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Hier ist die Verräterin!«

Aliciane zitterte vor dem Zorn in Lord Aldarans Stimme, als er wütend in ihr Zimmer trat und mit beiden Händen eine Frau vor sich her stieß. Hinter ihm erschien eine Leronis, die Zauberin seines Haushalts, die die Matrix – einen blauen Sternenstein – trug, die die Kräfte ihres Laran verstärkte. Sie kam auf Zehenspitzen; eine zerbrechliche, hellhaarige Frau, deren blasse Gesichtszüge von dem durch sie entfachten Aufruhr verzerrt waren.

»Mayra«, sagte Aliciane bestürzt, »ich hielt dich für meine Freundin und die Lady Deonaras. Was ist dir widerfahren, daß du statt dessen meine Feindin und die meines Kindes bist?«

Mayra – sie war eine von Deonaras Ankleidefrauen, eine stämmige Frau mittleren Alters – stand furchtsam und dennoch trotzig zwischen Lord Aldarans kräftigen Händen. »Von dem, was diese Zauberhexe über mich sagt, weiß ich nichts. Ist sie vielleicht auf meine Stellung eifersüchtig, da sie selbst nichts zu tun hat, als sich in den Geist der Privilegierten einzuschleichen?«

»Es wird dir nicht von Nutzen sein, mich mit Schimpfnamen zu belegen«, sagte die Leronis Margali. »Ich habe all diesen Frauen nur eine Frage gestellt, und zwar mit Hilfe des Wahrheitszaubers, damit ich es in meinem Kopf hören konnte, falls sie logen: ›Gilt deine Treue Mikhail, Lord Aldaran, oder der Vai Domna, seiner Lady Deonara?‹ Erwiderten sie Nein, oder sagten sie mit Zweifel oder einer Verneinung ihrer Gedanken Ja, fragte ich sie – und das wieder unter dem Wahrheitszauber –, ob ihre Treue dem Ehemann, dem Vater, oder dem Hausherrn gelte. Im Falle dieser Frau bekam ich keine ehrliche Antwort, sondern nur die Erkenntnis, daß sie alles verschleierte. Und daher teilte ich Lord Aldaran mit, daß – vorausgesetzt, es gibt eine Verräterin unter den Frauen – nur sie diese sein könne.«

Mikhail ließ die Frau los und drehte sie, ohne unsanft dabei zu werden herum, daß sie ihm ins Gesicht blickte. Er sagte: »Es ist wahr, daß du lange in meinen Diensten gestanden hast, Mayra. Deonara behandelte dich stets mit der Freundlichkeit einer Pflegeschwester. Bin ich es, dem du Böses willst, oder meiner Lady?«

»Meine Lady ist immer freundlich zu mir gewesen, und ich bin erbost, sie für eine andere beiseite geschoben zu sehen«, sagte Mayra mit zitternder Stimme. Die Leronis hinter ihr sagte in leidenschaftslosem Tonfall: »Nein, Lord Aldaran, auch jetzt spricht sie nicht die Wahrheit. Sie hegt weder Liebe für Euch noch für Eure Lady.«

»Sie lügt!« Mayras Stimme wurde fast zu einem Kreischen. »Sie lügt! Ich wünsche euch nichts Übles, Fürst, außer dem, was Ihr selbst über Euch brachtet, indem ihr die Hündin von Rockraven in euer Bett genommen habt. Diese Viper ist es, die eure Männlichkeit verhext hat!«

»Ruhe!« Lord Aldaran bebte. Es schien, als wolle er die Frau schlagen, aber sein Wort allein genügte. Jeder in Reichweite wurde von Stummheit ergriffen, und Aliciane zitterte. Nur ein einziges Mal hatte sie Mikhail die – wie es in der Sprache des Laran hieß – Befehlsstimme gebrauchen hören. Es gab nicht viele Menschen, die genügend Kontrolle über ihr Laran besaßen, um sie anzuwenden; sie war keine angeborene Gabe, sondern erforderte sowohl Talent als auch ein ausgeklügeltes Training. Und wenn Mikhail, Lord Aldaran, mit dieser Stimme Ruhe anordnete, war niemand in Hörweite dazu in der Lage, ein Wort herauszubringen.

Die Stille im Zimmer war so extrem, daß Aliciane die leisesten Geräusche hören konnte: Kleine Insekten, die im Holzwerk der Wände knisterten, das furchtsame Atmen der Frauen, das weit entfernte Rollen des Donners. Es scheint, dachte sie, daß wir den ganzen Sommer über Donner hatten. Mehr als je zuvor ... An was für einen Unsinn ich doch denke, wo vor mir eine Frau steht, die meinen Tod hätte bedeuten können, hätte man sie an meinem Kindbett dienen lassen ...

Mikhail blickte die Frau, die zitternd dastand und sich an der Lehne eines Stuhls aufrecht hielt, an. Dann sagte er zu der Leronis: »Hilf Lady Aliciane. Hilf ihr, sich zu setzen, oder sich aufs Bett niederzulegen, wenn sie sich dadurch besser fühlt ...« Aliciane spürte, wie Margalis kräftige Hände sie stützten, ihr in den Stuhl halfen und schüttelte sich ärgerlich, voller Haß auf die physische Schwäche, die sie nicht zu kontrollieren vermochte.

Dieses Kind zehrt an meiner Kraft, wie Donal es nie getan hat ... Warum bin ich so geschwächt? Ist es der böse Wille dieser Frau, ihre Zaubersprüche ...? Margali legte ihre Hände auf Alicianes Stirn, und sie spürte die besänftigende Ruhe, die sie ausstrahlten. Sie versuchte, sich unter der Berührung zu entspannen, gleichmäßig zu atmen und die heftige Unruhe, die sie in den Bewegungen des Kindes in ihrem Leib spürte, zu besänftigen. Arme Kleine ... auch sie ist geängstigt, und kein Wunder ...

Lord Aldarans Stimme sagte: »Mayra, sage mir, warum du mir Böses willst und versuchst, Lady Aliciane oder ihrem Kind Schaden zu bringen!«

»Ich soll Euch das sagen?«

»Du weißt, daß du das tun wirst«, sagte Mikhail von Aldaran. »Du wirst uns sogar mehr sagen, als du selbst je geglaubt hast – ob freiwillig und ohne Schmerzen zu erleiden – oder unter anderen Bedingungen. Ich liebe es nicht, wenn man Frauen foltert, Mayra, aber ich bin ebensowenig bereit, in meinem Zimmer eine Skorpionameise zu beherbergen! Erspare uns diesen Konflikt.« Mayra sah ihn stumm und trotzig an. Mikhail zuckte kaum merklich die Achseln. Eine Starre, die Aliciane kannte – und der sich zu widersetzen sie nicht gewagt hätte erfaßte sein Gesicht. Er fuhr fort: »Du entscheidest es selbst, Mayra. Margali, bring deinen Sternenstein. Nein, es ist besser, wenn du Kirizani holen läßt.«

Aliciane zitterte, obwohl Mikhail sich auf seine eigene Art gnädig erwies. Kiriseth war eine aus einem halben Dutzend Drogen und den Harzen der Kirisethblume, deren Pollen den Wahnsinn brachten, wenn der Geisterwind durch die Hügel blies, destillierte Mixtur. Kirizani war jener Bestandteil des Harzes, der die Schranken gegen einen telepathischen Kontakt niederriß und die Gedanken für jeden, der in sie eindrang, bloßlegte. Die Droge war weniger schlimm als die Folter, und doch ... Sie schrak zurück, als sie die wütende Entschlossenheit auf Mikhails Gesicht und den lächelnden Trotz der Frau Mayra sah. Als das Kirizani gebracht wurde – eine helle Flüssigkeit in einer durchsichtigen Ampulle –, standen alle schweigend da.

Mikhail entkorkte sie und sagte ruhig: »Wirst du es ohne Widerstand nehmen, Mayra, oder sollen die Frauen dich festhalten und es in deine Kehle gießen, so wie man einem Pferd eine Arznei einflößt?«

Das Blut schoß in Mayras Wangen; sie spuckte ihn an. »Ihr glaubt, Ihr könntet mich mit Hexerei und Drogen zum Sprechen bringen, Lord Mikhail? Ha – ich verachte Euch! Ihr bedürft meines üblen Willens nicht –, in Eurem Haus und im Leib Eurer verfluchten Mätresse lauert schon genug! Der Tag wird kommen, an dem ihr darum betet, kinderlos gestorben zu sein – aber trotzdem wird es keine weiteren mehr geben! Ihr werdet keine andere mehr mit ins Bett nehmen, sondern genauso weiterleben, wie seit dem Tage, an dem Ihr die Hündin von Rockraven mit ihrer Hexentochter schwanger machtet! Meine Arbeit ist getan, Vai Dom!« Sie schleuderte ihm den respektvollen Ausdruck mit höhnischem Spott entgegen. »Mehr Zeit brauche ich nicht! Von diesem Tag an werdet Ihr weder eine Tochter noch einen Sohn zeugen können. Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum! Und Ihr werdet weinen und beten ...«

»Bringt diese Todesfee zum Schweigen!« sagte Mikhail. Margali löste sich von der kraftlosen Aliciane und hob ihre Juwelen-Matrix, aber die Frau spuckte ein zweites Mal aus, lachte hysterisch, keuchte und stürzte zu Boden. Während die anderen fassungslos schwiegen, ging Margali auf sie zu und legte mechanisch eine Hand auf ihre Brust.

»Lord Aldaran, sie ist tot! Man muß sie dazu konditioniert haben, bei einem Verhör zu sterben.«

Bestürzt und mit unbeantworteten Fragen auf den Lippen starrte Aldaran auf den leblosen Körper der Frau. Er sagte: »Jetzt werden wir weder erfahren, was sie getan hat, noch wer der Feind ist, der sie hierhergeschickt hat. Ich nehme es auf meinen Eid, daß Deonara nichts von ihr wußte.«

Als enthielten seine Worte eine Frage, legte Margali ihre Hand auf das blaue Juwel und sagte bedachtsam: »Bei meinem Leben, Lord Aldaran, Lady Deonara hegt keine bösen Wünsche gegen Lady Alicianes Kind. Oft genug hat sie mir gesagt, wie sehr sie sich für Euch und Aliciane freut. Und ich weiß, wann ich die Wahrheit höre.«

Mikhail nickte, aber Aliciane bemerkte, daß die Linien um seinen Mund ausgeprägter wurden. Wenn Deonara, eifersüchtig auf Lord Aldarans Hingabe, Aliciane hätte schaden wollen, wäre es zumindest verständlich gewesen. Aber wer, so fragte sie sich in ihrer geringen Kenntnis über die Fehden und Machtkämpfe von Aldaran, konnte einem Mann, der so edel wie Mikhail war, Böses wollen? Wer konnte eine Spionin in die Reihen der Kammerfrauen seiner Frau einschleusen, um dem Kind einer Barragana Schaden zuzufügen oder Laran-verstärkte Flüche gegen seine Männlichkeit zu schleudern?

»Bringt sie fort«, sagte Aldaran schließlich. Er hatte seine Stimme noch nicht völlig unter Kontrolle. »Hängt ihre Leiche an die Zinnen der Burg, damit die Kyorebni sie zerfetzen können. Sie hat die Bestattungsfeier einer treuen Dienerin nicht verdient.« Er wartete regungslos das Erscheinen der hochgewachsenen Wächter ab, die kamen, um Mayras toten Körper wegzutragen, auszukleiden und aufzuhängen, damit die großen Raubvögel ihn auseinanderrissen. Aliciane hörte in der Ferne das Krachen des immer näher kommenden Donners. Aldaran trat zu ihr, seine Stimme war weich vor Zärtlichkeit.

»Hab keine Furcht mehr, mein Schatz; sie ist dahingegangen, und mit ihr ihr böser Wille. Wir werden weiterleben und ihre Flüche verlachen, mein Liebling.« Er sank in einen neben ihr stehenden Sessel und nahm mit zärtlichem Griff ihre Hand. Durch die Berührung spürte Aliciane, daß er besorgt und erschreckt war. Aber sie war nicht stark genug, ihn wieder zu beruhigen. Sie fühlte sich wie vor einer erneuten Ohnmacht. In ihren Ohren hallten Mayras Flüche wie die zurückgeworfenen Echos in den Canyons rund um Rockraven, in die sie als Kind, aus Freude daran, die eigene Stimme tausendfach vermehrt aus allen Windrichtungen zurückkommen zu hören, hineingeschrien hatte.

Ihr werdet weder Sohn noch Tochter zeugen ... Eure Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum ... Der Tag wird kommen, an dem Ihr darum betet, kinderlos gestorben zu sein ... Die widerhallenden Laute schwollen an und überwältigten sie. Aliciane lag tief in ihrem Sessel, nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren.

»Aliciane, Aliciane ...« Sie spürte seine starken Arme, wurde aufgehoben und zu Bett getragen. Er legte sie auf die Kissen nieder, setzte sich neben sie und streichelte sanft ihr Gesicht.

»Du darfst dich nicht vor einem Schatten erschrecken, Aliciane.«

Zitternd sagte sie das erste, was ihr in den Sinn kam: »Sie hat deine Männlichkeit mit einem Fluch belegt, mein Fürst.«

»Ich fühle mich nicht sehr gefährdet«, gab Mikhail mit einem Lächeln zurück.

»Aber ... ich habe es selbst bemerkt und mich gewundert ... du hast, seitdem ich so schwer bin, keine andere in dein Bett genommen, wie du es sonst zu tun pflegtest.«

Ein schwacher Schatten fuhr über sein Gesicht, und in diesem Moment waren sich ihre Gedanken so nahe, daß Aliciane ihre Worte bedauerte. Sie hätte nicht an seiner eigenen Angst rühren dürfen. Er erwiderte mit fester Stimme, Furcht mit Herzlichkeit verdrängend: »Was das angeht, Aliciane, so bin ich nicht mehr ein so junger Mann, daß ich nicht einige Monde enthaltsam leben könnte. Deonara bedauert es nicht, von mir frei zu sein, glaube ich; meine Umarmungen haben ihr mehr eine Pflicht bedeutet – und sterbende Kinder. Und heutzutage scheinen mir, du natürlich ausgenommen, die Frauen nicht mehr so schön zu sein, wie in den Zeiten meiner Jugend. Es war für mich keine Anstrengung, nicht um das zu bitten, was dir zu geben keine Freude gewesen wäre – aber wenn unser Kind geboren ist und du wieder wohlauf bist, wirst du sehen, ob die Worte dieser Närrin eine Auswirkung auf meine Männlichkeit hatten. Wenn du mir keinen Sohn mehr schenken wirst, Aliciane, werden wir zumindest noch viele freudvolle Stunden zusammen verbringen.«

Immer noch zitternd erwiderte sie: »Möge der Herr des Lichts es so einrichten.« Er beugte sich vor und küßte sie sanft, aber die Berührung seiner Lippen brachte sie nicht nur nahe zusammen, sondern trieb ihr auch Angst und plötzlichen Schmerz in die Glieder.

Abrupt richtete er sich auf und rief nach den Frauen. »Helft meiner Lady.«

Aliciane klammerte sich an seine Hände. »Mikhail, ich habe Angst«, wisperte sie und fing seinen Gedanken auf. Es ist tatsächlich kein gutes Omen, wenn sie, die Flüche dieser Hexe noch im Ohr, in die Wehen kommen sollte ... Ebenso spürte sie die starke Beherrschung, mit der er sich zügelte und seine Gedanken sofort wieder unter Kontrolle brachte. Er wollte vermeiden, daß ihre Furcht größer wurde. Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt in etwas hineinsteigern. Mit sanftem Befehlston sagte er: »Du mußt versuchen, nur an unser Kind zu denken, Aliciane, und ihm Stärke zu verleihen. Denk nur an unser Kind – und an meine Liebe.«

Es ging auf Sonnenuntergang zu. Wolken ballten sich auf den Höhen jenseits von Burg Aldaran, mächtige Sturmwolken, die sich höher und höher türmten. Aber dort, wo Donal in die Höhe stieg, war der Himmel blau und unbewölkt. Sein schlanker Körper lag auf einem Gestell aus leichten Hölzern ausgestreckt, zwischen weiten Schwingen aus dünnstem Leder, das auf einen schmalen Rahmen gezogen war. Von Luftströmungen getragen stieg er empor, die Hände nach beiden Seiten ausgestreckt, um die starken Böen von links oder rechts auszubalancieren. Es war die Luft, die ihn nach oben trug, und das kleine Matrixjuwel, das am Kreuzstück befestigt war. Er hatte den Schwebegleiter selbst gebaut, mit nur wenig Hilfe von den Stallknechten. Viele Jungen des Haushalts bauten sich ein solches Spielzeug, sobald sie im Gebrauch der Sternensteine so geübt waren, daß sie ihre Schwebekünste ohne allzu große Gefahr praktizieren konnten. Aber die meisten der Burschen nahmen jetzt am Unterricht teil. Donal hatte sich zu den Höhen der Burg davongemacht und war allein emporgestiegen, obwohl er wußte, daß man ihm zur Strafe den Gebrauch des Gleiters vielleicht für Tage verbieten würde. Er konnte die Spannungen und die Angst überall in der Burg spüren.

Eine Verräterin war entdeckt worden, die gestorben war, bevor man Hand an sie hatte legen können. Ein Todeszauber hatte sie, nachdem sie Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt hatte, niedergestreckt.

Wie ein Buschfeuer hatte sich der Klatsch auf Burg Aldaran ausgebreitet, entfacht von den wenigen Frauen, die tatsächlich in Alicianes Zimmer gewesen waren und alles verfolgt hatten. Sie hatten zuviel gesehen, um stumm zu bleiben, aber zu wenig, um in der Lage zu sein, einen wahren Bericht abzugeben.

Flüche waren gegen die kleine Barragana geschleudert worden, und Aliciane von Rockraven war in die Wehen gekommen. Die Verräterin hatte Lord Aldarans Männlichkeit mit einem Fluch belegt – und es traf zu, daß er, der vorher bei jedem Mondwechsel eine neue Frau zu sich holte, keine andere mehr in sein Bett nahm. Eine neue, heimliche Frage in den Klatschgesprächen ließ Donal frösteln. Hatte die Lady von Rockraven seine Männlichkeit so verzaubert, daß er keine andere mehr wollte, damit sie ihren Platz in seinem Arm und seinem Herzen behielt?

Einer der Männer, ein ungehobelter Kämpe, hatte ein tiefes, andeutungsvolles Lachen ausgestoßen und gesagt: »Die braucht keine Zaubersprüche. Wenn Lady Aliciane mir ein Auge zuwürfe, würde ich meine Männlichkeit mit Freuden verpfänden.« Aber der Waffenmeister hatte streng erwidert: »Sei still, Radan. Solche Reden ziemen sich nicht vor jungen Burschen. Achte gefälligst darauf, wer zwischen ihnen steht. Geh an deine Arbeit. Du bist nicht hier, um schmutzige Reden zu führen!« Als der Mann ging, sagte der Waffenmeister freundlich: »Solches Gerede ist ungebührlich, aber es ist nur scherzhaft gemeint, Donal. Er ist nur betrübt, weil er selbst keine Frau hat, und würde von jeder anständigen Frau so reden. Auf keinen Fall wollte er deine Mutter herabsetzen. Im Gegenteil – auf Aldaran wird es viel Freude geben, wenn Aliciane von Rockraven unserem Herrn einen Erben schenkt. Du darfst über das gedankenlose Gerede nicht zornig sein. Wenn du jedem bellenden Hund zuhörst, hast du keine Muße mehr, um Weisheit zu erlernen. Geh zum Unterricht, Donal, und verschwende keine Zeit damit, darüber nachzugrübeln, was unwissende Männer über Menschen reden, die ihnen überlegen sind.«

Donal war gegangen, aber nicht zum Unterricht, Er hatte seinen Gleiter auf die Zinnen getragen und war in die Luftströmungen aufgestiegen, auf denen er jetzt ritt und die sorgenvollen Gedanken, ganz im Rausch des Steigens gefangen, hinter sich ließ. Er fühlte sich wie ein Vogel, der nach Norden schoß und sich dann wieder nach Westen wendete, wo die große, blutrote Sonne dicht über den Gipfeln hing.

So muß sich ein schwebender Falke fühlen ... Unter seinen gefühlvollen Fingerspitzen neigte sich der Holz-und-Leder-Flügel leicht abwärts. Er sank in das Zentrum des Luftstroms und ließ sich von ihm abwärts tragen. Sein Gehirn versank in der Hyperbewußtheit des Juwels, sah den Himmel nicht als blaue Leere, sondern als großes Netzwerk aus Feldern und Strömen, die man zum Gleiten nutzen konnte. Er schwebte so lange abwärts, bis es ihm so vorkam, als würde er auf eine große Felsspitze zurasen und zerschmettern. In letzter Sekunde ließ er sich von einem Aufwind fortreißen, schwebte mit dem Wind ... Er trieb dahin, ohne Gedanken, aufsteigend, in Ekstase gehüllt.

Der grüne Mond Idriel stand tief am sich rötenden Himmel. Die Silbersichel Mormollars war der bleichste der Schatten, und der violette Liriel – der größte der Monde – begann gerade, langsam vom östlichen Horizont emporzuschweben. Ein leises Krachen aus den massiven Wolken, die hinter der Burg hingen, ließen Donals Befürchtungen erneut erwachen. Vielleicht würde man ihn in einer Zeit wie dieser wegen seiner Drückebergerei vor dem Unterricht nicht einmal züchtigen – aber wenn er bis nach Sonnenuntergang ausblieb, würde er bestimmt bestraft werden. Bei Sonnenuntergang kamen stets starke Winde auf, und vor etwa einem Jahr war ein Page aus dem Schloß abgestürzt, hatte seinen Gleiter zerschmettert und sich auf den Felsen den Ellbogen gebrochen. Er hatte Glück gehabt, daß er dabei nicht umgekommen war. Aufmerksam blickte Donal auf die Mauern der Burg und suchte nach einem Aufwind, der ihn in die Höhen tragen konnte. Fand er keinen, mußte er nach unten auf die Böschung zuschweben und den Gleiter, der zwar leicht, aber sehr sperrig war, den ganzen Weg hinauftragen. Durch die Wahrnehmungsfähigkeit der Matrix wurde seine eigene vervielfacht. Er spürte den leichtesten Lufthauch und erwischte schließlich einen Aufwind, der ihn – vorausgesetzt, er schwebte vorsichtig – über die Burg hinaustragen würde. Es wäre dann kein Problem mehr, auf eines der Dächer hinabzugleiten.

Von hier oben aus konnte er mit einem Frösteln den aufgedunsenen, nackten Frauenleib sehen, der an den Zinnen hing. Das Gesicht war schon von den herumfliegenden Kyorebni zerfetzt worden. Die Frau war bereits nicht mehr zu erkennen. Donal schauderte. Auf ihre Art war Mayra stets freundlich zu ihm gewesen. Hatte sie wirklich seine Mutter verflucht? Er erschauerte. Zum ersten Mal wurde er sich wirklich des Todes bewußt.

Menschen sterben. Sie sterben wirklich und werden von Raubvögeln in kleine Stücke zerhackt. Auch meine Mutter könnte bei dieser Geburt sterben ... In plötzlichem Entsetzen zuckte sein Körper zusammen, und er spürte, wie die zerbrechlichen Schwingen des Gleiters – von der Kontrolle seines Verstandes und Körpers befreit – flatterten und nach unten glitten, fielen ... Rasch meisterte er die Situation, brachte den Gleiter wieder unter Kontrolle und schwebte dahin, bis er wieder eine Strömung fand. Er konnte die schwache Spannung, die sich aufbauende Statik, jetzt deutlich in der Luft spüren.

Über ihm krachte der Donner; ein Blitzstrahl raste auf die Spitze von Burg Aldaran zu und hinterließ in Donals Nase den Geruch von Ozon und Verbranntem. Während des betäubenden Donners sah er das Flackern der Blitze in den geballten Wolken über der Burg und dachte, von plötzlicher Angst erfüllt: Ich muß nach unten, ich muß hier raus. Es ist nicht ungefährlich, in einem aufkommenden Sturm zu fliegen ... Wieder und wieder war ihm gesagt worden, sorgsam den Himmel nach Lichtblitzen in den Wolken abzusuchen, bevor er den Gleiter startete.

Ein plötzlicher, heftiger Abwind erfaßte ihn und schickte das zerbrechliche Gerät aus Holz und Leder senkrecht nach unten. Donal, jetzt wirklich verängstigt, klammerte sich fest an die Handgriffe, war aber vernünftig genug, nicht zu früh dagegen anzukämpfen. Es sah aus, als würde es ihn auf die Felsen schmettern, aber er zwang sich, steif auf den Stützbalken liegenzubleiben, während sein Verstand nach der Gegenströmung suchte. Genau im richtigen Moment spannte er den Körper, vertiefte sich in die Bewußtheit der Matrix, spürte, wie er schwebte und die Gegenströmung ihn wieder aufwärts trug.

Jetzt. Schnell und vorsichtig. Ich muß auf die Höhe der Burg hinauf, dann die erste Strömung erwischen, die nach unten zieht. Ich darf keine Zeit vergeuden ... Aber jetzt fühlte die Luft sich dick und schwer an, und Donal konnte sie nicht nach Strömungen absuchen. Mit wachsender Angst sandte er sein Bewußtsein in alle Richtungen, spürte aber nur die starken magnetischen Ladungen des zunehmenden Sturms.

Mit diesem Sturm stimmt etwas nicht! Er ist wie der von gestern. Es ist überhaupt kein richtiger Sturm, es ist etwas anderes. Mutter! O Mutter! Dem verängstigten Jungen, der sich an die Streben des Gleiters klammerte, schien es, als könne er Aliciane voller Entsetzen aufschreien hören: »O Donal, was wird aus meinem Jungen werden!« Er spürte, daß sein Körper entsetzt zusammenzuckte, fühlte, wie der Gleiter seiner Kontrolle entglitt, wie er fiel ... fiel ... Wäre er weniger leicht gewesen und hätte weniger breite Flügel gehabt, wäre er auf den Felsen zerschmettert worden, aber die Luftströme trugen ihn, auch wenn Donal sie nicht lesen konnte. Nach wenigen Augenblicken endete der Sturz, und er begann seitwärts abzudriften. Jetzt, da er das Laran – die Kraft zu schweben, die Körper und Verstand dem Matrixjuwel entnahmen – einsetzte, und sein geübtes Bewußtsein durch die magnetischen Stürme nach Strömungsspuren forschte, begann Donal, um sein Leben zu kämpfen. Er zwang die beinahe hörbare Stimme seiner Mutter mit einer solchen Kraft aus sich hinaus, daß sie vor Entsetzen und Schmerz aufschrie. Er zwang die Angst, die ihn seinen Körper bereits in Stücke gerissen auf den Felsspitzen sehen ließ, fort, tauchte ganz in das verstärkte Laran ein, ließ die Flügel aus Holz und Leder zu Erweiterungen seiner ausgestreckten Arme werden und spürte die an ihnen zerrenden, rüttelnden Strömungen, als träfen sie seine eigenen Hände und Beine.

Jetzt ... Bring ihn nach oben ... Nur so weit ... Versuche, ein paar Längen nach Westen zu gewinnen ... Er zwang sich, ganz schlaff zu werden, als ein weiterer Blitzschlag hinter ihm aus der Wolke zuckte. Keine Kontrolle ... Er nimmt gar keine Richtung ... Hat kein Bewußtsein ... Er dachte an die Regeln der freundlichen Leronis, der er seine geringen Kenntnisse verdankte: Ein geübter Geist kann jedwede Naturgewalt meistern ... Geradezu feierlich rief Donal sich dies ins Gedächtnis.

Ich brauche weder Wind noch Sturm, noch Blitz zu fürchten, der geübte Geist kann immer ... Aber da Donal erst zehn Jahre alt war, fragte er sich aufgebracht, ob Margali je während eines Gewitters einen Gleiter geflogen hatte.

Ein ohrenbetäubendes Krachen schaltete seinen Verstand einen Moment lang aus. Er spürte einen plötzlichen Regenguß auf seinem fröstelnden Körper und strengte sich an, das Zittern zu stoppen, das sich anschickte, seinem Verstand die Kontrolle über die flatternden Schwingen zu entwinden.

Jetzt. Stetig. Abwärts und abwärts, entlang der Strömung ... Auf den Erdboden zu, den Hang entlang ... Keine Zeit, einen anderen Aufwind zu nutzen. Hier unten werde ich vor den Blitzen sicher sein ...

Seine Füße berührten fast den Boden, als ein erneuter heftiger Aufwind die Schwingen erfaßte und ihn wieder nach oben trug, fort von der Sicherheit der Hänge. Schluchzend, im Kampf mit dem Apparat, bemühte Donal sich, ihn wieder nach unten zu zwingen, indem er sich über die Kante warf und senkrecht herabhängend die Streben über seinem Kopf ergriff, während die Schwingen seinen trudelnden Fall bremsten. Durch die Haut fühlte er einen Blitzschlag und sandte alle Kraft aus, ihn abzulenken und sonstwohin zu schleudern. Seine Hände klammerten sich krampfhaft an die Streben über seinem Kopf, als er den Blitz und den ohrenbetäubenden Donnerschlag hörte und mit verschwommenem Blick einen der großen, aufrecht stehenden Felsen auf dem Hang unter krachendem Aufbrüllen in Stücke splittern sah. Donals Füße berührten den Boden. Er stürzte schwer, überschlug sich mehrmals, spürte, wie die Streben des Gleiters in Stücke brachen und splitterten. Als er fiel, schoß ein Schmerz durch seine Schulter, aber er besaß noch genügend Kraft und Geistesgegenwart, den Körper schlaff werden zu lassen, wie man es ihm bei den Waffenübungen beigebracht hatte. Er mußte ohne den Widerstand der Muskeln, der die Knochen brechen lassen konnte, hinfallen. Schluchzend – mit Prellungen und Quetschungen –, aber lebend lag er wie betäubt auf dem felsigen Hang und spürte, wie die Ströme des Blitzes ziellos umherfuhren, während sich das Donnergrollen von Felsspitze zu Felsspitze fortpflanzte.

Als er wieder zu Atem gekommen war, rappelte er sich auf. Beide Flügelstreben des Gleiters waren zerbrochen, konnten aber noch repariert werden. Donal konnte von Glück reden, daß dies nicht auch mit seinen Armen geschehen war. Der Anblick des zersplitterten Felsens machte ihn benommen, sein Kopf dröhnte. Aber ihm wurde bewußt, daß er bei alldem noch das Glück hatte, am Leben zu sein. Er las das zerbrochene Spielzeug auf, ließ die zersplitterten Schwingen herabhängen und begann, sich langsam den Hang zu den Burgtoren hinaufzuschleppen.

»Sie haßt mich«, rief Aliciane entsetzt. »Sie will nicht geboren werden!«

Durch die Dunkelheit, die ihr Gehirn zu umgeben schien, fühlte sie, wie Mikhail ihre bebenden Hände ergriff und festhielt.

»Meine Liebste, das ist töricht«, sagte er leise und drückte die Frau, seine eigenen Ängste fest unter Kontrolle haltend, an sich. Auch er spürte die Fremdartigkeit der Blitze, die rund um die hohen Fenster flackerten und krachten, und Alicianes Entsetzen verstärkte seine eigene Angst. Jemand anders schien im Zimmer zu sein, außer der geängstigten Frau, außer der ruhigen Margali, die mit gesenktem Kopf dasaß, niemanden anschaute, ihr Gesicht vom Schimmer des Matrixsteins blau erleuchtet. Mikhail konnte die besänftigenden Wellen der Ruhe spüren, die Margali bei dem Versuch, sie alle damit zu umgeben, ausstrahlte. Er unternahm den Versuch, Körper und Geist dieser Ruhe hinzugeben, sich in ihr zu entspannen und begann mit den tiefen, rhythmischen Atemzügen, die man ihn gelehrt hatte. Schon bald spürte er, daß auch Aliciane ruhiger wurde.

Woher nur, woher das Entsetzen, der Kampf ...

Sie ist es, die Ungeborene ... Es ist ihre Angst, ihr Widerstreben ...

Geburt ist eine Schicksalsprüfung des Entsetzens; es muß jemanden geben, sie zu trösten, jemanden, der sie mit Liebe erwartet ... Aldaran hatte bei der Geburt all seiner Kinder assistiert; er hatte die gestaltlose Angst und Erregung des ungeformten Verstandes gespürt, die Kräfte hervorriefen, die dieser Verstand nicht begreifen konnte. Jetzt, während er in seinen Erinnerungen forschte (War eins von Clarizas Kindern so stark gewesen? Von Deonaras Babys war keines fähig gewesen, um sein Leben zu kämpfen. Arme kleine Schwächlinge ...), suchte er nach den ungezielten Gedanken des sich sträubenden Kindes, die durch die Wahrnehmung des Schmerzes und der Angst seiner Mutter hin- und hergerissen wurden. Er versuchte, besänftigende Gedanken von Liebe und Zärtlichkeit auszusenden; er formte die geistigen Worte nicht für das Kind – denn das Ungeborene besaß noch keine Kenntnis der Sprache –, sondern für sich und Aliciane, um ihrer beider Gefühle darauf zu konzentrieren, ihm das Gefühl von Wärme und Willkommenheit zu vermitteln.

Du darfst keine Angst haben, Kleine. Bald wird es vorüber sein ... Du wirst frei atmen, und wir werden dich in unseren Armen halten und lieben ... Du wirst seit langem erwartet und innig geliebt ... Er bemühte sich, Liebe und Zärtlichkeit auszustrahlen, und die furchteinflößenden Gedanken an jene Söhne und Töchter aus seinem Geist zu verbannen, die er verloren hatte. All seine Liebe hatte ihnen nicht in die Dunkelheit zu folgen vermocht, die das sich entwickelnde Laran auf ihren Geist geschleudert hatte. Er versuchte, die Erinnerungen an die schwachen und mitleiderregenden Anstrengungen von Deonaras Kindern, die nie lange genug gelebt hatten, um auch nur zu atmen, auszulöschen ... Habe ich sie genug geliebt? Hätten ihre Kinder stärker ums Leben gefachten, wenn ich Deonara mehr geliebt hätte?

»Zieht die Vorhänge zu«, sagte er einen Moment später, und eine der Kammerfrauen ging auf Zehenspitzen zum Fenster und schloß den dunkler werdenden Himmel aus. Aber der Donner grollte weiterhin, und das Aufflackern des Blitzes war selbst durch die zugezogenen Vorhänge zu sehen.

»Sieh nur, wie sie sich müht, die Kleine«, sagte die Amme. Margali stand ruhig auf, trat näher, legte behutsam die Hände um Alicianes Körper und versenkte ihr Bewußtsein in die Frau, um ihr Atmen und den Fortgang der Geburt zu steuern. Eine Frau mit Laran, die ein Kind gebar, konnte weder körperlich untersucht noch berührt werden, da die Gefahr bestand, das Ungeborene durch eine fahrlässige Berührung zu verletzen oder zu ängstigen. Das muß die Leronis tun, indem sie die Wahrnehmungsfähigkeit der Telepathie und ihre psychokinetischen Kräfte nutzte. Aliciane spürte die besänftigende Berührung. Ihr angstverzerrtes Gesicht entspannte sich, aber als Margali sich zurückzog, schrie sie vor Angst auf.

»O Donal, Donal – was wird aus meinem Jungen werden?«

Lady Deonara Ardais-Aldaran, eine schlanke alternde Frau, kam auf Zehenspitzen näher und nahm Alicianes schmale Hand in die ihre. Beruhigend sagte sie: »Hab um Donal keine Furcht, Aliciane. Avarra möge verhüten, daß es notwendig ist, aber ich schwöre dir, daß ich ihm von diesem Tag an eine solch liebevolle Pflegemutter sein werde, als sei er einer meiner eigenen Söhne.«

»Du bist freundlich zu mir gewesen, Deonara«, sagte Aliciane, »und ich habe versucht, dir Mikhail wegzunehmen.«

»Kind, Kind – das ist nicht die Zeit, daran zu denken. Wenn du Mikhail geben kannst, wozu ich nicht im Stande bin, dann bist du meine Schwester, und ich werde dich lieben, wie Cassilda Camilla liebte, das schwöre ich.« Deonara beugte sich vor und küßte die bleiche Wange Alicianes. »Sei ganz ruhig, Breda; denk nur an die Kleine, die in unsere Arme kommt. Auch sie werde ich lieben.«

Sanft umarmt vom Vater ihres Kindes und der Frau, die geschworen hatte, ihr Kind wie ein eigenes in Empfang zu nehmen, wußte Aliciane, daß man sie trösten wollte.

Und doch, als der Blitz auf den Höhen flackerte und der Donner um die Mauern der Burg grollte, fühlte sie sich von Angst durchdrungen. Ist es die Angst des Kindes oder meine? Ihr Geist schwamm in die Dunkelheit hinein, während die Leronis sie besänftigte und Mikhail, Liebe und Zärtlichkeit ausströmend, ihr beruhigende Gedanken zusandte. Ist es für mich, oder nur für das Kind? Es schien keine Bedeutung mehr zu haben; sie konnte nicht weiter sehen. Vorher hatte sie immer ein schwaches Gespür für das, was folgte, gehabt, aber jetzt schien es, als gäbe es nichts in der Welt außer ihrer Furcht und der des Kindes, der gestaltlosen, wortlosen Erregung. Ihr schien, daß die Erregung sich mit dem Donner verband, daß die sie quälenden Wellen der Geburtsschmerzen mit dem Kommen und Gehen der Blitze identisch waren ... Als sei der Donner nicht dort draußen auf den Höhen, sondern in ihrem gequälten Körper existent. Entsetzen und Erregung dehnten sich in ihr aus ... Die Blitze brachten Nervosität und Schmerzen. Sie rang nach Atem und schrie auf, und fast mit Erleichterung sank ihr Geist ins Dunkel, in die Stille, ins Nichts ...

»Ai! Sie ist ein wenig ungestüm«, sagte die Amme, die behutsam das sich sträubende Kind hielt. »Du mußt sie beruhigen, Domna, bevor ich ihr Leben von dem ihrer Mutter trenne, sonst wird sie sich wehren und zuviel Blut verlieren – aber sie ist eine kräftige, gesunde Frau!«

Margali beugte sich über den kreischenden Säugling. Das Gesicht war dunkelrot, verzerrt in einem Aufschrei voller Wildheit; die Augen, zusammengekniffen und fast geschlossen, waren von strahlendem Blau. Der runde, kleine Kopf war von dichtem rotem Flaum bedeckt. Margali legte ihre mageren Hände auf den nackten Körper des Säuglings und stimmte eine beruhigende Melodie an. Unter ihrer Berührung beruhigte sich das Kind ein wenig und stellte den Kampf ein; die Hebamme trennte die Nabelschnur und band sie ab. Aber als die Frau den Säugling nahm und in eine warme Decke wickelte, begann er wieder zu kreischen und zu strampeln. Erschreckt die Hand zurückziehend, legte sie ihn nieder.

»Ai! Evanda sei gnädig, sie ist eine von denen! Nun, wenn es groß ist, braucht sich das kleine Mädchen vor Räubern nicht zu fürchten, wenn es schon jetzt mit Laran zuschlagen kann. Ich habe bei einem so kleinen Kind noch nie davon gehört!«

»Du hast sie erschreckt«, sagte Margali. Aber als sie das Kind nahm, schwand ihr Lächeln. Wie alle Damen Deonaras hatte auch sie die anmutige Aliciane geliebt. »Armes Kind, eine so liebevolle Mutter zu verlieren, und so früh.«

Mikhail von Aldaran, das Gesicht in großem Schmerz verzerrt, kniete neben dem Körper der Frau, die er geliebt hatte, nieder. »Aliciane! Aliciane, meine Liebste«, sagte er. Dann hob er den Kopf. Sein Gesicht zeigte Bitterkeit. Deonara hatte Margali den in eine Decke gewickelten Säugling abgenommen und hielt ihn mit dem Heißhunger verhinderter Mutterschaft an ihre schmächtige Brust gepreßt.

»Du bist nicht unzufrieden darüber, Deonara – daß keiner mit dir wetteifern wird, diesem Kind Mutter zu sein, nicht wahr?«

»Solche Worte sind deiner nicht würdig, Mikhail«, erwiderte Deonara, Alicianes Kind eng an sich drückend. »Ich habe Aliciane geliebt. Möchtest du, daß ich ihr Kind jetzt von mir weise? Kann ich meine Liebe nicht am besten dadurch zeigen, daß ich es so liebevoll aufziehe, als sei es mein eigenes? Sonst nimm sie, mein Gatte, bis du eine andere Geliebte findest.« Sosehr sie sich auch mühte – Lady Aldaran konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht zurückhalten. »Sie ist dein einziges Kind. Und wenn sie jetzt schon Laran besitzt, wird sie viel Fürsorge brauchen. Meine armen Babys haben nicht einmal so lange gelebt.« Sie legte das Kind in Dom Mikhails Arme, der es mit unendlicher Zärtlichkeit und Sorge ansah.

Maryas Fluch hallte in seinem Kopf wider: Du wirst keine andere in dein Bett nehmen ... Deine Lenden werden leer sein wie ein vom Winter getöteter Baum. Als teile sich sein Entsetzen dem Säugling in seinen Armen mit, begann dieser erneut zu strampeln und zu schreien. Hinter dem Fenster tobte der Sturm.

Dom Mikhail schaute in das Gesicht seiner Tochter. Dem kinderlosen Mann erschien sie unendlich kostbar; und das würde sie um so mehr sein, falls der Fluch sich bewahrheiten sollte. Steif lag sie in seinem Arm und schrie. Ihr kleines Gesicht war verzerrt, als versuche sie, die winzigen rosa Fäuste voll Zorn geballt, die Wut des Sturms zu übertreffen. Er konnte in ihrem Gesicht schon ein verschwommenes Miniaturbild Alicianes erkennen – die geschwungenen Brauen, die hohen Wangenknochen, die Augen von strahlendem Blau, der Flaum aus rotem Haar.

»Aliciane starb, um mir dieses große Geschenk zu machen. Sollen wir dem Kind zur Erinnerung den Namen seiner Mutter geben?«

Deonara schreckte zurück. »Willst du deiner einzigen Tochter den Namen einer Toten verleihen, mein Fürst? Du solltest einen suchen, der Besseres verheißt!«

»Wie du wünschst. Gib ihr einen Namen, der dir gefällt, Domna.«

Zögernd sagte Deonara: »Ich wollte unsere erste Tochter Dorilys nennen, hätte sie lange genug gelebt, um einen Namen zu bekommen. Sie soll diesen Namen tragen, als Zeichen dafür, daß ich ihr eine Mutter sein werde.« Sie berührte die rosige Wange des Kindes mit dem Finger. »Wie gefallt dir dieser Name, kleine Frau? Schau – sie schläft. Sie ist vom vielen Schreien erschöpft ...«

Hinter den Fenstern verebbte der Sturm und erstarb, und kein Geräusch war zu hören, außer dem verhaltenen Trommeln der letzten Regentropfen.

Herrin der Stürme

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