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ОглавлениеElf Jahre später
Es war die dunkle Stunde vor der Morgendämmerung. Leise fiel Schnee auf das Kloster von Nevarsin, das unter tiefem Schnee begraben war.
Obwohl es keine Glocke gab, die sie morgens weckte, erwachten in jeder Zelle und jedem Schlafraum die Brüder, Novizen und Schüler aus dem Schlaf, als hätten sie ein unhörbares Signal gehört.
Allart Hastur von Elhalyn wachte abrupt auf. Auch in seinem Kopf war etwas erklungen, für das er empfänglich war. In den ersten Jahren seines Hierseins hatte er oft darüber hinweggeschlafen. In diesem Kloster würde niemand einen anderen wecken; es war ein Bestandteil der Ausbildung, daß die Novizen das Unhörbare hörten und das Unsichtbare sahen.
Die Kälte spürte er nicht, obwohl er vorschriftsmäßig nur mit einem Umhang bedeckt war; inzwischen hatte er seinen Körper so weit unter Kontrolle, daß er genug Wärme erzeugte, um ihn während des Schlafs nicht frieren zu lassen. Ohne ein Licht anzuzünden stand er auf, zog den Umhang über die einfache Unterkleidung, die er bei Tag und Nacht trug, und glitt mit den Füßen in die strohgeflochtenen Sandalen. Er steckte das kleine Gebetbuch, den Federkasten und das versiegelte Tintenhorn, die Schale und einen Löffel in seine Taschen. Damit war er mit allem ausgestattet, was ein Mönch benutzen und besitzen durfte. Dom Allart Hastur war noch kein vollvereidigter Bruder von Sankt-Valentin-im-Schnee von Nevarsin. Es würde noch ein Jahr dauern, bis er die letzte Brücke, die ihn von der unter ihm liegenden Welt trennte, hinter sich würde abbrechen können. Es war eine beunruhigende Welt, an die er sich jedesmal erinnerte, wenn er die Lederriemen seiner Sandalen anzog; denn in der Welt der Güter galt das Wort Sandalenträger als äußerste Beleidigung für einen Mann und unterstellte weibisches Benehmen oder noch Schlimmeres. Selbst jetzt, als er den Riemen befestigte, sah sich Allart gezwungen, seinen Geist aufgrund der Erinnerung zu beruhigen. Er machte drei leichte Atemzüge – Pause –, wiederholte sie und murmelte dazu ein Gebet gegen die Ursache seiner Erregung. Er war sich der Ironie, die darin lag, schmerzlich bewußt.
Bete ich für den Frieden meines Bruders, der mir diese Beleidigung zugefügt und mich um meiner Gesundheit willen hierhergetrieben hat? Als er merkte, daß er noch immer Ärger und Groll verspürte, wiederholte er das rituelle Atmen, verbannte den Bruder entschlossen aus seinen Gedanken und rief sich die Worte des Vorstehers ins Gedächtnis.
»Du hast keine Macht über die Welt oder ihre Dinge, mein Sohn; du hast jedwedem Wunsch nach ihr entsagt. Die Macht, die zu erwerben du hierher kamst, ist die Macht über die Dinge im Innern. Friede wird nur dann einkehren, wenn du dir voll bewußt wirst, daß deine Gedanken nicht von außen kommen. Sie kommen von innen und sind dadurch gänzlich dein. Es sind die einzigen Dinge in diesem Universum, über die man gerechterweise vollkommene Macht haben darf. Du, nicht deine Gedanken und Erinnerungen, beherrscht deinen Geist. Du – und niemand anders – bist es, der sie kommen und gehen heißt. Der Mann, der seinen eigenen Gedanken erlaubt, ihn zu quälen, ist wie der Mann, der eine Skorpionameise an seine Brust drückt und ihr befiehlt, ihn wiederholt zu beißen.«
Allart wiederholte die Übung. Sobald er sie beendet hatte, war die Erinnerung an seinen Bruder aus seinen Gedanken verschwunden. Für ihn gibt es hier keinen Platz, nicht einmal in meinen Gedanken und Erinnerungen. Beruhigt, mit weißen Atemwolken vor dem Mund, verließ er die Zelle und bewegte sich leise den langen Gang hinunter.
Die Kapelle, zu erreichen durch einen kurzen Weg im herabfallenden Schnee, war der älteste Teil des Klosters. Vor vierhundert Jahren war die erste Gruppe von Brüdern hierhergekommen, um hoch über der Welt, der sie zu entsagen wünschten, ihr Kloster aus dem Fels des Bergs zu graben. Sie hatten die kleine Nische ausgehöhlt, in der der Sage nach Sankt-Valentin-im-Schnee sein Leben aushauchte. Um die sterblichen Überreste des Eremiten herum war die Stadt gewachsen: Nevarsin, die Schneestadt.
Jetzt gab es hier mehrere Gebäude, von denen jedes einzelne, ungeachtet der Hilfsmittel dieser Zeit, durch die Hände aller Mönche entstanden war. Die Brüder waren stolz darauf, nicht einen einzigen Stein mit Hilfe einer Matrix bewegt, sondern alles mit Händen und Geist geschaffen zu haben.
Die Kapelle war dunkel. Ein einzelnes kleines Licht glühte in jenem Schrein, in dem die Statue des Heiligen Lastenträgers über der letzten Ruhestätte des Heiligen stand. Mit ruhigen Bewegungen und geschlossenen Augen, wie es die Regeln verlangten, wandte Allart sich seinem Platz in den Bankreihen zu. Wie ein Ganzes kniete die Bruderschaft nieder. Allart, dessen Augen noch immer vorschriftsmäßig geschlossen waren, hörte das Fußrascheln und das gelegentliche Straucheln eines Novizen, der sich noch auf den äußeren, statt auf den inneren Blick verlassen mußte, um seinen ungeschickten Körper durch die Dunkelheit des Klosters zu bewegen. Die Schüler, noch nicht vereidigt und ohne geringste Ausbildung, stolperten in der Dunkelheit. Sie verstanden noch nicht, weshalb die Mönche Licht weder erlaubten noch benötigten. Flüsternd, einander anrempelnd, stolperten sie und fielen manchmal hin, aber schließlich befanden sich alle auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Ohne ein wahrnehmbares Signal erhoben sie sich in einer einzigen, kontrollierten Bewegung, als folgten sie einem unsichtbaren Signal des Paters Vorsteher. Ihre Stimmen erhoben sich zur Morgenhymne:
»Eine einzige Macht schuf
Himmel und Erde,
Berge und Täler,
Dunkel und Licht;
Mann und Frau,
Mensch und Nichtmensch.
Diese Macht ist nicht zu sehen,
Ist nicht zu hören,
Ist nicht zu ermessen.
Von nichts außer dem Geist,
der teilhat an dieser Macht.
Ich nenne sie göttlich ...«
Das war der Augenblick eines jeden Tages, in dem Allarts innere Fragen, Sehnsüchte und Sorgen völlig verschwanden. Wenn er die Stimmen seiner Brüder singen hörte, alte und junge, kindlich schrill oder altersrauh, wenn seine eigene Stimme sich in dem großen Konsens verlor, dann sah er sich nicht mehr in dem Gefühl einer getrennt suchenden und fragenden Einheit. Schwebend ruhte er in dem Wissen, daß er der Teil eines Größeren war, ein Teil der großen Macht, die die Bewegung der Monde, Sterne, der Sonne und des dahinterliegenden unbekannten Universums aufrechterhielt; daß er hier einen wahrhaften Platz in der Harmonie besaß; daß er, wenn er verschwand, ein Loch von Allart-Größe in einem universellen Geist hinterließ; daß er etwas war, das nicht ersetzt oder verändert werden konnte. Wenn er den Gesang hörte, war er ganz in Frieden versunken. Der Klang seiner eigenen Stimme, ein ausgebildeter Tenor, erweckte Freude in ihm, aber nicht mehr, als der Klang jeder anderen. Ihm gefiel selbst die rauhe und unmelodiös zitternde Stimme des neben ihm stehenden Bruders Fenelon. Immer, wenn er mit seinen Brüdern sang, fielen Allart die ersten Worte ein, die er über Sankt-Valentin-im-Schnee gelesen hatte, Worte, die ihn während der Jahre seiner größten Qual erreicht, und ihm zum ersten Mal, seit er der Kindheit entwachsen war, Frieden gegeben hatten.
»Jeder von uns ist wie eine einzelne Stimme in einem großen Chor, eine Stimme wie keine zweite. Jeder von uns singt einige Jahre in diesem großen Chor, dann ist seine Stimme für immer verstummt. Andere nehmen dann ihren Platz ein. Aber jede Stimme ist einzigartig, keine ist schöner als die andere, keine kann das Lied einer anderen singen. Nichts nenne ich Sünde, außer dem Unterfangen, das Lied eines anderen oder mit eines anderen Stimme zu singen.«
Und Allart war beim Lesen dieser Worte klargeworden, daß er seit seiner Kindheit auf Befehl seines Vaters und seiner Brüder, der Hauslehrer, Waffenmeister und Stallknechte, der Untergebenen und Vorgesetzten eine Melodie zu singen versucht hatte – mit einer Stimme, die seiner eigenen nicht entsprach. Er war ein Cristofero geworden, was man bei einem Hastur für unziemlich hielt; immerhin war er ein Nachkomme von Hastur und Cassilda, ein Nachkomme von Göttern, einer, der Laran besaß – ein Hastur von Elhalyn, aus der Nähe der heiligen Stätten von Hali, in denen die Götter einst gewandelt waren. Seit undenklichen Zeiten beteten die Hasturs den Herrn des Lichts an. Und doch war Allart ein Cristofero geworden, hatte seine Brüder verlassen und auf sein Erbe verzichtet. Er war hierhergekommen, um Bruder Allart zu sein; seine Herkunft war unter den Brüdern von Nevarsin fast vergessen.
Sich selbst vergessend, und doch seines individuellen und einzigartigen Platzes in Chor, Kloster und Universum völlig bewußt, sang Allart die langen Hymnen. Später ging er, noch immer nüchtern, an die ihm zugewiesene Morgenarbeit, die darin bestand, daß er den Novizen und Schülern des äußeren Refektoriums das Frühstück brachte. Er trug die dampfenden Kannen mit Tee und heißem Bohnenbrei zu ihnen und goß das Essen in Schalen und Krüge, wobei er bemerkte, wie sich die kalten Hände der Jungen an die Hitze schmiegten und versuchten, sich zu wärmen. Die meisten der Kleinen waren zu jung, um die Technik der inneren Erwärmung schon zu beherrschen, und Allart wußte, daß einige von ihnen unter ihren Umhängen in Decken gewickelt waren. Er spürte eine unbefangene Sympathie für sie und erinnerte sich an seine eigenen frühen Kältequalen. Damals, als sein Verstand noch nicht gelernt hatte, den Körper zu erwärmen, war ihm nicht anders gewesen. Sie aber bekamen heißes Essen und schliefen mit Extradecken. Je mehr sie die Kälte spürten, desto eher würden sie sich bemühen, sie zu besiegen.
Allart blieb stumm (obwohl er wußte, daß er sie hätte tadeln sollen), als sie über die Schlichtheit des Essens maulten. Hier, in den Quartieren der Kinder, wurde ein im Vergleich reichliches, üppiges Essen serviert. Er selbst hatte, seit er der vollen mönchischen Lebensweise beigetreten war, nur zweimal eine warme Mahlzeit erhalten; und der Grund dafür war gewesen, daß er in den tiefen Pässen besonders gute Arbeit bei der Rettung eingeschneiter Reisender geleistet hatte. Pater Vorsteher war der Meinung gewesen, die Unterkühlung seines Körpers habe einen Punkt erreicht, die seine Gesundheit bedrohe. Deswegen hatte er ihm befohlen, warme Nahrung zu essen und einige Tage unter zwei Extradecken zu schlafen. Unter gewöhnlichen Bedingungen hatte Allart sich dermaßen unter Kontrolle, daß Sommer und Winter ihm nichts bedeuteten. Sein Körper zog aus jeder Nahrung, ob heiß oder kalt, vollen Nutzen.
Ein betrübter kleiner Bursche, ein verwöhntes Kind von einem der Tieflandgüter, mit sorgfältig geschnittenem, sich um sein Gesicht kräuselndem Haar, zitterte – obwohl in Umhang und Decke gehüllt – so heftig, daß Allart, als er ihm eine zweite Portion Brei gab (die heranwachsenden Jungen konnten essen, soviel sie wollten), freundlich sagte: »Bald wirst du die Kälte nicht mehr spüren. Das Essen wird dich wärmen. Und du bist warm gekleidet.«
»Warm?« sagte das Kind ungläubig. »Ich habe keinen Pelzumhang mehr. Ich glaube, ich werde vor Kälte sterben!« Er war den Tränen nahe, und Allart legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter.
»Du wirst nicht sterben, kleiner Bruder. Du wirst lernen, daß dir ohne Kleidung warm sein kann. Weißt du, daß die Novizen ohne Decke und Umhang nackt auf dem Stein schlafen? Und bisher ist hier noch niemand vor Kälte gestorben. Auch Tiere tragen keine Kleider. Ihre Körper sind an das Wetter, in dem sie leben, angepaßt.«
»Tiere haben ein Fell«, protestierte das Kind mürrisch. »Ich habe nur meine Haut.«
Allart lachte und sagte: »Und das ist der Beweis dafür, daß du keinen Pelz brauchst; denn bräuchtest du einen, um dich warm zu halten, wärst du mit einem Fell auf die Welt gekommen, kleiner Bruder. Dir ist kalt, weil dir seit deiner Kindheit erzählt wurde, daß man im Schnee friert. Und dein Verstand hat diese Lüge geglaubt; aber die Zeit wird kommen, noch vor dem Sommer, und du wirst barfuß durch den Schnee laufen und keinerlei Unbehagen fühlen. Jetzt glaubst du mir noch nicht, aber denke an meine Worte, Kind. Iß jetzt deinen Brei und achte darauf, wie er im Brennkessel deines Körpers zu arbeiten beginnt, um deinen Gliedern Wärme zu bringen.« Er tätschelte die tränenbenetzte Wange des Jungen und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Auch Allart hatte einst gegen die strenge Disziplin der Mönche aufbegehrt; aber er hatte ihnen getraut, und ihre Versprechungen waren ehrlich gewesen. Nun hatte er seinen Frieden. Er hielt seinen Geist unter Kontrolle und lebte nur einen Tag zur gleichen Zeit, ohne den quälenden Druck der Vorausschau. Sein Körper war ihm ein williger Diener geworden und tat, was ihm aufgetragen wurde, ohne mehr zu verlangen, als er für sein Wohlergehen und seine Gesundheit brauchte.
Über die Jahre hatte Allart vier Gruppen dieser Kinder ankommen sehen. Sie hatten vor Kälte geweint, sich über das karge Essen und die kalten Betten beklagt, waren verzogen und anspruchsvoll gewesen – und in ein, zwei oder drei Jahren würden sie weggehen, fürs Überleben ertüchtigt, mit viel Wissen über ihre Geschichte und fähig, die eigene Zukunft zu beurteilen. Und das würde auch für diese hier gelten, einschließlich des verzogenen kleinen Jungen, der Angst hatte, ohne Fellumhang vor Kälte zu sterben. Sie würden abgehärtet und ertüchtigt davongehen. Unwillkürlich bewegte sich Allarts Geist in die Zukunft, er versuchte zu sehen, was aus dem Kind werden würde, versuchte, sich selbst zu bestätigen. Er hatte es gewußt – seine Strenge zu dem Jungen war gerechtfertigt ...
Allart zuckte plötzlich zusammen. Seine Muskeln versteiften sich, wie sie es seit dem ersten Jahr hier nicht mehr getan hatten. Automatisch atmete er, um sie zu entspannen, aber die Angst blieb.
Ich bin nicht hier. Ich kann mich im nächsten Jahr nicht in Nevarsin sehen ... Bedeutet das meinen Tod? Oder werde ich fortgehen? Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft ...
Das war es, was ihn hierhergebracht hatte. Er war nicht, wie manche anderen Hasturs, ein Emmasca – weder Mann noch Frau, dafür aber langlebig und steril. Obwohl es in diesem Kloster Mönche gab, die tatsächlich so geboren worden waren und nur hier mit dem, was in dieser Zeit als Heimsuchung galt, zu leben gelernt hatten. Nein, Allart hatte seit seiner Kindheit gewußt, daß er ein Mann war. Und er war so ausgebildet worden, wie es dem Sohn einer königlichen Linie, der an fünfter Stelle vom Thron des Reiches stand, angemessen war. Aber schon als Kind hatte er eine andere Sorge gehabt.
Er hatte angefangen, die Zukunft zu sehen, ehe er sprechen konnte. Einmal, als sein Onkel gekommen war, um ihm ein Pferd zu bringen, hatte er den Mann erschreckt, indem er ihm sagte, daß er sich freue, das Schwarze statt des Grauen zu bekommen, mit dem er zuerst aufgebrochen sei.
»Woher weißt du, daß ich zuerst mit dem Grauen aufgebrochen bin?« hatte der Mann gefragt.
»Ich habe gesehen, wie du mir den Grauen brachtest,« hatte Allart erwidert, »und dann habe ich gesehen, wie du das schwarze Pferd nahmst, dein Bündel herunterfiel und du umkehrtest und überhaupt nicht kamst.«
»Bei der Gnade des Aldones«, hatte der Mann geflüstert. »Es stimmt. Beinahe hätte ich mein Bündel im Paß verloren. Wäre es so gekommen, hätte ich wegen ungenügender Vorräte für die Reise umkehren müssen.«
Nur allmählich war Allart die Natur seines Laran bewußt geworden. Er sah nicht nur die wirkliche, sondern jede mögliche Zukunft. Sie breiteten sich fächerförmig vor ihm aus, und jede seiner Bewegungen erzeugte ein Dutzend neuer Alternativen. Mit fünfzehn, als er zum Mann erklärt wurde und vor den Rat der Sieben trat, um mit dem Zeichen seines Hauses tätowiert zu werden, wurden ihm die Tage und Nächte zur Qual, denn er konnte bei jedem Schritt ein Dutzend Straßen und hundert Alternativen, von denen jede mehrere neue hervorbrachte, vor sich sehen, bis er paralysiert war und sich aus Angst vor dem Bekannten und Unbekannten nicht mehr zu bewegen wagte. Er wußte nicht, wie er es abschalten konnte, und konnte nicht damit leben. Bei den Waffenübungen war er stets wie gelähmt, denn bei jedem Hieb sah er ein Dutzend seiner eigenen Bewegungen, die den anderen verstümmeln oder töten konnten. Jeder auf ihn gezielte Hieb barg drei Möglichkeiten, zu treffen oder danebenzugehen. Die Waffenübungen wurden für ihn zu einem solchen Alptraum, daß er schließlich unbeweglich vor dem Waffenmeister stand, zitternd wie ein verschrecktes Mädchen und unfähig, auch nur das Schwert zu heben. Die Leronis seiner Familie hatte versucht, in seinen Verstand einzudringen und ihm einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu zeigen, aber Allart war von den verschiedenen Richtungen, in die ihre Versuche abzielten, ebenfalls wie gelähmt. Mit der zunehmenden Empfindsamkeit Frauen gegenüber hatte er sehen können, wie er sie packte und würgte.
Schlußendlich hatte er sich in seinem Zimmer verborgen, sich einen Feigling und Narren schelten lassen und sich geweigert, eine Bewegung oder einen einzigen Schritt zu tun, aus Angst vor dem, was geschehen konnte. Er hatte sich für einen Sonderling, einen Verrückten gehalten ...
Als er schließlich soweit gewesen war, die lange, schreckliche Reise hinter sich zu bringen, hatte er hinter jedem Schritt einen falschen gesehen, der ihn in den Abgrund stürzen konnte, wo er tot oder schwer verletzt tagelang auf den Felsen unterhalb des Pfades lag. Er hatte sich fliehen und umkehren sehen. Dann hatte der Pater Vorsteher ihn begrüßt, sich seine Geschichte angehört und gesagt: »Du bist weder ein Sonderling noch ein Verrückter, Allart, aber du leidest. Ich kann nicht versprechen, daß du hier deinen wahren Weg finden oder geheilt werden wirst, aber vielleicht können wir dich lehren, damit zu leben.«
»Die Leronis glaubt, ich könne es mit einer Matrix kontrollieren, aber ich war zu ängstlich«, hatte Allart gestanden, und zum ersten Mal das Gefühl verspürt, frei von Angst zu sprechen. Angst war eine verbotene Sache, Feigheit eine Untugend. Ein Hastur sprach nicht über solche Dinge.
Pater Vorsteher hatte genickt und gesagt: »Du hast recht gehandelt, die Matrix zu furchten. Sie hätte dich durch deine Angst kontrollieren können. Vielleicht können wir dir einen Ausweg zeigen. Wenn es mißlingt, kannst du vielleicht lernen, mit deinen Ängsten zu leben. Als erstes mußt du lernen, daß du sie selbst erzeugst.«
»Das habe ich immer gewußt. Ich habe mich ihretwegen hinreichend schuldig gefunden ...« protestierte Allart, aber der alte Mönch hatte gelächelt.
»Nein. Wenn du wirklich geglaubt hast, sie seien dein, würdest du weder Schuld noch Ablehnung oder Verdruß fühlen. Was du siehst, kommt von außerhalb deines Ichs und befindet sich jenseits deiner Kontrolle. Aber deine Ängste sind dein, und nur dein; wie deine Stimme, deine Finger oder deine Erinnerungen, und daher ist es an dir, sie zu kontrollieren. Wenn du dich der Angst gegenüber machtlos fühlst, hast du noch nicht zugegeben, daß sie dein ist und du mit ihr nach deinem Willen verfahren kannst. Kannst du die Rryl spielen?«
Von diesem Gedankensprung verblüfft, bestätigte Allart, daß man ihn unterrichtet hatte, die kleine Handharfe leidlich zu bedienen.
»Wenn die Saiten am Anfang nicht die von dir gewünschten Töne hervorbrachten, hast du dann das Instrument verflucht oder deine ungeschickten Hände? Irgendwann, vermute ich, kam die Zeit, als deine Finger auf deinen Willen reagierten. Verfluche nicht dein Laran, solange dein Geist nicht geschult wurde, es zu kontrollieren.« Er ließ Allart einen Moment darüber nachdenken und sagte dann: »Die Wege der Zukunft, die du siehst, kommen von außen. Sie werden weder von Erinnerungen noch von Furcht erzeugt. Aber die Furcht entsteht in dir und lähmt deine Fähigkeit, dich inmitten verschiedener Wege zu bewegen. Du bist es, der die Furcht erschafft. Wenn du lernst, deine Angst zu kontrollieren, kannst du furchtlos einen Blick auf die vielen Pfade, die du betreten kannst, werfen und auswählen, welchen du einschlagen willst. Deine Angst ist wie die ungelernte Hand auf der Harfe, die den Klang verzerrt.«
»Aber wie kann ich vermeiden, ängstlich zu sein? Ich will mich nicht fürchten.«
»Dann sag mir«, sagte Pater Vorsteher milde, »welche der Götter die Angst wie einen Fluch in dich legen?« Beschämt war Allart verstummt, und der Mönch sagte ruhig: »Du sprichst davon, ängstlich zu sein. Doch Angst ist etwas, das du aus Mangel an geistiger Kontrolle in dir erzeugst. Du wirst lernen, es zu verstehen, wenn du dich entscheidest, ängstlich zu sein. Das erste, was du tun mußt, ist zu lernen, daß die Angst dein ist und daß du sie kommen und gehen heißen kannst. Fange damit an: Immer wenn du die Angst spürst, die eine Entscheidung verhindert, sage dir selbst: ›Was macht mich ängstlich? Warum habe ich mich entschieden, Angst zu spüren, die meine Entscheidung verhindert, statt die Freiheit der Entscheidung zu wählen?‹ Angst ist ein Weg, dir selbst zu verbieten, frei zu wählen, was du als nächstes tun wirst; ein Weg, die Reflexe deines Körpers, keinesfalls jedoch die Bedürfnisse des Geistes für dich entscheiden zu lassen. Und wie du mir berichtetest, hast du in letzter Zeit meist beschlossen, nichts zu tun, damit nichts von dem, das du fürchtest, über dich kommen kann. Also wurden die Entscheidungen nicht von dir, sondern von deiner Angst getroffen. Damit fang an, Allart. Ich kann nicht versprechen, dich von ihr zu befreien, nur, daß die Zeit kommen wird, da du ihrer Herr wirst. Und dann wird sie dich nicht länger lähmen.« Dann hatte er gelächelt und gesagt: »Du bist doch deswegen hierhergekommen, oder?«
»Ich hatte mehr Angst zu bleiben, als zu kommen«, erwiderte Allart und schüttelte sich.
Pater Vorsteher hatte aufmunternd gesagt: »Immerhin konntest du zwischen einer größeren und einer geringeren Angst wählen. Du mußt jetzt lernen, sie zu kontrollieren und über sie hinwegzuschauen. Es wird ein Tag kommen, an dem du weißt, daß sie dein Diener ist, der sich deinem Willen unterwirft.«
»Mögen die Götter es geben«, hatte Allart zitternd erwidert.
So hatte sein Leben hier begonnen ... und währte nun sechs Jahre lang. Langsam, Schritt für Schritt, hatte Allart die Ängste und Forderungen seines Körpers gemeistert. Er hatte gelernt, unter den verwirrenden, fächerförmig ausgebreiteten Möglichkeiten der Zukunft die am wenigsten schädliche auszuwählen. Nach und nach war seine Zukunft enger geworden. Und jetzt sah er sich nur noch hier, erlebte nur einen Tag zur gleichen Zeit und tat, was er mußte ... Nicht mehr und nicht weniger.
Und nun, nach sechs Jahren, wurde das, was er vor sich sah, plötzlich zu einem verwirrenden Strom von Bildern: Er sah eine Reise, Felsen und Schnee; eine fremde Burg, seine Heimat, das Gesicht einer Frau ... Allart bedeckte das Gesicht mit den Händen, befand sich erneut im Griff der alten, lähmenden Angst.
Nein! Nein! Ich will nicht! Ich will hierbleiben, für mein eigenes Ziel leben, niemandes andern Lied singen und nicht mit eines anderen Stimme ...
Sechs Jahre lang war er seiner Bestimmung überlassen gewesen und nur den Zukunftsmöglichkeiten eigener Entscheidungen unterworfen. Jetzt brach das Draußen wieder über ihn herein. Traf außerhalb des Klosters jemand Entscheidungen, die ihn auf die eine oder andere Art berührten? All die Angst, die er in den vergangenen Jahren unterdrückt hatte, stieg in ihm wieder auf. Und langsam, indem er atmete, wie es ihm gelehrt worden war, meisterte er sie wieder.
Die Angst ist mein. Ich verfüge über sie, und ich allein kann wählen ... Erneut versuchte er unter den bedrängenden Bildern einen Pfad zu sehen, auf dem er Bruder Allart bleiben und im Frieden seiner Zelle auf seine Art für die Zukunft der Welt arbeiten konnte ...
Aber einen solchen Zukunftspfad gab es nicht, und das machte ihm eines klar: Welche Entscheidung von außen auch immer über ihn hereinbrach, sie würde so sein, daß er sich ihr nicht entziehen konnte. Lange Zeit kämpfte er mit sich, kniete auf dem kalten Steinboden der Zelle und versuchte sowohl seinen widerstrebenden Körper als auch den Geist zu zwingen, diese Erkenntnis zu akzeptieren. Es gelang ihm schließlich, seine Angst zu meistern. Er wußte jetzt, daß er die Macht dazu hatte. Wenn die Herausforderung kam, würde er ihr furchtlos begegnen.
Um die Mittagszeit hatte Allart genug von den sich endlos verzweigend vor ihm ausbreitenden Zukunftsmöglichkeiten gesehen, um zumindest einen Teil dessen, was ihm bevorstand, zu erkennen. Er hatte das Gesicht seines Vaters – zornig, schmeichelnd, entgegenkommend – in diesen Visionen nun häufig genug gesehen, um wenigstens teilweise zu wissen, welche Prüfung ihm als erste bevorstand.
Als Pater Vorsteher ihn zu sich rufen ließ, konnte er dem alten Mönch mit Ruhe und leidenschaftsloser Selbstkontrolle gegenübertreten.
»Dein Vater ist gekommen, um mit dir zu sprechen, mein Sohn. Du kannst ihn im Nord-Gästezimmer treffen.«
Allart senkte den Blick; als er ihn wieder hob, sagte er: »Pater, muß ich mit ihm sprechen?« Seine Stimme war ruhig, aber der Pater Vorsteher kannte ihn zu gut, um diese Ruhe als echt hinzunehmen.
»Ich habe keinen Grund, ihn zurückzuweisen, Allart.«
Allart hatte das Gefühl, eine zornige Erwiderung zurückgeben zu müssen. »Aber ich!« Doch er war zu gut ausgebildet, um sich an die Unvernunft zu klammem. Schließlich sagte er beherrscht: »Ich habe einen großen Teil des Tages damit verbracht, mich auf diese Begegnung vorzubereiten. Ich will Nevarsin nicht verlassen. Ich habe hier Frieden gefunden. Helft mir, einen Weg zu finden, Pater Vorsteher.«
Der alte Mann seufzte. Seine Augen waren geschlossen – wie meistens, da er mit dem inneren Blick deutlicher sah –, aber Allart wußte, daß sie ihn klarer denn je erblickten.
»Ich wünschte tatsächlich – um deinetwillen, Sohn –, daß ich einen solchen Weg erkennen könnte. Du bist hier zu Zufriedenheit und soviel Glück, wie ein Mann, der deinen Fluch trägt, nur finden kann, gelangt. Aber ich fürchte, die Zeit der Zufriedenheit ist nun beendet. Du mußt dir vergegenwärtigen, Junge, daß viele Menschen nie in den Genuß einer solchen Ruhe gelangen, um Selbsterkenntnis und Disziplin zu erlernen. Sei dankbar für das, was dir gegeben wurde.«
Oh, ich bin dieses frommen Geredes vom Akzeptieren und den uns auferlegten Lasten überdrüssig. Allart unterdrückte die auflehnenden Gedanken, aber der Pater Vorsteher hob den Kopf. Seine Augen, farblos wie ein unbekanntes Metall, begegneten Allarts rebellischem Blick.
»Du siehst, mein Junge, du besitzt nicht wirklich die Fähigkeiten eines Mönchs. Wir haben dir etwas Kontrolle über deine natürlichen Neigungen vermittelt, aber von Natur aus bist du rebellisch und begierig, zu verändern, was du verändern kannst. Aber Veränderungen können nur dort unten durchgeführt werden.« Seine Armbewegung umfaßte die ganze weite Welt außerhalb des Klosters. »Du wirst dich weder damit begnügen, deine Welt selbstzufrieden hinzunehmen, noch dich damit bescheiden, nicht in blinder Auflehnung, die aus deinem Leid herrührt, auszuschlagen. Du mußt gehen, Allart, und die Veränderungen, die du bewerkstelligen kannst, in deiner Welt durchfuhren.«
Allart bedeckte das Gesicht mit den Händen. Bis zu diesem Augenblick hatte er immer noch geglaubt – Wie ein Kind, wie ein gläubiges Kind! –, daß der alte Mönch die Macht besaß, ihm zu helfen, damit er dem Unvermeidlichen entgehen konnte. Er wußte, daß ihm sechs Jahre Kloster nicht geholfen hatten, darüber hinwegzukommen. Er fühlte den letzten Funken seiner Kindheit schwinden und hatte den Wunsch, zu weinen.
Der Pater Vorsteher sagte mit einem sanften Lächeln: »Bekümmert es dich, daß du in deinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr kein Kind mehr bleiben kannst, Allart? Sei dankbar, daß du nach all diesen Jahren des Lernens darauf vorbereitet bist, ein Mann zu sein.«
»Ihr hört Euch an wie mein Vater!« warf Allart ihm zornig entgegen. »Genau das wurde mir morgens und abends mit dem Haferbrei aufgetischt – daß ich noch nicht Manns genug sei, meinen Platz in der Welt auszufüllen. Fangt Ihr nicht auch an, so zu sprechen, Pater, sonst müßte ich annehmen, daß meine Jahre hier unnütz waren.«
»Ich meine nicht das, was dein Vater meint, wenn ich sage, daß du bereit bist, dem Kommenden als Mann zu begegnen«, sagte der Pater Vorsteher. »Ich glaube, du weißt schon, was ich mit Männlichkeit meine. Oder war ich im Irrtum, als ich dich heute morgen ein weinendes Kind beruhigen und ermutigen hörte? Tu nicht so, als würdest du den Unterschied nicht kennen, Allart.« Die strenge Stimme wurde weicher. »Bist du zu zornig, um für meinen Segen niederzuknien, Kind?«
Allart fiel auf die Knie. Er spürte die Berührung des alten Manns in seinem Geist.
»Der Heilige Lastenträger wird dich für das, was kommen muß, stärken. Ich liebe dich sehr, aber es wäre selbstsüchtig, dich hierzubehalten. Ich glaube, du wirst in der Welt, der du entsagt hast, zu dringend gebraucht.« Als Allart aufstand, zog der Pater Vorsteher ihn in eine kurze Umarmung, küßte ihn und ließ ihn wieder los.
»Du hast meine Erlaubnis, zu gehen und dich in weltliche Gewänder zu kleiden, wenn du willst, bevor du deinem Vater entgegentrittst.« Erneut, zum letzten Mal, berührte er Allarts Gesicht. »Mein Segen sei immer bei dir. Wir mögen uns nicht wiedersehen, Allart, aber du wirst in den kommenden Tagen oft in meinen Gebeten sein. Sende eines Tages deine Söhne zu mir, wenn du es wünschst. Geh jetzt.« Er setzte sich, ließ seine Kapuze über das Gesicht gleiten, und Allart wußte, daß er aus den Gedanken des alten Mannes ebenso deutlich wie aus seiner Gegenwart entlassen worden war.
Er machte von der Erlaubnis, die Kleidung zu wechseln, keinen Gebrauch. Ich bin ein Mönch. Wenn mein Vater das nicht sehen will, ist das sein Problem und nicht meins. Ein Teil seiner Auflehnung rührte jedoch von der Tatsache her, daß er, wenn er vorausschaute, sich nicht mehr im Umhang eines Mönchs sah, und auch nicht hier in Nevarsin. Würde er nie wieder zur Schneestadt zurückkehren?
Während er zum Gästezimmer ging, versuchte er, um ruhig zu werden, seine Atmung zu kontrollieren. Was sein Vater ihm auch immer zu sagen hatte, durch einen schon zu Beginn ihrer Begegnung stattfindenden Streit mit dem alten Mann würde sich nichts bessern. Er öffnete die Tür und trat in den Raum mit dem steinernen Boden ein.
Neben dem Feuer saß in einem geschnitzten Stuhl ein alter Mann, aufrecht und verbissen, die Finger um die Stuhllehne geklammert. Sein Gesicht trug die arroganten Züge der Tiefland-Hasturs.
Als er hörte, wie Allarts Umhang sachte über den Boden strich, sagte er gereizt: »Noch eins von diesen Gespenstern im Talar? Schickt mir meinen Sohn!«
»Euer Sohn ist hier, um Euch zu dienen, Vai Dom.«
Der alte Mann starrte ihn an. »Götter im Himmel, bist du das, Allart? Wie kannst du es wagen, mir in diesem Aufzug entgegenzutreten!«
»Ich trete auf, wie ich bin, Sir. Seid Ihr gastfreundlich aufgenommen worden? Laßt mich Speisen oder Wein bringen, wenn Ihr es wünscht.«
»Damit bin ich bereits versorgt worden«, sagte der alte Mann mit einer Kopfbewegung zu dem Tablett und der Karaffe auf dem Tisch. »Ich brauche nichts als ein Gespräch mit dir, denn das war der Zweck der scheußlichen Reise, die ich unternommen habe.«
»Und ich wiederhole, ich bin hier und zu Euren Diensten, Sir. Hattet Ihr eine beschwerliche Reise? Was hat Euch veranlaßt, eine solche Reise im Winter zu machen, Sir?«
»Du!« knurrte der alte Mann. »Wann wirst du bereit sein, dorthin zurückzukommen, wo du hingehörst, um deine Pflicht gegenüber Clan und Familie zu erfüllen?«
Allart senkte den Blick. Er ballte die Fäuste, bis seine Fingernägel tief in die Handflächen schnitten und sie zum Bluten brachten. Was er, einige Minuten von hier entfernt, in diesem Zimmer sah, entsetzte ihn. In mindestens einer der Zukunftsentwicklungen, die sich von jedem seiner Worte ableiten ließ, lag Stephen Hastur, Lord Elhalyn, der jüngere Bruder des auf dem Thron von Thendara sitzenden Regis II., mit gebrochenem Genick auf dem steinernen Fußboden. Allart wußte, daß der ihn überflutende Zorn, die Wut, die er seinem Vater gegenüber empfunden hatte, solange er denken konnte, nur zu leicht in einer solch mörderischen Attacke enden konnte. Sein Vater hatte wieder zu sprechen begonnen, aber Allart hörte ihn in seinem Kampf, Geist und Körper zur Gelassenheit zu zwingen, nicht.
Ich will nicht über meinen Vater herfallen und ihn mit meinen Händen töten! Ich tue es nicht, Ich-tue-es-nicht! Und ich werde es nicht! Erst als er ruhig und ohne Ärger sprechen konnte, sagte er: »Es tut mir leid, Sir, Euch zu enttäuschen. Ich habe gedacht, ihr wüßtet, daß ich mein Leben als Mönch und Heilkundiger in diesen Mauern verbringen will. In diesem Sommer erhielt ich die Erlaubnis, meine letzten Gelübde abzulegen, meinem Namen und meinem Erbe zu entsagen und den Rest meines Lebens hier zu wohnen.«
»Ich weiß, daß du dies einmal gesagt hast, in der Krankheit deiner Jugend«, erwiderte Dom Stephen Hastur, »aber ich habe gedacht, es würde vorübergehen, wenn deine Gesundheit an Geist und Körper wiederhergestellt ist. Wie steht es um dich, Allart? Du siehst gesund und kräftig aus. Es scheint, daß diese Cristofero-Irren dich nicht hungern lassen und mit Entsagungen zum Wahnsinn getrieben haben – noch nicht.«
Allart sagte liebenswürdig: »Das haben sie in der Tat nicht, Sir. Mein Körper ist, wie Ihr sehen könnt, stark und gesund, und mein Geist hat Frieden gefunden.«
»Stimmt das, Sohn? Dann werde ich die Jahre, die du hier verbracht hast, nicht bedauern. Und ganz gleich, mit welchen Methoden sie dieses Wunder vollbracht haben: Ich werde ihnen immer dankbar sein.«
»Dann setzt Eurer Dankbarkeit die Krone auf, Vai Dom, indem Ihr mir die Erlaubnis gebt, hier, wo ich glücklich und in Frieden lebe, den Rest meines Lebens zu bleiben.«
»Unmöglich! Wahnsinn!«
»Darf ich fragen warum, Sir?«
»Ich hatte vergessen, daß du es nicht wußtest«, gab Lord Elhalyn zurück. »Dein Bruder Lauren ist vor drei Jahren gestorben. Er hatte dein Laran, nur in noch schlimmerer Form, denn er schaffte es nicht, zwischen Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden. Als es in voller Stärke über ihn kam, zog er sich in sich selbst zurück und hat nie mehr ein Wort gesprochen oder auf irgend etwas von außen reagiert. Und so ist er gestorben.«
Allart fühlte sich bekümmert. Lauren war für ihn das reinste Kind und beinahe ein Fremder gewesen, als er sein Zuhause verlassen hatte. Der Gedanke an die Leiden des Jungen betrübte ihn. Wie knapp er doch selbst diesem Los entronnen war! »Vater, es tut mir leid. Wie schade, daß Ihr ihn nicht hierherschicken konntet. Man wäre vielleicht in der Lage gewesen, auch zu ihm vorzudringen.«
»Einer war genug«, sagte Dom Stephen. »Wir brauchen keine Schwächlinge als Söhne. Lieber jung sterben, als eine solche Schwäche in unser Blut gelangen zu lassen. Seine Hoheit, mein Bruder Regis, hat nur einen einzigen Erben; sein ältester Sohn starb in der Schlacht gegen die Eindringlinge bei Serrais, und sein einzig verbliebener Sohn, Felix, der seinen Thron erben wird, ist von schwächlicher Gesundheit. Ich bin an nächster Stelle und dann folgt dein Bruder Damon-Rafael. Du bist vier Plätze vom Thron entfernt, und der König ist im achtzigsten Lebensjahr. Du hast keinen Sohn, Allart.«
Mit plötzlich aufwallender Heftigkeit sagte Allart: »Würdest du wollen, daß ich einen Fluch, wie ich ihn trage, an einen anderen weitergebe? Du hast mir berichtet, daß er Lauren das Leben gekostet hat!«
»Und doch brauchen wir diese Vorausschau«, erwiderte Stephen Hastur, »und du hast sie bewältigt. Die Leronis von Hali hat einen Plan, um sie ohne die Instabilität, die deine Gesundheit bedroht und Lauren getötet hat, in unserer Linie zu verankern. Ich habe versucht, mit dir darüber zu sprechen, bevor du uns verlassen hast, aber du warst nicht in der Verfassung, an die Bedürfnisse des Clans zu denken. Wir haben mit dem Aillard-Clan – wegen einer Tochter aus ihrer Linie – ein Abkommen geschlossen. Ihre Gene sind in der Form modifiziert worden, daß sie dominieren werden. Auf diese Weise werden deine Kinder den Blick und die Sicherheit, ihn ohne Gefahr zu nutzen, haben. Du wirst dieses Mädchen heiraten. Zudem hat sie zwei Nedestro-Schwestern, und die Leroni vom Turm haben eine Technik entwickelt, die dir die Sicherheit geben, daß du von ihnen allen nur Söhne bekommen wirst. Wenn das Experiment gelingt, werden deine Söhne den Vorausblick und auch die Kontrolle darüber besitzen.« Er sah den Widerwillen auf Allarts Gesicht und sagte aufbrausend: »Bist du denn nichts anderes als ein empfindlicher Knabe?«
»Ich bin ein Cristofero. Die erste Maxime des Credos der Reinheit ist, keine Frau gegen ihren Willen zu nehmen.«
»Das ist gut und schön für einen Mönch, aber nicht für einen Mann! Keine von ihnen wird abgeneigt sein, wenn du sie nimmst, das versichere ich dir. Wenn du willst, werden die beiden, die nicht deine Ehefrau sind, nicht einmal deinen Namen erfahren. Wir besitzen jetzt Drogen, die zur Folge haben, daß sie nur die Erinnerung an ein angenehmes Intermezzo behalten. Und jede Frau hat den Wunsch, ein Kind der Linie von Hastur und Cassilda zur Welt zu bringen.«
Allart zog eine Grimasse der Abscheu. »Ich will keine Frau, die mir unter Drogen bewußtlos ausgeliefert wird. Gegen ihren Willen heißt nicht nur, daß sie sich aus Angst vor Vergewaltigung wehrt; es bedeutet auch, daß die Fähigkeit einer Frau, ihre Zustimmung frei zu geben oder zu verweigern, durch Drogen zerstört worden ist!«
»Ich wollte es nicht erwähnen«, sagte der alte Mann zornig, »aber du hast deutlich geäußert, daß du nicht bereit bist, die Pflicht, die deiner Kaste und dem Clan zukommt, aus freiem Willen zu erfüllen! In deinem Alter hatte Damon-Rafael ein Dutzend Nedestro-Söhne von ebenso vielen willigen Frauen! Aber du, ein Sandalenträger ...«
Allart senkte den Kopf und bekämpfte den Reflex des Zorns, der ihn antrieb, den dünnen, alten Hals zwischen seine Hände zu nehmen und das Leben aus ihm herauszuquetschen. »Damon-Rafael hat seine Meinung über meine Männlichkeit häufig genug geäußert, Vater. Muß ich das auch von Euch hören?«
»Was hast du denn getan, um mir eine bessere Meinung von dir zu vermitteln? Wo sind deine Söhne?«
»Ich stimme nicht mit Euch überein, daß Männlichkeit allein an den Söhnen gemessen werden muß, Sir; aber über diesen Punkt will ich jetzt nicht mit Euch streiten. Ich will den Fluch meines Blutes nicht weitergeben. Ich weiß einiges über das Laran. Ich spüre, daß Ihr falsch handelt, wenn Ihr versucht, größere Kraft in diesen Gaben heranzuzüchten. An mir – und noch mehr an Lauren – könnt Ihr sehen, daß der menschliche Geist nie dazu vorgesehen war, ein solches Gewicht zu tragen. Wißt Ihr, was ich damit meine, wenn ich von rezessiven und tödlichen Genen spreche?«
»Bist du dabei, mich in meinem eigenen Fach zu unterrichten, Jüngling?«
»Nein, aber bei allem Respekt, Vater, ich will daran keinen Anteil haben. Wenn ich je Söhne haben sollte ...«
»Da gibt es kein wenn. Du mußt Söhne haben.«
Die Stimme des alten Mannes klang entschlossen, und Allart seufzte auf. Sein Vater hörte einfach nicht zu. Oh, natürlich fingen seine Ohren die Worte auf. Aber er hörte nicht zu; sie gingen durch ihn hindurch, weil das, was Allart sagte, nicht mit dem festgelegten Glauben von Lord Elhalyn übereinstimmte – daß es die allererste Pflicht seines Sohnes sei, Söhne heranzuzüchten, die die legendären Gaben von Hastur und Cassilda, das Laran, weitertragen würden.
Laran war Zauberei; Psi-Kraft, die ihren Familien eine bevorzugte Stellung bei der Handhabung der Matrixsteine, die die verborgenen Kräfte des Geists verstärkten, gab; was ihnen die Möglichkeit verschaffte, die Zukunft zu kennen, den Geist anderer Menschen zu unterjochen, unbeseelte Gegenstände zu manipulieren und den Geist von Säugetier und Vogel zu beherrschen. Laran war jenseits aller Vorstellungskraft der Schlüssel zur Macht, und seit Generationen hatte man Menschen dafür herangezüchtet.
»Vater, hört mich an, ich bitte Euch.« Allart war jetzt weder zornig noch streitsüchtig, sondern ernsthaft verzweifelt. »Ich sage Euch, es kann sich nichts als Böses aus diesem Zuchtprogramm entwickeln, das aus Frauen schiere Instrumente macht, um Monster ohne Menschlichkeit zu züchten. Ich habe ein Gewissen; ich kann es nicht tun.«
Sein Vater schnaubte: »Liebst du etwa Männer, daß du unserer Kaste keine Söhne geben willst?«
»Das tue ich nicht«, sagte Allart, »aber ich habe noch keine Frau gehabt. Wenn ich mit dieser bösen Gabe des Laran verflucht bin ...«
»Schweig! Du lästerst unsere Vorväter und den Herrn des Lichts, der uns das Laran gab!«
Jetzt wurde Allart wieder zornig: »Ihr seid es, der lästert, Sir, wenn Ihr glaubt, die Götter könnten auf diese Weise menschlichen Zielen unterworfen werden!«
»Du unverschämter ...« Sein Vater sprang auf, hielt aber mit enormer Anstrengung seine Wut unter Kontrolle. »Mein Sohn, du bist jung und von diesen Mönchsansichten irregeleitet. Komm zurück zu dem Erbe, für das du geboren bist, und du wirst eines Besseren belehrt. Was ich von dir verlange, ist rechtens und nützlich, wenn die Hasturs gedeihen sollen. Nein ...« Mit einer Armbewegung gebot er, als Allart etwas sagen wollte, Schweigen. »... von diesen Dingen weißt du noch immer nichts, deine Ausbildung muß vervollständigt werden. Eine männliche Jungfrau« – obwohl er sich bemühte, konnte Lord Elhalyn die Verachtung nicht aus seiner Stimme verbannen – »ist nicht befähigt, darüber zu urteilen.«
»Glaubt mir«, sagte Allart, »der Charme der Frauen ist mir nicht gleichgültig. Aber ich will den Fluch meines Blutes nicht weitergeben. Und ich werde es nicht.«
»Das steht nicht zur Diskussion«, sagte Dom Stephen mit einem drohenden Unterton in der Stimme. »Du wirst mir den Gehorsam nicht verweigern, Allart. Ich würde es zwar als Schande empfinden, wenn mein Sohn, mit Drogen betäubt, wie eine widerstrebende Braut, Söhne zeugen müßte, aber es gibt Dinge, die dich dazu bringen, wenn du uns keine Wahl läßt.«
Heiliger Lastenträger, hilf mir! Wie soll ich davon ablassen, ihn zu töten, wenn er sich weiterhin so aufführt?
Ruhiger fuhr Dom Stephen fort: »Es ist jetzt nicht die Zeit für einen Streit, mein Sohn. Du mußt uns Gelegenheit geben, dich zu überzeugen, daß deine Bedenken unbegründet sind. Ich bitte dich: Geh jetzt und kleide dich, wie es einem Mann und Hastur geziemt, und bereite dich darauf vor, mit mir zu reisen. Du wirst gebraucht, mein lieber Sohn, und ... weißt du nicht, wie sehr ich dich vermißt habe?«
Die aufrichtige Liebe in seiner Stimme ließ Allarts Herz schmerzen. Tausend Kindheitserinnerungen tauchten in ihm auf und vermischten mit ihrer Zartheit Vergangenheit und Zukunft. Er war für den Stolz und das Erbe seines Vaters eine Schachfigur, sicher, aber ungeachtet dessen liebte Lord Elhalyn alle seine Söhne innig und war aufrichtig um seine geistige und körperliche Gesundheit besorgt gewesen – sonst hätte er ihn nicht ausgerechnet zu einem Cristofero-Kloster geschickt. Allart dachte: Ich kann ihn nicht einmal hassen. Es würde viel leichter sein, wenn ich es könnte!
»Ich komme mit, Vater. Glaube mir, ich habe nicht den Wunsch, dich zu erzürnen.«
»Und ich will dir nicht drohen, Junge.« Dom Stephen hielt die Arme ausgebreitet. »Ist dir bewußt, daß wir uns noch nicht wie Verwandte begrüßt haben? Fordern diese Cristofero dich auf, die Verwandtschaftsbande aufzugeben, Sohn?«
Allart umarmte seinen Vater; bestürzt spürte er die knochige Zerbrechlichkeit im Körper des alten Mannes, und ihm wurde klar, daß sein zorniges Auftreten die fortschreitende Schwäche und das Alter nur kaschieren sollten. »Alle Götter mögen verhüten, daß ich das tue, solange du lebst, Vater. Laß mich gehen und mich auf die Reise vorbereiten.«
»Geh nur, mein Sohn. Denn es mißfällt mir mehr, als ich es sagen kann, dich in einer Tracht zu sehen, die für einen Mann unangebracht ist.«
Allart gab darauf keine Antwort, sondern verbeugte sich und ging davon, um die Kleider zu wechseln. Er würde mit seinem Vater gehen, jawohl, und als pflichtgetreuer Sohn auftreten. Mit gewissen Einschränkungen würde er das. Jetzt wußte er, was der Pater Vorsteher gemeint hatte. Veränderungen waren in seiner Welt notwendig, und hinter Klostermauern konnte er sie nicht bewirken.
Er konnte fortreiten und einen großen, am Himmel schwebenden Falken sehen, das Gesicht einer Frau ... einer Frau. Er wußte sowenig von Frauen. Und jetzt wollten sie ihm nicht nur eine, sondern gleich drei zuführen, mit Drogen betäubt und willfährig ... dagegen würde er bis zum Ende seiner Willenskraft und seines Gewissens kämpfen; er würde kein Teil des monströsen Zuchtprogramms der Reiche werden. Niemals. Das Mönchsgewand abgelegt, kniete er zum letzten Mal kurz auf den kalten Steinen seiner Zelle.
»Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft, daß ich meinen Anteil am Weltgewicht tragen kann ...« murmelte er. Dann stand er auf und legte die gewöhnliche Kleidung eines Edlen der Reiche an. Zum ersten Mal seit sechs Jahren trug er nun wieder ein Schwert.
»Gebenedeiter Sankt-Valentin-im-Schnee, gewähre, daß ich es gerecht verwende ...« Allart seufzte und sah sich zum letzten Mal in seiner Zelle um. Bekümmert und von innerer Gewißheit erfüllt wußte er, daß er sie nie wiedersehen würde.