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Stephen, Lord Elhalyn, wurde in der traditionellen Grabstätte an den Ufern von Hali zur letzten Ruhe gebettet. Die ganze Hastur-Verwandtschaft der Tiefland-Reiche, von den Aillards auf den Ebenen von Valeron bis zu den Hasturs von Carcosa, war gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Selbst König Regis, gebeugt und greisenhaft, zum Reiten fast schon zu gebrechlich, hatte, gestützt auf den Arm seines einzigen Sohnes, am Grab seines Halbbruders gestanden.

Prinz Felix, Erbe des Throns von Thendara und der Krone der Reiche, war gekommen, um Allart und Damon-Rafael zu umarmen, wobei er sie »teure Cousins« nannte. Felix war ein schmächtiger junger Mann mit goldenem Haar und farblosen Augen, und er hatte das lange, schmale Gesicht und die Hände der Chieri-Blütigen. Als die Begräbniszeremonien beendet waren, gab es eine große Feier. Dann wurde der alte König, der auf sein Alter und seine Gesundheit hinwies, von seinen Höflingen nach Hause gebracht, aber Felix blieb, um den neuen Lord von Elhalyn, Damon-Rafael, zu ehren.

Selbst der Ridenow-Fürst hatte einen Abgesandten vom fernen Serrais geschickt, der unaufgefordert einen Waffenstillstand für zweimal vierzig Tage anbot.

Allart, der die Gäste in der Halle begrüßte, erblickte plötzlich ein Gesicht, das er kannte – obwohl er es nie mit eigenen Augen gesehen hatte: das Haar eine Wolke aus Dunkelheit unter einem blauen Schleier; graue Augen, aber von so dunklen Wimpern überschattet, daß sie einen Augenblick lang so dunkel wie die eines Tieres wirkten. Allart fühlte, als er auf das Gesicht der dunklen Frau blickte, deren Gesicht ihn so viele Tage verfolgt hatte, ein merkwürdiges Stechen in der Brust.

»Cousin«, sagte sie höflich, und er konnte den Blick nicht, wie es der Brauch vor einer unverheirateten, ihm fremden Frau verlangte, von ihr abwenden.

Ich kenne dich gut. Du hast mich im Traum und Wachzustand verfolgt, und ich bin bereits mehr als nur halb in dich verliebt ... Erotische Visionen stürmten, unpassend in dieser Umgebung, auf ihn ein. Er versuchte gegen sie anzukämpfen.

»Cousin«, sagte sie noch einmal, »warum starrst du mich auf so unziemliche Weise an?«

Allart spürte das Blut in seinen Kopf steigen; es war tatsächlich unhöflich, fast schon unverschämt, eine Frau, die ihm fremd war, so anzustarren, und er errötete bei dem Gedanken, daß sie Laran besitzen könnte und die Visionen, die ihn quälten, möglicherweise bemerkte. Schließlich fand er seine Stimme wieder.

»Aber ich bin kein Fremder für dich, Damisela. Und es ist auch keine Unhöflichkeit, daß ein Mann seiner Braut direkt ins Gesicht schaut. Ich bin Allart Hastur. Ich werde bald dein Gatte sein.«

Sie hob den Kopf und erwiderte offen seinen Blick, aber ihre Stimme verriet Spannung. »Ah, das ist es also? Aber ich kann schwerlich glauben, daß du mein Bild in dir getragen hast. Wir haben uns zum letzten Mal gesehen, als ich ein Mädchen von vier Jahren war. Ich habe gehört, Dom Allart, du solltest dich nach Nevarsin zurückgezogen haben, daß du krank warst, ein Mönch sein und dein Erbe aufgeben wolltest. War das alles nur müßiges Geschwätz?«

»Es stimmt, daß ich eine Zeitlang solche Pläne hatte. Ich habe sechs Jahre bei den Brüdern von Sankt-Valentin-im-Schnee gewohnt, und wäre gerne dort geblieben.«

Wenn ich diese Frau liebe, werde ich sie zerstören ... Ich werde Kinder zeugen, die Monster sind ... Und sie wird sterben, wenn sie sie zur Welt bringt ... Gebenedeite Cassilda, Urmutter der Reiche, laß mich nicht so viel von meinem Schicksal sehen. Ich kann so wenig tun, um es abzuwenden ...

»Ich bin weder krank noch verrückt, Damisela. Du brauchst mich nicht zu fürchten.«

»Tatsächlich«, sagte die junge Frau – und wieder begegneten sich ihre Blicke –, »du scheinst keineswegs geisteskrank zu sein. Aber du siehst besorgt aus. Ist es der Gedanke an unsere Heirat, der dir Sorgen macht, Cousin?«

Nervös lächelnd erwiderte Allart: »Sollte ich nicht sehr zufrieden sein, zu sehen, welche Schönheit und Anmut die Götter meiner Braut gegeben haben?«

»Oh!« Ungeduldig bewegte sie ihren Kopf. »Das ist nicht die Zeit für hübsche Reden und Schmeicheleien, Cousin! Bist du einer von denen, die glauben, eine Frau sei ein törichtes Kind, das man mit ein oder zwei höflichen Komplimenten entläßt?«

»Ich wollte nicht unhöflich zu dir sein, Lady Cassandra«, sagte Allart, »aber man hat mich gelehrt, daß es ungebührlich ist, die eigenen Sorgen und Ängste mit anderen zu teilen, solange sie noch keine konkrete Gestalt angenommen haben.«

Erneut der schnelle, direkte Blick aus den wimpernbeschatteten Augen. »Ängste, Cousin? Aber ich bin harmlos und ein Mädchen! Ein Fürst der Hasturs fürchtet sicherlich gar nichts, und ganz gewiß nicht die ihm versprochene Braut!«

Vor ihrem Sarkasmus wich er zurück. »Willst du die Wahrheit hören? Ich besitze eine seltene Form des Laran; sie besteht nicht nur aus der Vorausschau. Ich sehe nicht nur die Zukunft, die sein wird, sondern alle Möglichkeiten, die sie bieten könnte. Ich sehe die Dinge, die sich bei Fehlschlägen ereignen könnten – und es gibt Momente, in denen ich weder sagen kann, welche davon durch Ursachen der Gegenwart hervorgerufen, noch, welche aus meiner Angst geboren werden. Ich bin nach Nevarsin gegangen, um dies zu bewältigen.«

Er hörte, wie sie überrascht einatmete.

»Avarras Gnade, welch ein Fluch, den du trägst! Und hast du ihn bewältigt, Cousin?«

»Irgendwie schon, Cassandra. Aber wenn ich besorgt oder unsicher bin, kommt er wieder über mich, so daß ich nicht allein die Freude sehe, die die Heirat mit einer Frau wie dir mir bringen könnte.« Wie körperlichen Schmerz in seinem Herzen spürte Allart das bittere Bewußtsein all der Freuden, die sie kennenlernen könnten, vorausgesetzt, er schaffte es, sie dazu zu bringen, seine Liebe zu erwidern. Er dachte an die künftigen Jahre, die hell und freundlich sein können ... Dann schlug er heftig die innere Tür zu und verschloß seinen Geist vor allem. Cassandra war keine Riyachiya, die man für ein kurzes Vergnügen – ohne nachzudenken – nehmen konnte!

Barsch, ohne zu merken, wie der Schmerz seine Stimme rauh und seine Worte kalt machte, sagte er: »Aber ich sehe ebenso alle Sorgen und Katastrophen, die kommen können. Und bevor ich meinen Weg durch die falschen Möglichkeiten, die meinen eigenen Ängsten entstammen, nicht sehen kann, kann ich dem Gedanken an eine Heirat keine Freude abgewinnen. Aber das soll keine Unhöflichkeit gegen dich sein.«

»Ich bin froh, daß du mir das gesagt hast. Du weißt sicher, daß meine Verwandten verärgert sind, weil unsere Hochzeit nicht vor zwei Jahren, als ich das gesetzliche Alter erreichte, stattfand. Sie meinten, du hättest mich beleidigt, indem du in Nevarsin bliebst. Und sie wünschen jetzt, daß du ohne weitere Verzögerung deinen Anspruch auf mich erhebst.« Ihre Augen funkelten ironisch. »Nicht etwa, daß sie sich ein Sekal um mein Eheglück scheren, aber sie hören einfach nicht auf, mich daran zu erinnern, wie nahe du dem Thron stehst, wie glücklich ich mich schätzen kann und wie ich dich mit meinem Charme umgarnen muß, damit du mir nicht entkommen wirst. Sie haben mich wie eine Modepuppe gekleidet, mein Haar mit Netzen aus Kupfer und Silber geschmückt und mich mit Edelsteinen beladen, als würdest du mich auf dem Markt kaufen wollen. Ich hatte beinahe erwartet, daß du mir den Mund aufmachst, meine Zähne untersuchst und dich vergewisserst, daß meine Lenden und Fesseln kräftig sind!«

Allart konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Was das betrifft, braucht deine Verwandtschaft keine Befürchtungen zu haben. Sicher könnte kein lebender Mann irgendeinen Makel an dir finden.«

»Oh, aber es gibt einen«, sagte sie offen. »Sie haben gehofft, daß du ihn nicht bemerkst, aber ich werde nicht versuchen, es vor dir zu verbergen.« Sie spreizte ihre schlanken, ringgeschmückten Hände. Die schmalen Finger waren mit Edelsteinen überladen, aber es waren sechs, und als sein Auge auf den überzähligen fiel, wurde Cassandra tiefrot und versuchte, sie unter dem Schleier zu verbergen. »Dom Allart, ich bitte dich, nicht auf meine Mißbildung zu starren.«

»Sie erscheint mir nicht als Mißbildung«, sagte er. »Spielst du die Rryl? Ich vermute, du kannst die Akkorde viel müheloser anschlagen.«

»Ja, so ist es ...«

»Dann wollen wir es nie mehr als einen Mangel oder eine Mißbildung betrachten, Cassandra«, sagte er, nahm die schlanken, sechsfingrigen Hände in die seinen und preßte seine Lippen auf sie. »In Nevarsin habe ich Kinder mit sechs oder sieben Fingern gesehen. Ihre Extrafinger waren knochenlos oder ohne Sehnen und konnten weder bewegt noch gebeugt werden. Aber wie ich sehe, kannst du sie völlig kontrollieren. Ein wenig kann ich auch musizieren.«

»Wirklich? Liegt das daran, daß du ein Mönch warst? Die meisten Männer haben keine Geduld für solche Dinge oder wenig Zeit, sie neben der Kriegskunst zu erlernen.«

»Ich wäre lieber Musiker als Krieger«, sagte Allart und drückte ihre schlanken Finger erneut gegen seine Lippen. »Die Götter mögen uns in unserem Leben genug Frieden gewähren, um Lieder zu machen, anstatt Kriege zu führen.« Als sie ihn, ihre Hand noch immer an seinen Lippen, anlächelte, bemerkte er, daß Ysabet, Lady Aillard, sie beobachtete, und ebenso sein Bruder Damon-Rafael. Sie sahen so selbstzufrieden aus, daß es ihm Übelkeit bereitete. Sie manipulierten ihn trotz seiner Ablehnung, ihrem Willen Genüge zu tun! Er ließ Cassandras Hand los, als hätte er sich verbrannt.

»Darf ich dich zu deinen Verwandten führen, Damisela?«

Als der Abend bei der dezenten, aber nicht trüben Feier fortschritt – der alte Fürst war würdig zur Ruhe getragen, und er besaß einen geeigneten Erben, so daß sein Reich ohne Zweifel aufblühen würde –, suchte Damon-Rafael seinen Bruder auf. Allart bemerkte, daß er trotz des Festes ziemlich ernst war.

»Morgen reiten wir nach Thendara, wo ich zum Lord des Reiches ernannt werde. Du mußt, als Wächter und auserwählter Erbe Elhalyns mit uns reiten, Bruder. Ich habe keine ehelichen, sondern nur Nedestro-Söhne. Und man wird keinen von ihnen als meinen Erben anerkennen, bis nicht sicher ist, daß Cassilde mir keinen schenken wird.« Er blickte mit einem kalten, festen Blick durch den Raum zu seiner Frau hinüber. Cassilde Aillard-Hastur war eine blasse, schmächtige Frau von blassem und abgespanntem Aussehen.

»Das Reich wird in deinen Händen sein, Allart, und ich bin auf deine Gnade angewiesen. Wie heißt doch das Sprichwort? ›Dein Rücken ist entblößt ohne Bruder.‹«

Allart fragte sich, wie – bei allen Göttern – Brüder zu Freunden werden konnten, wenn solche Erbgesetze galten. Allart hatte keinerlei Ehrgeiz, seinen Bruder als Haupt des Reiches zu ersetzen – aber würde Damon-Rafael das jemals glauben? Er sagte: »Ich hätte es wirklich lieber, wenn du mich im Kloster gelassen hättest, Dämon.«

Damon-Rafaels Lächeln war zweifelnd, als fürchte er, die Worte seines Bruders würden lediglich ein zwielichtiges Komplott verbergen. »Wirklich? Ich habe dich mit der Aillard-Frau sprechen sehen, und mir schien es offensichtlich zu sein, daß du die Trauungszeremonie kaum erwarten kannst. Es ist wahrscheinlich, daß du eher als ich einen ehelichen Sohn haben wirst. Cassilde ist schwächlich, und deine Braut sieht kräftig und gesund aus.«

Mit mühsam unterdrückter Wut erwiderte Allart: »Mich drängt es nicht, zu heiraten!«

Damon-Rafaels Blick war düster. »Aber der Rat wird einen Mann deiner Jahre nicht als Erben anerkennen, wenn du nicht zustimmst, sofort zu heiraten. Es ist schändlich, daß ein Mann in den Zwanzigern noch immer unverheiratet und ohne eigene Söhne ist.« Er blickte Allart scharf an. »Ist es möglich, daß ich mehr Glück habe, als ich erwarte? Bist du vielleicht ein Emmasca? Oder gar ein Männerfreund?«

Allart grinste gezwungen. »Ich bedaure, dich enttäuschen zu müssen. Aber was den Emmasca angeht: Du hast gesehen, wie ich ausgezogen und dem Rat vorgeführt wurde, als ich ins Mannesalter kam. Und wenn du gewollt hast, daß ich ein Männerfreund werde, hättest du verhindern sollen, daß ich zu den Cristoferos kam. Aber ich werde zum Kloster zurückkehren, wenn du möchtest.«

Einen Moment lang dachte er fast mit Heiterkeit daran, daß dies die beste Lösung seiner Qual und Konfusion sein würde. Damon-Rafael wollte nicht, daß er Söhne zeugte, die Rivalen seiner eigenen waren; und so konnte er vielleicht dem Fluch entrinnen, Kinder in die Welt zu setzen, die sein tragisches Laran weiterverbreiten würden. Wenn er nach Nevarsin zurückkehrte ... Der Schmerz, den dieser Gedanke ihm bereitete, überraschte ihn.

Cassandra nie wiederzusehen ...

Nicht ohne Bedauern schüttelte Damon-Rafael den Kopf. »Ich wage nicht, die Aillards zu erzürnen. Sie sind unsere stärksten Verbündeten in diesem Krieg. Und sie sind verärgert, daß Cassilde das Bündnis nicht zementiert hat, indem sie mir einen Erben vom Blut der Elhalyn und Aillard schenkte. Wenn du auf die Heirat verzichtest, werde ich noch einen Feind haben, und daß dies die Aillards werden, kann ich mir nicht leisten. Sie fürchten bereits jetzt, daß ich eine bessere Partie für dich gefunden habe. Ich weiß, daß unser Vater zwei Nedestro-Halbschwestern mit modifizierten Genen für dich ausgesucht hat. Was würdest du tun, wenn du von allen dreien Söhne bekommen solltest?«

Wie beim ersten Mal, als Dom Stephen davon gesprochen hatte, spürte Allart Widerwillen in sich aufsteigen. »Ich habe meinem Vater gesagt, daß ich das nicht wünsche.«

»Ich hätte es lieber, wenn alle Söhne von Aillard-Blut die meinen wären«, sagte Damon-Rafael, »aber ich kann das dir versprochene Mädchen nicht nehmen. Ich habe selbst eine Frau und kann eine Lady eines so hervorragenden Clans nicht zu meiner Barragana machen. Es würde den Anlaß zu einer Blutfehde geben! Wenn Cassilde bei der Geburt eines Kindes stürbe, wie es in den letzten zehn Jahren fast jedesmal zu erwarten war und künftig wieder geschehen kann, dann ...« Sein Blick wanderte zu Cassandra, die bei ihren weiblichen Verwandten stand, und musterte ihren Körper abschätzend vom Scheitel bis zur Sohle. Allart fühlte einen überraschenden Zorn. Wie konnte Damon-Rafael es wagen, so zu reden? Cassandra war sein!

Damon-Rafael fuhr fort: »Fast bin ich geneigt, deine Heirat für ein Jahr hinauszuzögern. Sollte Cassilde bei der Geburt des Kindes sterben, besäße ich die Freiheit, Cassandra zu meiner Frau zu machen. Ich vermute, die Aillards würden sogar dankbar sein, wenn sie den Thron mit mir teilen könnte.«

»Deine Rede ist Verrat«, sagte Allart, der jetzt wirklich schockiert war. »König Regis sitzt noch auf dem Thron. Felix ist sein ehelicher Sohn und wird ihm nachfolgen.«

Damon-Rafael zuckte verächtlich die Schultern. »Der alte König? Er wird kein Jahr mehr leben. Ich stand heute neben ihm an Vaters Grab. Und auch ich besitze ein wenig vom Vorausblick der Hasturs von Elhalyn. Er wird vor dem nächsten Jahreszeitenwechsel ebenfalls dort liegen. Und was Felix angeht – nun, ich habe die Gerüchte gehört und du zweifellos auch. Er ist Emmasca. Einer der Ältesten, die ihn ausgezogen gesehen haben, war bestochen, sagt man, und ein anderer hatte schlechte Augen. Was immer auch stimmen mag, er ist seit sieben Jahren verheiratet, und seine Frau macht nicht den Eindruck, als sei sie im Ehebett gut behandelt worden. Es hat bisher noch nicht einmal das Gerücht gegeben, daß sie schwanger sei. Nein, Allart, Verrat oder nicht, ich sage dir, daß ich innerhalb von sieben Jahren auf dem Thron sein werde. Sieh mit deiner eigenen Vorausschau in die Zukunft.«

Allart sagte ganz ruhig: »Du wirst auf dem Thron sitzen oder tot sein, mein Bruder.«

Damon-Rafael sah ihn feindselig an und sagte: »Die weibischen alten Männer des Rates könnten den ehelichen Sohn eines jüngeren Bruders dem Nedestro des älteren vorziehen. Wirst du deine Hand in die Flamme Halis legen und geloben, daß du den Anspruch meines Sohnes unterstützen wirst, sei er nun ehelich oder nicht?«

Allart mühte sich, durch die vielen Bilder den richtigen Blick zu finden: ein Königreich in Flammen, ein Thron in seinem Griff, Stürme, die über die Hellers tobten, eine wankende Festung, als werde sie von einem Erdbeben erschüttert – nein! Er war ein Mann des Friedens. Er hatte nicht die Absicht, mit seinem Bruder um einen Thron zu kämpfen und die Reiche sich durch das Blut eines schrecklichen Bruderkrieges töten zu sehen. Allart beugte sein Haupt.

»Die Götter haben bestimmt, Damon-Rafael, daß du als ältester Sohn meines Vaters geboren wurdest. Ich werde jeden Eid schwören, den du forderst, mein Bruder und Fürst.«

In Damon-Rafaels Blick vermischte sich Triumph mit Verachtung. Allart wußte, daß er, wenn ihre Positionen vertauscht gewesen wären, bis zum Tod für sein Erbe hätte kämpfen müssen.

Sein Körper spannte sich vor Abneigung, als Damon-Rafael ihn umarmte und sagte: »Ich werde also deinen Eid haben und deine starke Hand, um meine Söhne zu bewachen. Dann stimmt das alte Wort, und ich brauche meinen Rücken weder entblößt noch mich bruderlos zu fühlen.«

Erneut blickte er bedauernd zu der in ihren blauen Schleier gehüllten Cassandra hinüber. »Ich schlage vor – nein, du mußt deine Braut nehmen. Alle Aillards wären beleidigt, machte ich sie zur Barragana, und ich kann euch auch angesichts der Möglichkeit, daß Cassilde sterben und ich frei sein könnte, mich erneut zu vermählen, nicht unverheiratet lassen.«

Cassandra in den Händen Damon-Rafaels, der sie nur als Schachfigur einer politischen Allianz sah, die ihm die Unterstützung ihrer Verwandten sicherte? Der Gedanke machte ihn krank. Doch Allart rief sich seinen eigenen Entschluß ins Gedächtnis: keine Frau zu nehmen und keine Söhne zu zeugen, die den Fluch seines Laran trugen. Er sagte: »Als Gegenleistung für meine Unterstützung, Bruder, erspare mir diese Hochzeit.«

»Ich kann nicht«, erwiderte Damon-Rafael bedauernd, »obwohl ich Cassandra nur zu gerne selbst nehmen würde. Aber ich wage es nicht, die Aillards auf diese Weise zu beleidigen. Mach dir nichts daraus, vielleicht wird sie dir nicht lange eine Last sein. Sie ist jung, und viele von den Aillard-Frauen sind bereits gestorben, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachten. Es ist wahrscheinlich, daß auch ihr das widerfährt. Oder vielleicht ist sie wie Cassilde: zwar fruchtbar, aber nicht fähig, lebende Kinder zu gebären. Wenn du dafür sorgst, daß sie mehrere Jahre hintereinander schwanger wird und Fehlgeburten hat, würden meine Söhne sicher sein, und niemand könnte behaupten, daß du nicht das Beste für unseren Clan getan hättest. Es würde ihre Schuld sein, nicht deine.«

»Ich würde eine Frau nicht so behandeln wollen!« warf Allart ein.

»Bruder, mir ist es völlig gleichgültig, wie du sie behandelst, wenn du sie nur heiratest, mit ins Bett nimmst und die Aillards durch verwandtschaftliche Bande an uns gefesselt sind. Ich habe nur einen Weg vorgeschlagen, wie du sie loswerden kannst, ohne deine eigene Männlichkeit in Mißkredit zu bringen.« Er zuckte die Achseln und wechselte das Thema. »Aber genug davon. Morgen werden wir nach Thendara reiten. Wenn die Erbschaftsangelegenheit erledigt ist, werden wir zu deiner Hochzeit hierher zurückkehren. Trinkst du mit mir?«

»Ich habe genug getrunken«, log Allart, von dem Wunsch beseelt, jeden weiteren Kontakt mit seinem Bruder zu vermeiden. Sein Vorausblick hatte richtig gesehen. In keiner der Welten der Wahrscheinlichkeit stand irgendwo festgeschrieben, daß er und Damon-Rafael Freunde sein würden, und wenn Damon-Rafael auf den Thron gelangen sollte – und sein Laran sagte ihm, daß das sehr gut möglich war –, konnte es sein, daß er sein Leben und das seiner Söhne schützen mußte.

Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ein weiterer Grund, weswegen ich keine Söhne zeugen darf, die mir nachfolgen. Ich müßte wegen meines Bruders auch um sie fürchten!

Herrin der Stürme

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