Читать книгу Avas letzter Tanz - Marion Petznick - Страница 5

Prolog

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Beide bewegten sich fast allein auf der großen Tanzfläche im roten Salon der Villa El Gato. Leidenschaftlich und hingebungsvoll wie kaum jemand vor ihnen. Vor wenigen Minuten hatten sie große Mühe, den langen Schritten ihres Tanzes gerecht zu werden, so eng war es auf der Tanzfläche. Tango war beliebt und machte in der Villa am Rande der Stadt nicht halt. Erst nach Mitternacht wurde es ruhiger, wenige Paare blieben und ihre Zeit begann. Sie tanzten durchdrungen von dem Gefühl, sich dem anderen hinzugeben. Selbst der nun ausreichende Platz hielt sie nicht ab, ihre Körper fest aneinander zu schmiegen. Die Musik saugten sie wie im Rausch mit allen Sinnen auf. Die Frau ließ sich fallen, um sich gleich wieder eng an ihn zu schmiegen. Lange, schleichende Gehschritte wechselten sich mit kleinen, zackigen Bewegungen ab. Die waren zwar fließend, doch manche wirkten abgehackt. Das ruhige Dahingleiten ihrer Oberkörper stand im Gegensatz zu den ruckartigen Drehungen der Köpfe, die eine kühle Leidenschaft voller Distanz ausdrückten.

Wer die Beine des Tanzpaares betrachtete, sah die gleichmäßigen Schritte und würde meinen, dass nicht nur diese Beine eine Einheit zwischen ihnen bildeten. Der Rumpf blieb ruhig, doch ihre Haltung verriet mehr. Der Mann führte seine Partnerin mit dem gesamten Körper. Dabei nutzte er nur den rechten Teil seines Brustkorbes und Beckens. Mit seinen Armen gab er den Rahmen, in dem sich seine Partnerin verlässlich bewegen konnte. Sie blieben ganz bei sich. Zwei Seelen verschmolzen wortlos mit der Musik, zwei Herzen, die synchron schlugen, und die Umgebung existierte für sie nicht mehr. Er hatte mit vielen Frauen, auch Männern getanzt. Bei ihnen waren es immer nur lange Schritte, die sie miteinander tanzten. Mit ihr dagegen erlebte er zum ersten Mal die besondere Erotik des Tangos. Ihm reichten nur wenige Minuten, dann war ihm, als kenne er sie seit vielen Jahren. Nie zuvor hatte er ein so starkes Gefühl erlebt; sich völlig im Tanz zu verlieren. Er nahm ein Gefühlchaos mit nach Hause.

Anstatt die wertvollen Erlebnisse als Momente des Augenblicks anzunehmen und zu genießen, spürte er die einzigartige Intimität zwischen ihm und dieser Frau.

Bereits während der ersten Schritte schlangen sich zuerst die Beine umeinander, dann ihre Körper. Das waren schnell keine Anfängerschritte mehr.

Seit Monaten gelang es ihm nicht mehr, einfach aufzuhören oder nur eine einzige Nacht ausfallen zu lassen. Das wäre weit mehr als nur verlorene Tanzstunden. Ein Tag ohne sie würde in ihm eine Leere zurücklassen, die durch nichts anderes gefüllt werden konnte. Sie ahnte seine aufgewühlten Gefühle, doch es gelang ihr von Mal zu Mal besser, die Gedanken an sein erotisches Verlangen von sich zu weisen. Es gab Nächte, in denen er sie besonders spüren ließ, wie groß seine Sehnsucht war. Dem stillen Beobachter entging kaum der hungrige Blick des Mannes. Sie selbst bekam seine Lust zu spüren. Ihr gelang es, diese Erfahrung gut zu verdrängen, und ihre Befürchtungen wischte sie einfach weg. Sie beruhigte sich damit, dass sein Begehren allein ihren Bewegungen galt.

Der Mann fühlte anders. Er wollte sie ganz und gar, sein Wunsch, sie zu besitzen, wuchs mit jedem Tanz. Einmal blieb sie für einige Abende weg, doch er fand sie wieder. Sofort spürte er, wie die Musik den gesamten Raum mit ihren melancholischen Klängen übergoss. Ein Zauber, von dem er wusste, dass er nur vom Tango ausging. Dieser Zauber wirkte täglich ein bisschen mehr, sobald sie die Tanzfläche betraten und die rot-bläulichen Lichter mit den Klängen der Musik verschmolzen. Der Rhythmus floss von selbst in ihre Beine. Eine Stimmung, die er früher einmal erlebt hatte, berührte seine Seele. Er wusste, dass nur sie ihn mit ihrer Sinnlichkeit retten konnte.

Der frühe Morgen brach an, ohne dass die beiden den nahenden Tag überhaupt bemerkten. Erste Lichtstrahlen schimmerten durch die großen Fenster der Villa. Sie ließen das rot-bläuliche Licht im Raum flacher erscheinen. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis der letzte Ton sie beide in den kühlen Morgen entließ. Auch heute verabschiedete sie ihn in den frühen Morgenstunden mit den lapidaren Worten: »Es ist früh, ich muss mich beeilen.« Weg war sie.

Für sie war es nur ein Spiel, in dem sie und dann wieder er sich fallen ließen. Ein Spiel, in dem es nur Gewinner zu geben schien. Zumindest sah es von außen so aus. Dabei wünschte er sich täglich aufs Neue, ihr gemeinsamer Tanz möge nie zu Ende gehen. Jede Nacht träumte er von der Fortsetzung des Tanzes bei sich zu Hause. In seinen Träumen empfing er sie dort, gierig und immer mit demselben Lied: »Dance me to the End of Love«.

Die Wahrheit war anders: Er ging jeden Morgen allein nach Hause. Dort hatte er, bevor er ins El Gato gefahren war, allerhand vorbereitet, wie an jedem Abend. Selbst in der Realität lag immer dieser Titel von Leonard Cohen bereit. Er brauchte nur die On-Taste drücken und das Lied ertönte. Sie tanzte besonders gern zu solcher Musik. Das wusste er. Er hatte gespürt, wie leicht sie sich, während das Lied erklang, von ihm führen ließ oder sich selbst traute, zu improvisieren. Das gab ihm Hoffnung, sie einmal bei sich zu Hause zu empfangen. Dort stand Mate-Tee bereit, der anregend wirkte und zugleich beruhigend. Der Tee brauchte nur erwärmt zu werden. Seine Lieblingsvariante war es, ihn mit Milch oder Zimt zu trinken. Für sie beide würde er ihn mit feinstem Rum zubereiten. Sie würde mit einem kleinen Schwips wild und lustvoll mit ihm tanzen. Und vielleicht …?

Jedenfalls würde er ihr zeigen, dass sein Führungsstil zur Vollendung gebracht werden konnte. Ihre vollkommene Hingabe würde seine Erfüllung bedeuten.

Erneut blieb er mit seiner Sehnsucht allein. Ging enttäuscht nach Hause, trank seinen Mate-Tee ohne Alkohol, nur mit Milch. Er sinnierte vor sich hin, wie anders alles wäre, wenn …

Schnell mahnte er sich, beim nächsten Tanz offensiver vorzugehen. Er würde endlich mit ihr sprechen. Nur einige Stunden später lag er noch immer wach in seinem Bett und spürte seinen sehnsuchtsvollen Gefühlen nach. Einerseits hatte der Tanz all seine Sinne beflügelt, andererseits lag er nun da und fand keinen Schlaf. Oh, wäre sie in diesem Moment bei ihm!

Die Tage rauschten an ihm vorbei und jeder Tag, der ging, weckte tiefere Begehrlichkeiten in ihm. Bisher hatte er sich nicht getraut, sie direkt auf seine Wünsche anzusprechen. Manchmal dachte er, seine fordernden Worte könnten sie erschrecken. Dann wäre sie vielleicht für immer verloren. Sie war so zart, beinahe zerbrechlich, und stark zugleich. Je öfter sie tanzten, desto abweisender zeigte sie sich ihm hinterher. Ihre Kühle, kaum dass der letzte Ton verklungen war, zerriss ihm fast das Herz.

Seit einigen Tagen entfernten sich seine Gefühle ihr gegenüber in eine andere, eine fremde Richtung.

Avas letzter Tanz

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