhalten. Seine Neugier war geweckt und er nahm denselben Weg wie vorhin der Hund. Nicht ohne Mühe kämpfte er sich durch den dichten Farn und kam nur langsam voran. Arko rannte voraus, so als wollte er ihm den Weg weisen.

Hinter sich hörte er nur noch seine Frau rufen: „Wahrscheinlich findest du bloß das Versteck von Kindern.“

Oder die Reste eines toten Tieres, dachte Michael gerade noch, als der Hund erneut zu jaulen begann. Arko blieb wie erstarrt stehen, genauso Michael. Er konnte nicht glauben, was er vor sich sah. Ein eisiger Schauer erfasste sofort seinen gesamten Körper und ihm wurde augenblicklich kalt. Ein Grab mitten im Wald? Stumm blieb er stehen und suchte verzweifelt nach Worten: „Thea … Komm …! Da … ist … Das kann nicht … nicht … wahr sein …!“

Thea merkte sofort, dass etwas passiert sein musste und beeilte sich schnell bei ihrem Mann zu sein. Der Mund blieb ihr offen stehen, als sie sah, was Michael längst gesehen hatte. Zuerst schaute sie auf ihren Mann, dann mit langem Blick auf den ungewöhnlichen Fund. Ringsherum lag wüst herausgerissener Farn, der die Sicht auf die gesamte Fläche freigab. In der Mitte war ein Hügel angeschüttet worden, der den Eindruck einer Grabstelle vermittelte. Eine rechteckige Fläche in der Länge von etwa zwei Meter wurde geschaffen und alles ringsherum mit Farn bedeckt.

„Eine Frau? Ja …! Klar“, beantwortete sie sich selbst die Frage. „Schläft sie“, flüstert Thea leise ihrem Mann zu.

Michael traute sich etwas näher an die Grabstelle heran und sah in das Gesicht der Frau. Er konnte keinerlei Atembewegungen darin erkennen, stattdessen sah er ein blasses, lebloses Gesicht vor sich. Mehr brauchte er gar nicht sehen.

Thea konnte nicht anders, sie musste was sagen. Vor lauter Aufregung purzelten ihr jetzt im Gegensatz zu ihrem Mann andauernd die Worte nur so heraus. „Ein Grab mitten im Wald. Die geschlossenen Augen? Irgendwie sieht das hier fast liebevoll hergerichtet aus.“

„Unsinn!“ Michaels Ton wurde barsch. Er wollte nur noch diesen Schreckensort verlassen. Seine Frau sprach weiter als stünde sie unter Schock: „Und die weiße Calla? Könnte ja ein Symbol sein, aber für was?“ Diese Frage richtete sie mehr an sich selbst als an ihren Mann.

„Die Frau … Der Platz … Die Blume …? Sehr seltsam. Wie sie hingelegt wurde? Die reinste Inszenierung. Das ist blanker Wahnsinn.“ Theas Worte klangen inzwischen mehr verzerrt.

„So was …, das … macht doch kein normaler Mensch!“ Auch Michael brachte seine Worte jetzt nur noch bruchstückweise heraus. „Wie brutal muss jemand sein, erst eine Frau zu töten und sie dann so zu präsentieren! Aber vielleicht waren das mehrere durchgeknallte Typen?“

Wie erstarrt blieben beide eine gefühlte Ewigkeit am Fundort stehen. Thea war inzwischen so überdreht, dass aus ihr nur noch wirre Ideen heraussprudelten: „Die Tat muss aus langer Hand geplant worden sein. Das sieht man doch! Ja genau, das sieht aus wie ein Ritual. Die riesige Menge Farn und wie die Frau hingelegt wurde. Dazu die weiße Calla, das alles kann kein Zufall sein! Sie sollte genauso gefunden werden!“

„Könnte auch ganz anders sein“, überlegte Michael. „Etwas Entscheidendes spricht gegen deine These. Der Platz ist viel zu abgelegen. Wir selbst wären ohne Arko nie so nah herangekommen. Genau, der Hund war es ja, der uns hierhergelockt hat! Freiwillig hätte ich mich nie durch diesen dichten Farn gequält.“

Michaels Worte erreichten Thea und sie reagierte genauso fassungslos: „Ein Verbrechen der übelsten Sorte. Und das in unserer friedlichen Gegend!“

„Die Polizei muss her! Pass bloß auf den Hund auf, der darf der Frau nicht zu nahekommen.“ Theas Worte klangen unverständlich und kleinlaut.

„Los, wir sollten endlich was unternehmen! Das Ganze ist schlimm genug und kann nur von der Kripo geklärt werden.“ Michael drängte jetzt energisch darauf, den Platz zu verlassen.

Theas Atem wurde schneller, trotzdem konnte sie sich nicht verkneifen, auch in das Gesicht der Frau zu sehen. Als ob sie darin eine Antwort finden könnte. Sie traute sich sogar etwas näher heran. Doch als sie merkte, dass ihr Atem unkontrollierter wurde und ihren gesamten Brustkorb beben ließ, entfernte sie sich schnell. „Ich hab’ genug und halte das nicht länger aus. Was reden wir hier eigentlich, die Polizei muss her!“

Michael sah auf die Frau und murmelte fast unverständlich: „Warum mussten wir auch in diesen Wald?“

„Mit so einem grauenvollen Fund konnte wohl niemand rechnen“, zischte Thea.

„Mir wird das jetzt zu viel. Was, warum und wie es hier aussieht, darum sollen sich die kümmern, die wissen, wie das geht. Ich wollte gar nicht erst her. Nun hast du deinen Wald, aber ohne Ruhe, die ist nämlich dahin. Wer weiß, wann wir die wiederfinden.“

Deprimiert schaute Thea auf Arko. „Alles deinetwegen“, schimpfte sie ihren Hund mit gequälter Stimme aus. Und ihr Blick wurde von dem Hund fast ebenso traurig erwidert! „Warum musstest du uns in dieses Versteck drängen?“ Theas Stimme hörte sich selten so kraftlos an, wie in diesem Moment.

Als ob Arko jedes Wort verstanden hätte, drängte auch er jetzt darauf, den Ort zu verlassen. Er jaulte laut und machte sich auf seine Weise bemerkbar.

„Halt bloß den Hund fest!“, rief sie entsetzt ihrem Mann zu, als sie merkte, dass der sich an der Frau zu schaffen machen wollte.

„Arko weg da. Die Spuren werden noch gebraucht“, belehrte Michael seinen Hund, als ob der alles verstehen würde. „Im Tatort wird auch gezeigt, wie wichtig DNA-Spuren sind. Sie sind der einzige Beweis, um den Täter einwandfrei zu überführen.“

„Vielleicht aber haben sich mehrere Täter hier zu schaffen gemacht? Los ruf endlich die Polizei“, schrie Thea ihren Mann buchstäblich an.

Die Farbe ihres Gesichtes hatte sich komplett verändert. Das auffällige Rot von vorhin war einer aschfahlen Blässe gewichen. Dabei erkannte sie jetzt erst, wie mitgenommen auch ihr Mann aussah. Michael griff in seine Hosentasche, doch sein Handy konnte er nicht ertasten. „Es ist nicht da! Hab ich das jetzt verloren oder nur vergessen? Ich weiß noch nicht mal, ob ich es überhaupt eingesteckt habe.“

„Was jetzt? Die Polizei muss aber schnell her! Wie kriegen wir das ohne Handy hin?“

Michael musste an die Frau denken. „Wer weiß, wie lange die tote Frau hier bereits liegt. Kann sein, dass längst nach ihr gesucht wird.“

„Unseren Ausflug können wir jedenfalls abhaken. Komm wir laufen weiter zum Köhlerhof, da gibt es garantiert ein Telefon.“

Es dauerte eine Weile, eh sie den Köhlerhof erreichten. Bereits von Weitem erkannten sie, dass sich am Haus im Wald nichts rührte.

„Das darf nicht wahr sein. Alle Türen zu, und kein Auto in der Nähe! Nicht mal ein Hinweis, ob sich das demnächst ändern würde.“

„Los, dann laufen wir halt weiter, hier in Wiethagen muss es doch ein Telefon geben.“

Das erste Mal seit dem schrecklichen Fund machte Michael den Eindruck wieder Herr seiner Sinne zu sein. „Von deinem hoch gelobten Ruhewald keine Spur und mit einem erholsamen Waldspaziergang hat das Ganze auch nichts zu tun. Wer weiß, wann wir uns davon überhaupt erholen?“

„Ich weiß, dass nichts mehr sein wird wie zuvor. Die wenigen schönen Stunden, alles dahin.“ Thea murmelte leise: „Ich würde mich nicht wundern, wenn wir sogar von bösen Träumen heimgesucht werden.“

„Mord, das sieht man sonst nur im Fernsehen. Nie hätte ich geglaubt, dass derart Schreckliches so nah an uns heranrückt.“

Beide merkten ihre körperliche Abgeschlagenheit und nicht nur ihre Psyche war davon betroffen. Ihnen fiel jetzt selbst das Laufen schwer. Auf diese Weise kamen sie nur langsam voran. „Hoffentlich werden die Täter schnell gefunden, ansonsten kann man sich hier in der Gegend nicht mehr sicher sein, weil womöglich ein Mörder frei herumläuft. Dann wird sich auch keiner mehr vor die Tür trauen.“

„Vielleicht stecken die sogar noch ganz in der Nähe oder es war überhaupt gar kein Mord?“

„Ach, was sonst? Die sind längst über alle Berge. Und die Tiere hier? Wäre gut, wenn die sich wenigstens zurückhalten würden. Ansonsten kann es für die Polizei mit den Spuren schwierig werden.“

Nach etwa einer halben Stunde erkannten sie die ersten Häuser von Wiethagen. Als die näher heranrückten, liefen ihre Füße automatisch weiter. Fast waren sie am Ausgangspunkt ihres Ausfluges zurückgekehrt. Allerdings jetzt kraftlos und ohne jeden Schwung. Nicht zu vergleichen mit Theas Freude noch am Morgen.

Thea klingelte an der erstbesten Haustür. Kurz schilderte sie die Lage, ohne zu viele Details zu verraten, erfuhren die Leute, wie wichtig es war, dass sie die Polizei anrufen musste. Der Hausherr erkannte sofort die Brisanz und reichte ohne große Fragen sein Handy weiter. Thea hielt innerlich bebend den Hörer fest in der Hand und wählte zitternd die 110. Voller Ungeduld musste sie warten, eh sie zum Kriminalkommissariat Rostock durchgestellt wurde. Endlich meldete sich eine kraftvolle Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Die Frau am Apparat hörte Thea aufmerksam zu und leitete sie ohne noch einmal nachzuhaken sofort weiter.

Hauptkommissar Heilmeyer und sein Team waren mit den speziellen, nichtalltäglichen Delikten beschäftigt. Deshalb wurde er als erster aus der Zentrale benachrichtigt. Er nahm relativ schnell den Anruf entgegen. Sofort spürte er, dass es sich bei der Anruferin um eine ernstzunehmende Nachricht handeln könnte.

Plötzlich war ich allein. Wochenlang konnte ich nicht mehr denken und schon gar nicht etwas fühlen. Ich grübelte, ob ich im Verlies überhaupt weitermachen sollte. Lange Zeit war mir nur noch kalt. Ich verkroch mich unter der Erde und konnte nichts anfangen mit dem, was ich vorfand.

Im Moment geht es wieder los. Die Zweifel sind zurück. Ich zweifle an allem, doch vor allem daran, welchen Sinn die Arbeit in der Höhle macht. Warum hattest du mich in dieses verdammte Verlies geführt und mir das Versprechen abgerungen, alles fertigzustellen. Ich war viel zu jung, um zu begreifen, was das für mich bedeuten würde.

Inzwischen ist aus deinem Plan längst auch mein Plan geworden. Ich muss das jetzt zu Ende bringen. Und ich werde dir beweisen, dass ich stärker bin als du je geglaubt hattest. Staunen sollst du!

Hier schreibe ich alles für dich auf. Mit jeder Zeile sollst du blasser werden, wenn du liest, was du mir angetan hast. Erst, wenn du mir gegenüberstehst, werde ich endlich loslassen können:

Mutter hatte früh Geld für mich angelegt. Das reichte eine Zeitlang, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Inzwischen musste ich diese blödsinnige Arbeit in der Hohen Düne annehmen. Obwohl ich mit fünf Kollegen zusammenarbeite, ist meine Einsamkeit geblieben. Menschen bedeuten mir, seitdem ich allein lebe, sowieso gar nichts mehr. Die Chaträume, die ich jeden Tag besuche, helfen mir zwar zu vergessen, dass ich allein bin. Doch ich finde im Internet immer seltener etwas, das mich antreibt. Hier fragt mich wenigstens keiner, was ich mache und wer ich bin. Das ist gut, denn mein Wissen soll geheim bleiben. Die Nähe zu den Menschen ist mir regelrecht zuwider. Du sollst wissen Vater, dass ich unser Geheimnis behüte, dieses Versprechen hattest du mir bereits als Kind abgerungen.

Seit knapp einem Jahr arbeite ich inzwischen in der Putzkolonne im Yachthafen Hohe Düne. Dabei muss ich einen Riesenaufwand betreiben, um überhaupt dort hinzukommen. Und das alles für einen Job, der so eintönig ist. Die Arbeit wäre besser zu ertragen, wenn die Kollegen mich in Ruhe lassen würden. Sie quälen mich mit ihrer dämlichen Fragerei. Mein Schweigen macht sie noch neugieriger. Diese Schwätzer machen sich nur wichtig. Wenn meine Kollegen wüssten was ich …? Staunen würden die. Ich arbeite ja nur, weil die Arbeit gut bezahlt wird, alles andere interessiert mich nicht. In der Nacht schon mache ich mich auf den Weg zum Yachthafen, um tagsüber studieren zu können. Wenn ich morgens von der Schicht zurück bin, wartet immer noch die einzige Aufgabe auf mich, die meinem Leben lange Zeit wenigstens einen Sinn gab. Aber dieses Tempo werde ich nicht bis zum Ende durchhalten. Die nächtliche Arbeit im Wechsel mit dem Studium verlangt mir so viel ab. Bereits eine Stunde vor dem Feierabend werde ich unruhig, kann das Ende der Nachtschicht kaum erwarten. Zu Hause angekommen, beginnt sofort die nächste Schicht. Seit Tagen bin ich beunruhigt. Im Haus gegenüber hat sich etwas verändert. Dort brennt ständig Licht. Wenn ich frühmorgens nach Hause komme, fühle ich mich beobachtet. Jeden Morgen! Das macht mich nervös. Manchmal sehe ich ein trübes Gesicht im bläulichen Schein des flimmernden Bildschirms. Ob der Fernsehapparat aus Gewohnheit läuft? Aber nicht nur der Fernseher, auch die Lampen brennen tagelang. Warum leuchtet alles? Glauben sie dadurch mehr Sicherheit zu bekommen? Das ist Selbstbetrug! Ich kann sie zu jeder Zeit ungestört beobachten. Aber sie mich auch. Tun sie das? Ich muss aufpassen. Erstaunlich, als ich heute nach Hause kam, wirkte das Licht nicht so grell wie an den anderen Tagen und ich hatte mich dabei ertappt, dass es mir warm und vertraut erschien. Ein Gefühl, das ich mal kannte, aber längst vergessen hatte.

Das Böse ruht nie

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