Читать книгу Herrin der Stürme - Marion Zimmer Bradley - Страница 8
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ОглавлениеDas Chervine, das kleine Hirsch-Pony der Darkovaner, wählte seinen Weg auf dem Pfad sorgfältig; gegen den neuen Schneefall protestierend schüttelte es seine Geweihstangen. Sie hatten die Berge jetzt hinter sich gelassen, Hali war nicht mehr als drei Tagesritte entfernt. Für Allart war es eine lange Reise gewesen, länger als die sieben Tage, die sie tatsächlich gedauert hatte. Er fühlte sich, als wäre er Jahre gereist, endlose Wegstunden, hinweg über tiefe Abgründe der Veränderung. Und er war erschöpft.
Es erforderte die ganze Disziplin seiner Jahre in Nevarsin, um sich sicher durch die Wirrnis, die er jetzt sah, zu bewegen. Legionen möglicher Zukunftsentwicklungen verzweigten sich mit jedem Schritt vor ihm, wie verschiedene Straßen, die er hätte nehmen können, neue Möglichkeiten, die von jedem Wort, jeder Handlung erzeugt wurden. Als sie durch die gefährlichen Gebirgspässe ritten, konnte Allart jeden möglichen falschen Schritt sehen, der ihn über Abgründe führte, die ihn zerschmettern konnten; ebenso sah er jeden sicheren Schritt, den er tatsächlich tat. In Nevarsin hatte er gelernt, sich den Weg durch die Angst zu bahnen, aber die Anstrengung machte ihn schwach und müde.
Und immer tat sich ihm eine andere Möglichkeit auf. Immer wieder während ihrer Reise hatte er seinen Vater gesehen, tot zu seinen Füßen liegend, in einem unbekannten Zimmer.
Ich will mein Leben außerhalb des Klosters nicht als Vatermörder beginnen! Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft ...! Er wußte, daß er seinen Zorn nicht leugnen konnte; in ihm lag die gleiche Lähmung wie in der Angst, keinen Schritt zu tun, aus Furcht, er würde zur Katastrophe führen.
Der Zorn ist mein, ermahnte er sich diszipliniert. Ich kann entscheiden, was ich mit meinem Zorn mache, und ich kann mich entscheiden, nicht zu töten. Aber es beunruhigte ihn, in dieser fremdartigen Szene, die ihm während der Reise immer vertrauter wurde, die Leiche seines Vaters zu sehen, wie sie in einem Zimmer mit grünen, goldumrandeten Vorhängen lag, am Fuß eines Sessels, dessen Schnitzereien er hätte nachziehen können, so oft hatte er sie mit dem Blick seines Laran gesehen.
Wenn er in das Gesicht seines Vaters sah, war es schwer, ihn nicht mit dem Bedauern und dem Entsetzen anzuschauen, das er beim Anblick des Toten empfinden würde. Und es strengte ihn an, Lord Elhalyn nichts davon zu zeigen.
Sein Vater hatte während der Reise die verächtlichen Worte für Allarts mönchische Standhaftigkeit nicht wiederholt und gänzlich aufgehört, mit ihm darüber zu streiten. Er sprach ausschließlich freundlich mit seinem Sohn, meist von seiner Kindheit in Hali (bevor der Fluch über Allart gekommen war), von ihrer Verwandtschaft und den Aussichten der Reise. Er sprach von Hali und den Minenarbeiten, die im Turm von den Leuten des Matrixkreises getan wurden, um Kupfer-, Eisen- und Silbererz an die Erdoberfläche zu bringen; von Falken und Chervines, und von den Zuchtexperimenten mit zelltiefen Veränderungen, die sein Bruder angestellt hatte. Er sprach von regenbogenfarbenen Falken und Chervines mit phantastischen, juwelenbunten Geweihsprossen, die den sagenhaften Tieren aus der Legende glichen.
Von Tag zu Tag stieß Allart auf mehr von jener Kindheitsliebe, die er für seinen Vater empfand. Er erinnerte sich an jene Tage, bevor ihn das Laran und sein Cristofero-Glaube von ihm getrennt hatten, und erneut fühlte er Schmerzen der Trauer, wenn er das verfluchte Zimmer mit den grüngoldenen Vorhängen sah, den großen geschnitzten Sessel, und das Gesicht seines Vaters, weiß und starr und voller Überraschung.
Auf dieser Straße hatten immer wieder andere Gesichter versucht, aus der Verschwommenheit des Unbekannten in die mögliche Zukunft zu kommen. Die meisten von ihnen ignorierte Allart, wie er es im Kloster gelernt hatte, aber zwei oder drei tauchten wiederholt auf und machten ihm klar, daß es sich nicht um Gesichter von Leuten handelte, die er treffen konnte, sondern um die derjenigen, die in sein Leben treten würden. Eins, das er verschwommen erkannte, war das seines Bruders Damon-Rafael, der ihn einen Sandalenträger und Feigling genannt hatte und froh gewesen war, den Rivalen loszuwerden, damit er allein Elhalyns Erbe sein konnte.
Ich wünschte, mein Bruder und ich könnten Freunde sein und einander lieben, wie Brüder es sollten. Doch unter den möglichen Zukunftsentwicklungen sehe ich nirgendwo eine Chance ...
Und da was das Gesicht einer Frau, das regelmäßig vor seinen geistigen Augen auftauchte, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte. Eine kleine Frau, von angenehmem Äußeren, mit von dunklen Wimpern beschatteten Augen, einem blassen Gesicht und mit Haaren, die aus gesponnenem schwarzen Glas zu sein schienen. Er sah sie in seinen Visionen – ein ernstes, bekümmertes Gesicht, dessen dunkle Augen ihm mit quälendem Flehen zugewandt waren.
Wer bist du? fragte er sich. Dunkles Mädchen meiner Visionen, warum marterst du mich auf diese Weise?
Nach den Jahren im Kloster schien es Allart seltsam, daß er anfing, auch erotische Visionen von dieser Frau zu haben; er sah sie lachen, liebevoll, ihr Gesicht im Verlangen nach Zärtlichkeit dem seinen entgegengehoben, die Augen in der Verzückung eines Kusses geschlossen. Nein! dachte er. Ganz gleich, wie sehr ihn sein Vater mit der Schönheit dieser Frau verlocken sollte, er würde an seinem Entschluß festhalten und kein Kind zeugen, das den Fluch seines Blutes zu tragen hatte! Aber die Anwesenheit des Gesichts dieser Frau blieb im Träumen und Wachen, und er wußte, daß sie eine von jenen war, die sein Vater für ihn als Braut wählen würde. Allart fragte sich, ob die Möglichkeit bestand, daß er ihrer Schönheit nicht zu widerstehen vermochte.
Ich bin schon halb verliebt in sie, dachte er, und ich kenne nicht einmal ihren Namen!
Eines abends, als sie in ein weites grünes Tal hinabritten, begann sein Vater erneut von der Zukunft zu sprechen.
»Unter uns liegt Syrtis. Die Leute von Syrtis sind seit Jahrhunderten Hastur-Vasallen gewesen; wir werden unsere Reise dort unterbrechen. Du wirst froh sein, wieder in einem Bett zu schlafen, nehme ich an.«
Allart lachte. »Das ist mir egal, Vater. Während dieser Reise habe ich weicher geschlafen als jemals in Nevarsin.«
»Vielleicht hätte ich solche mönchische Zucht erfahren sollen, bevor meine alten Knochen eine solche Reise machten! Ich jedenfalls werde über eine Matratze froh sein, wenn du es schon nicht bist! Wir sind jetzt nur noch zwei Tagesritte von zu Hause entfernt und könnten an sich schon etwas für deine Heirat planen. Mit zehn Jahren wurdest du mit deiner Verwandten Cassandra Aillard verlobt, erinnerst du dich?«
Sosehr er es auch versuchte, Allart konnte sich nur an ein Fest erinnern, zu dem er einen neuen Anzug bekommen hatte und stundenlang herumstehen und lange Ansprachen der Erwachsenen anhören mußte. Das sagte er seinem Vater, und Dom Stephen erwiderte, erneut sehr liebenswürdig: »Das überrascht mich nicht. Vielleicht war das Mädchen nicht einmal da; ich glaube, es war damals nur drei oder vier Jahre alt. Ich bekenne auch, daß ich an dieser Verbindung meine Zweifel hatte. Die Aillards haben Chieri-Blut und die üble Angewohnheit, dann und wann Töchter zu gebären, die Emmasca sind – sie sehen wie wunderschöne Frauen aus, aber sie werden nie reif zur Vereinigung und gebären auch keine Kinder. Ihr Laran ist nichtsdestoweniger stark, deshalb habe ich die Verlobung riskiert. Und als das Mädchen zur Frau wurde, ließ ich sie in Anwesenheit ihrer Amme von unserer eigenen Leronis, die ihre Überzeugung äußerte, daß sie Kinder gebären könnte, untersuchen. Ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen, aber man hat mir berichtet, sie sei zu einer anmutigen Jungfrau herangewachsen. Und sie ist eine Aillard. Ihre Familie ist ein starker Verbündeter unseres Clans, den wir sehr benötigen. Hast du nichts dazu zu sagen, Allart?«
Allart zwang sich, ruhig zu sprechen.
»Du kennst meine Einstellung zu dieser Sache, Vater. Ich will nicht mit dir darüber streiten, aber ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich habe nicht den Wunsch, zu heiraten, und werde auch keine Söhne zeugen, die den Fluch unseres Blutes weitertragen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
Erneut tauchten vor seinem geistigen Auge das Zimmer mit den grüngoldenen Vorhängen und das tote Gesicht seines Vaters auf; mit solcher Deutlichkeit, daß er heftig blinzeln mußte, um den Vater wieder neben sich reiten zu sehen.
»Allart«, sagte sein Vater mit freundlicher Stimme, »während der Tage unserer gemeinsamen Reise habe ich dich zu gut kennengelernt, um dir das zu glauben. Immerhin bist du mein Sohn, und wenn du in die Welt zurückgekehrt bist, in die du gehörst, wirst du diese Mönchsansichten nicht lange behalten. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Kihu Caryu, bis die Zeit dafür reif ist. Die Götter wissen, daß ich nicht mit dem jüngsten Sohn, den man mir gelassen hat, streiten will.«
Allart fühlte seine Kehle sich vor Kummer zusammenziehen.
Ich kann nicht anders. Ich habe meinen Vater lieben gelernt. Wird er dadurch schließlich meinen Willen brechen? Nicht mit Gewalt, sondern mit Freundlichkeit? Und wieder blickte er in das tote Gesicht und das grün- und goldverhängte Zimmer, und das Gesicht des dunklen Mädchens aus seinen Visionen tauchte vor seinen flimmernden Augen auf.
Das Herrschaftshaus von Syrtis bestand aus einem alten, steinernen Bergfried, einem Burggraben mit Zugbrücke, großen Außengebäuden aus Holz und Stein, und einem gestalteten Innenhof mit glasähnlicher Überdachung in vielen Farben.
Der Boden bestand aus farbigen Steinen, die mit einer solchen Präzision zusammengesetzt waren, die kein Arbeiter hätte erlernen können. Allart schloß daraus, daß die Syrtis-Leute zu den Neureichen gehörten, die aus der ornamentalen und schwierig zu handhabenden Matrix-Technologie vollen Nutzen schöpfen konnten, um solch schöne Dinge herzustellen. Wie kann man so viele Laran-Begabte finden, um seinen Willen auszuführen?
Der alte Lord Syrtis war ein rundlicher, weichlicher Mann, der selbst in den Innenhof kam, um seinen Großfürsten zu begrüßen, und mit schmeichlerischer Höflichkeit auf die Knie fiel. Er erhob sich mit einem Lächeln, das fast zur hämischen Grimasse wurde, als Dom Stephen ihn in eine brüderliche Umarmung zog. Er umarmte auch Allart, der vor dem Kuß des Mannes auf seine Wange zurückwich.
Ugh, er ist wie eine einschmeichelnde Hauskatze!
Dom Marius führte sie in die große, mit verschwenderischem Luxus gefüllte Halle, komplimentierte sie auf kissenübersäte Diwane und rief nach Wein. »Das ist ein neues Erfrischungsgetränk, aus unseren Äpfeln und Birnen hergestellt; ihr müßt es probieren ... ich habe eine neue Zerstreuung und werde euch davon erzählen, wenn wir gegessen haben«, sagte Dom Marius von Syrtis, während er sich in die wogenden Kissen zurücklehnte. »Und das ist dein jüngster Sohn, Stephen? Ich hatte ein Gerücht gehört, daß er sich von Hali losgesagt und ein Mönch bei den Cristoferos geworden sei, oder irgend so einen Unsinn. Ich freue mich, daß das eine bösartige Lüge ist; manche Leute erzählen einfach alles.«
»Ich gebe dir mein Wort, Cousin, Allart ist kein Mönch«, erwiderte Dom Stephen. »Ich gab ihm die Erlaubnis, in Nevarsin zu wohnen, um seine Gesundheit wiederherzustellen. In seiner Jugend litt er sehr unter der Schwellenkrankheit. Aber er ist gesund und stark, und nun ist er nach Hause gekommen, um verheiratet zu werden.«
»Aha, so ist das also«, sagte Dom Marius und betrachtete Allart mit seinen zwinkernden, in dicke Fettpolster eingebetteten Augen. »Ist die glücklich zu preisende Jungfrau mir bekannt, mein Junge?«
»Genausowenig wie mir«, erwiderte Allart mit widerwilliger Höflichkeit. »Man hat mir gesagt, es sei meine Cousine Cassandra Aillard; ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, und da war sie ein kleines Mädchen.«
»Aah, die Domna Cassandra! Ich habe sie in Thendara gesehen, als sie beim festlichen Ball auf Burg Comyn zugegen war«, sagte Dom Marius mit einem Seitenblick.
Angewidert dachte Allart: Er will uns nur wissen lassen, daß er bedeutend genug ist, um dort eingeladen zu werden!
Dom Marius trug den Dienern auf, Speisen zu bringen. Was seine nichtmenschlichen Lakaien anbetraf, entpuppte sich Dom Marius als Anhänger der jüngsten Modelaune. Er hielt sich Cralmac, künstlich aus den harmlosen Schweifern der Hellers gezüchtete, mit Matrix-modifizierten Genen und menschlicher Befruchtung gezeugte Wesen. Allart erschienen diese Geschöpfe häßlich, weder Mensch noch Schweifer. Die Schweifer, obwohl fremdartig und mönchgleich, besaßen ihre eigene fremde Schönheit. Aber die Cralmac zeichneten sich für Allart nur durch die Widerwärtigkeit von etwas Unnatürlichem aus, auch wenn einige von ihnen recht ansehnlich wirkten.
»Ja, ich habe die dir versprochene Braut gesehen. Sie ist so anmutig, daß sie selbst einen überzeugten Mönch dazu bringen würde, seine Gelübde zu brechen«, kicherte Dom Marius. »Du wirst dem Kloster keine Träne nachweinen, wenn du dich mit ihr hinlegst, auch wenn all diese Aillard-Mädchen unglückliche Frauen sind. Einige sind so steril wie Riyachiyas und andere so zerbrechlich, daß sie kein Kind austragen können.«
Er ist auch einer von denen, die gerne Katastrophen voraussagen, dachte Allart. »Ich habe keine große Eile, einen Erben zu bekommen. Mein älterer Bruder lebt, ist bei bester Gesundheit und hat Nedestro-Söhne gezeugt. Ich werde nehmen, was die Götter mir geben.« Darauf bedacht, das Thema zu wechseln, fragte er: »Habt Ihr die Cralmac auf Euren eigenen Gütern gezüchtet? Während der Reise erzählte mein Vater mir von den Experimenten meines Bruders, der durch Matrix-Modifikationen Zier-Chervines gezüchtet hat. Eure Cralmac sind kleiner und hübscher als die in Hali gezüchteten, die, wie ich mich erinnere, nur zum Stallausmisten und anderen schweren Arbeiten taugen. Man überläßt ihnen Dinge, mit denen man einen menschlichen Vasallen nicht beauftragen könnte.«
Mit plötzlicher Beklemmung – Wie schnell ich doch vergesse! – fiel ihm ein, daß man ihn in Nevarsin gelehrt hatte, daß es keine Arbeit gab, die die Würde des Menschen untergrub. Aber seine Worte hatten Dom Marius die Gelegenheit zu neuen Prahlereien gegeben.
»Ich habe eine Leronis der Ridenows in einer Schlacht gefangen. Sie ist in solchen Dingen sehr geschickt. Sie glaubte, ich hätte Gutes mit ihr vor, als ich ihr zusicherte, sie nie gegen ihr eigenes Volk zu verwenden – aber wie sollte ich ihr nach einer solchen Schlacht noch trauen? –, und sie widersetzte sich nicht, einige Aufträge für mich zu erledigen. Sie hat mir die Cralmac gezüchtet, und sie sind wirklich hübscher und ansehnlicher als alle, die ich vorher hatte. Ich könnte dir ein Zuchtpärchen zum Hochzeitsgeschenk machen, wenn du willst, Dom Allart; deine Gattin würde ansehnliche Diener zweifellos begrüßen. Die Leronis hat für mich auch eine neue Rasse von Riyachiyas gezüchtet. Möchtest du sie sehen, Cousin?«
Lord Elhalyn nickte, und als sie das Mahl beendet hatten, wurden die versprochenen Riyachiyas hereingebracht. Allart sah sie mit einem Gefühl von Abscheu an: exotische Spielzeuge für übersättigte Geschmäcker. Von Gestalt waren sie schlanke Frauen mit anmutigen Gesichtern und ebenmäßigen Brüsten, die die durchsichtigen Falten ihrer Gewänder hoben. Aber ihre Taillen waren zu schmal und ihre Beine zu lang, um aus ihnen echte Frauen zu machen. Es waren vier, zwei hellhäutig, zwei dunkel; sonst waren sie identisch. Sie knieten sich Dom Marius zu Füßen, bewegten schlangengleich die schlanken Hälse. Als sie sich verbeugten, wirkten sie wie holde Schwäne, und Allart fühlte hinter seiner Abscheu ein ungewohntes Verlangen.
Zandrus Hölle! Aber sie sind schön, so schön und unnatürlich wie Dämonenhexen!
»Würdest du vermuten, Cousin, daß sie in Cralmac-Leibern geboren wurden?« fragte Dom Marius. »Sie sind von meinem Samen und dem der Leronis, so daß ein penibler Mann – wenn sie menschlich wären – sagen könnte, sie seien meine Töchter, und dieser Gedanke gibt dem Ganzen in der Tat ein kleines ... ein kleines Etwas.« Er kicherte. »Es sind Zwillingspärchen ...« Er wies auf das hellhaarige Paar und fuhr fort: »Lella und Rella; die Dunklen sind Ria und Tia. Sie werden euch nicht allzusehr mit Reden belästigen, obwohl sie sprechen und singen können. Ich habe sie tanzen, die Rryl spielen und Speisen und Getränke zu servieren gelehrt. Aber ihre hauptsächlichen Talente dienen natürlich dem Vergnügen. Sie sind selbstverständlich unter Matrix-Bann ... Wie ich sehe, Stephen, kannst du deine Augen nicht von ihnen nehmen. Ebensowenig« – Dom Marius gluckste – »wie dein Sohn.«
Allart schreckte auf und wandte sich ärgerlich von den schrecklich verlockenden Gesichtern und Körpern der unmenschlich schönen, seine Begierde anstachelnden Geschöpfe ab.
»Oh, ich bin nicht kleinlich; du kannst sie heute nacht haben«, sagte Dom Marius mit einem geilen Kichern. »Eine oder zwei, ganz wie du willst. Und da du, Allart, sechs Jahre der Frustration in Nevarsin verbracht hast, mußt du ihre Dienste dringend benötigen. Ich werde dir Lella schicken; sie ist meine eigene Favoritin. Oh, was diese Riyachiya alles kann! Selbst ein eingefleischter Mönch würde sich ihrer Berührung hingeben.« Seine Beschreibungen wurden detaillierter, und Allart wandte sich ab.
»Ich bitte Euch, Onkel«, sagte er, versuchend den Widerwillen zu verbergen, »Euch nicht selbst Eurer Favoritin zu berauben.«
»Nein?« Dom Marius verdrehte seine in Fett gepolsterten Augen mit gespielter Sympathie. »So steht es also? Nach so vielen Jahren im Kloster bevorzugst du die Freuden, die unter Brüdern zu finden sind? Ich selbst begehre selten einen Ri’chiyu, aber ich halte einige aus Gastfreundschaft, und manche Gäste brauchen dann und wann eine Abwechslung. Soll ich dir Loyu schicken? Er ist wahrhaftig ein schöner Knabe, und ich habe sie alle so modifizieren lassen, daß sie auf Schmerzen kaum reagieren. Du kannst ihn, wenn du willst, auf jede gewünschte Art benutzen.«
Dom Stephen, der sah, daß Allart jeden Moment explodieren konnte, warf hastig ein: »Die Mädchen werden uns genügen. Mein Kompliment für das Geschick deiner Leronis, sie zu züchten.«
Nachdem Marius sie zu den vorbereiteten Räumen gebracht hatte, sagte Dom Stephen aufgebracht: »Du wirst uns nicht die Schande bereiten, diese Höflichkeit zurückzuweisen! Ich will nicht, daß man hier rumtratscht, daß mein Sohn kein ganzer Mann ist!«
»Er ist wie eine große, fette Kröte! Vater, spiegelt es meine Männlichkeit wider, daß der Gedanke an soviel Schmutz mich mit Abscheu erfüllt? Ich würde seine dreckigen Geschenke gern in sein Kichergesicht schleudern!«
»Du ermüdest mich mit deinen mönchischen Skrupeln, Allart. Die Leroni haben nie etwas Besseres zustande gebracht, als uns die Riyachiyas zu züchten. Deine zukünftige Frau wird es dir nicht danken, wenn du ablehnst, eine in deinem Haushalt zu haben. Bist du so unwissend, daß du nicht weißt, daß eine Schwangere eine Fehlgeburt haben kann, wenn du dich zu ihr legst? Es ist ein Teil des Preises, den wir für das Laran zahlen, das wir mit so großen Schwierigkeiten in unsere Linie hineingezüchtet haben, daß unsere Frauen schwach sind und für Fehlgeburten anfällig. Deshalb müssen wir sie schonen, wenn sie ein Kind tragen. Wenn du dein Verlangen nur auf eine Riyachiya richtest, dann braucht sie nicht eifersüchtig zu sein, als hättest du deine Zuneigung einem richtigen Mädchen gegeben, das einen gewissen Anspruch auf deine Gedanken hätte.«
Allart wandte das Gesicht ab. In den Tiefländern galt diese Art von Gespräch zwischen den Generationen als Gipfel des Unanständigen. Das war so seit der Zeit, als Gruppenhochzeiten noch die Regel gewesen waren und jeder Mann im rechten Alter ebenso der Vater eines Menschen, wie jede Frau, die alt genug war, seine Mutter sein konnte. Seitdem war das sexuelle Tabu zwischen den Generationen absolut.
Entschuldigend sagte Dom Stephen: »Ich hätte mich nie so sehr vergessen, Allart, aber du bist nicht bereit gewesen, deiner Pflicht unserer Kaste gegenüber Genüge zu tun. Aber ich bin sicher, daß du als mein Sohn Manns genug bist, mit einer Frau in deinen Armen leben zu können!« Grob fügte er hinzu: »Du brauchst keine Skrupel zu haben; diese Geschöpfe sind steril.«
Krank vor Abscheu dachte Allart: Vielleicht warte ich gar nicht auf das Zimmer mit den grünen und goldenen Vorhängen. Ich kann ihn hier und jetzt töten. Aber sein Vater hatte sich umgedreht und war in sein Zimmer gegangen.
Aufgebracht dachte er, während er sich auf die Nachtruhe vorbereitete, daran, wie verderbt sie geworden waren. Wir, geheiligte Nachfahren des Herrn des Lichts, das Blut von Hastur und Cassilda in unseren Adern – oder ist das auch nur ein hübsches Märchen? Waren die Laran-Gaben der von Hastur abstammenden Familien nur das Werk anmaßender Sterblicher, vermischt mit Gen-Stoff und Hirnzellen, eine Hexerei mit dem Matrixjuwel, das Protoplasma modifizierte, wie es Dom Marius’ Leronis mit diesen Riyachiys angestellt hatte, indem sie exotische Spielzeuge für lasterhafte Männer produzierte?
Den Göttern selbst – wenn es wirklich Götter gibt – muß es bei unserem Anblick übel werden!
Das warme, luxuriöse Zimmer machte ihn krank; er wünschte sich nach Nevarsin, in die weihevolle Nachtstille zurück. Als er das Licht gelöscht hatte, hörte er fast geräuschlose Schritte. Das Mädchen Lella näherte sich ihm vorsichtig in einem dünnen Gewand.
»Ich bin zu deiner Befriedigung hier, Vai Dom.«
Ihre Stimme war ein heiseres Murmeln; einzig ihre Augen enthüllten, daß sie nicht menschlich war, denn es waren dunkelbraune Tieraugen, groß, weich und merkwürdig unerklärlich.
Allart schüttelte den Kopf.
»Du kannst wieder gehen, Lella. Ich werde heute nacht allein schlafen.«
Sexuelle Bilder quälten ihn, all die Dinge, die er tun könnte, all die möglichen Zukunftsentwicklungen, ein unendlich großes Bündel von Wahrscheinlichkeiten, die von diesem Augenblick abhingen. Lella saß auf dem Bettrand; ihre weichen, schlanken Finger, so anmutig, daß sie keine Knochen zu haben schienen, legten sich behutsam in die seinen. Flehend murmelte sie: »Wenn ich dich nicht erfreue, Vai Dom, werde ich bestraft. Was, wünschst du, soll ich tun? Ich kenne viele, viele Arten, Freude zu bereiten.«
Er wußte, daß sein Vater auf diese Situation hingesteuert hatte. Die Riyachiyas wurden gezüchtet, ausgebildet und ausgewählt, um unwiderstehlich zu sein. Hatte Dom Stephen erhofft, sie würde Allarts Hemmungen niederreißen?
»Mein Herr wird wirklich sehr zornig sein, wenn es mir nicht gelingt, dir Freude zu schenken. Soll ich nach meiner Schwester schicken, die so dunkel ist, wie ich hellhaarig bin? Und sie ist sogar noch geschickter. Oder würde es dir Freude machen, mich zu schlagen, Herr? Ich habe es gern, geschlagen zu werden, wirklich.«
»Still, still!« Allart fühlte sich krank. »Niemand würde sich eine Schönere wünschen als dich.« Und der wohlgeformte junge Körper, das entzückende kleine Gesicht, das lose duftende Haar, das über seinen Körper fiel, waren tatsächlich verführerisch. Sie strömte einen süßen, moschusartigen Duft aus; bevor er sie berührt hatte, hatte er irgendwie geglaubt, sie würde wie ein Tier, nicht wie ein Mensch riechen.
Ich bin in ihrem Bann, dachte er. Wie sollte er widerstehen können? Mit einem Gefühl tödlicher Müdigkeit dachte er, als er ihre schmalen Fingerspitzen eine Linie über seinen nackten Hals vom Ohrläppchen zur Schulter ziehen fühlte: Was macht es schon aus? Ich habe beschlossen, frauenlos zu leben und den Fluch, den ich trage, niemals weiterzugeben. Aber dieses arme Geschöpf ist steril, ich kann mit ihr kein Kind zeugen, selbst, wenn ich wollte. Vielleicht wird Vater geneigt sein, mich nicht mehr zu verletzen oder mich einen halben Mann zu nennen, wenn er weiß, daß ich hierbei seinem Willen gefolgt bin. Heiliger Lastenträger, gib mir Kraft! Ich gebrauche nur Entschuldigungen für das, was ich tun will. Warum sollte ich nicht? Warum muß ich allein das ablehnen, was jedem Mann meiner Kaste zu Recht gegeben ist? In seinem Kopf drehte es sich. Tausend verschiedene Zukunftsmöglichkeiten rotierten vor ihm dahin: In einer packte er das Mädchen und würgte ihren Hals; in einer anderen sah er sich und das Mädchen in zärtlicher Umklammerung, Und dieses Bild wuchs, trieb das Bewußtsein der Begierde in seinen Körper. In einer weiteren Vision sah er das dunkle Mädchen tot vor sich liegen ... So viele Zukunftsmöglichkeiten, soviel Tod und Verzweiflung ... Krampfhaft, verzweifelt, die vielfache Zukunft auszulöschen versuchend, nahm er das Mädchen in die Arme und zog es aufs Bett nieder.
Selbst als seine Lippen sich auf die ihren senkten, dachte er an Verzweiflung und Leere. Was macht das aus, wenn nur Untergang vor mir liegt ...? Wie aus dem Nichts kommend hörte er ihre kurzen Freudenschreie und dachte in seinem Elend: Wenigstens ist sie nicht unwillig. Und dann dachte er überhaupt nicht mehr. Es war eine große Erleichterung.