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Prolog: Darkover Die Leronis

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Leonie Hastur war tot.

Die alte Leronis, Zauberin der Comyn, Bewahrerin von Arilinn, Telepathin, im Besitz aller Macht, die die Matrix-Wissenschaften auf Darkover verleihen konnten, starb, wie sie gelebt hatte – allein, abgesondert hoch oben im Turm von Arilinn.

Nicht einmal Janine Leynier, ihre Priesterin-Novizin-Schülerin, kannte die Stunde, als der Tod leise in den Turm kam und sie in eine der anderen Welten entführte, in denen sie so frei umherzustreifen gelernt hatte wie in ihrem eigenen umschlossenen Garten.

Sie starb allein, und sie starb unbetrauert. Denn obwohl Leonie in allen Domänen Darkovers gefürchtet, verehrt und fast wie eine Göttin angebetet worden war, hatte man sie nicht geliebt.

Einmal war sie sehr geliebt worden. Es hatte eine Zeit gegeben, als Leonie Hastur eine junge Frau war, schön und keusch wie ein ferner Mond, und Dichter hatten zu ihrem Ruhm geschrieben und sie mit dem süßen Gesicht Liriels, dem großen violetten Mond, verglichen, oder mit einer Göttin, die herabgestiegen war, unter den Menschen zu leben. Sie war von denen, die unter ihrer Herrschaft im Arilinn-Turm lebten, hoch verehrt worden. Die ihr Leben bestimmenden Gelübde hätten es zu einer unvorstellbaren Blasphemie gemacht, daß ein Mann auch nur ihre Fingerspitzen berührte. Und trotzdem war Leonie einmal geliebt worden. Aber das war lange her.

Während die Jahre dahinzogen und sie immer einsamer machten, sie immer mehr von der Menschheit abschnitten, war sie weniger geliebt und mehr gefürchtet und gehaßt worden. Der alte Regent Lorill Hastur, ihr Zwillingsbruder (denn Leonie war in das königliche Haus der Hasturs von Hastur hineingeboren worden, und hätte sie nicht den Turm gewählt, wäre ihre Stellung höher als die jeder Königin im Lande gewesen), war lange tot. Ein Neffe, den sie nur einige wenige Male gesehen hatte, stand hinter dem Thron Stefan Hastur-Elhalyns und war die wirkliche Macht in den Domänen. Aber für ihn war Leonie ein Geflüster, eine alte Sage und ein Schatten.

Und jetzt war sie tot und lag, wie es der Brauch war, in einem nicht gekennzeichneten Grab innerhalb der Mauern von Arilinn, wohin kein menschliches Wesen, das nicht aus Comyn-Blut war, zu gelangen vermochte. Und es waren wenige am Leben, sie zu beweinen.

Einer der wenigen, die weinten, war Damon Ridenow. Er hatte vor Jahren in die Domäne von Alton eingeheiratet und war kurze Zeit Vormund Valdirs von Armida, des jungen Erben von Alton, gewesen.*

Als Valdir zum Mann herangewachsen war und eine Frau nahm, war Damon mit seinem ganzen Haushalt – und der war groß – nach dem Gut Mariposa-See, reizvoll im Vorland der Kilghardberge gelegen, übergesiedelt. Leonie war jung und Damon war ebenfalls jung und Mechaniker im Turm von Arilinn gewesen, da hatte er Leonie geliebt – keusch geliebt, ohne eine Berührung oder einen Kuß oder einen Gedanken daran, die Eide, die sie banden, zu brechen. Trotzdem hatte er sie mit einer Leidenschaft geliebt, die seinem ganzen späteren Leben Form und Farbe geben sollte. Als er von ihrem Tod hörte, ging er allein in sein Arbeitszimmer, und dort vergoß er die Tränen, die er nicht vor seiner Frau und deren Schwester – diese war einmal Leonies Stellvertreterin in Arilinn gewesen – oder sonst jemandem aus seinem Haushalt vergießen wollte. Sie mochten von seinem Leid wissen, denn unter Comyn-Telepathen konnten solche Dinge nicht gut verborgen werden, aber keiner sprach davon. Nicht einmal seine erwachsenen Söhne und Töchter fragten, warum ihr Vater sich absonderte und trauerte. Natürlich war Leonie für sie nur eine Legende mit einem Namen.

Während die Nachricht sich durch die Domänen verbreitete, wurden selbst in den entlegensten Ecken des Landes aufgeregt Spekulationen über die Frage angestellt, die von den Hellers bis zu den Ebenen von Arilinn brennendes Interesse erregte: Wer wird jetzt Bewahrerin von Arilinn werden?

Und bald darauf kam eines Tages Damons jüngste Tochter Cleindori zu ihm in die Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers.

Man hatte ihr den von Legende und Tradition überlieferten altmodischen Namen Dorilys gegeben. Aber die Haare des Kindes waren von einem so hellen Sonnengold und ihre großen Augen so blau gewesen, daß ihre Kinderfrauen sie immer in blaue Röckchen und blaue Bänder kleideten. Damons Frau Ellemir, ihre Pflegemutter, sagte, sie sehe aus wie eine blaue Glocke der Kireseth-Blumen, die sich mit ihren goldenen Pollen bedecken. Deshalb rief man sie, schon als sie zu laufen begann, mit dem Kosenamen Goldene Glocke, der volkstümlichen Bezeichnung für die Kireseth-Blume. Und als die Jahre vergingen, geriet es bei den meisten Leuten in Vergessenheit, daß Dorilys Aillard (denn ihre Mutter war eine Nedestro-Tochter jener mächtigen Domäne gewesen) jemals einen anderen Namen als Cleindori getragen hatte.

Sie war zu einem scheuen, ernsthaften jungen Mädchen herangewachsen, jetzt dreizehn Jahre alt, das Haar von einem sonnigen Kupfergold. Es war Trockenstädter-Blut im Ridenow-Clan, und zudem sei ihrer Mutter Vater, so wurde geflüstert, ein Trockenstadt-Räuber aus Shainsa gewesen; aber dieser alte Skandal war lange vergessen. Angesichts des fraulichen Körpers und ernsten Blicks seiner letztgeborenen Tochter kam Damon zum ersten Mal in seinem Leben der Gedanke, daß er alt wurde.

„Bist du heute den ganzen Weg von Armida hergeritten, mein Kind? Was hatte dein Pflegevater dazu zu sagen?“

Cleindori lächelte und küßte ihren Vater auf die Wange. „Er hat nichts gesagt, weil ich es ihm nicht erzählt habe“, gestand sie fröhlich. „Aber ich war nicht allein, denn mein Pflegebruder Kennard ist mit mir gekommen.“

Cleindori war mit neun Jahren, wie es der Brauch in den Domänen war, in Pflege gegeben worden, damit sie unter einer weniger zärtlichen Hand als der einer Mutter zur Frau heranwachse. Sie kam zu Valdir, Lord Alton, dessen Frau Lori nur Söhne hatte und sich nach einer Tochter sehnte. Man hatte darüber gesprochen, daß Cleindori, wenn sie alt genug dazu war, mit Lord Altons älterem Sohn Lewis-Arnard verheiratet werden könne. Doch Damon vermutete, daß Cleindori noch keinen Gedanken an eine Ehe verschwendete. Sie und Lewis und Valdirs jüngerer Sohn Kennard waren Schwester und Brüder. Damon begrüßte Kennard, einen stämmigen, breitschultrigen, grauäugigen Jungen, ein Jahr jünger als Cleindori, mit der unter Verwandten üblichen Umarmung und sagte: „Dann hat meine Tochter auf dem Weg also guten Schutz gehabt. Was führt euch her, Kinder? Wart ihr auf der Falkenjagd und habt euch verspätet? Und dann habt ihr euch wohl entschlossen, diesen Weg zu nehmen, weil ihr meint, für Ausreißer werde es hier Kuchen und Süßigkeiten, zu Hause aber zur Strafe nur Wasser und Brot geben?“ Aber er lachte dabei.

„Nein“, antwortete Kennard ernsthaft, „Cleindori sagte, sie müsse dich sprechen, und meine Mutter hat uns erlaubt zu reiten. Nur glaube ich nicht, daß ihr ganz klar war, wonach wir fragten und was sie antwortete, denn es ist immerzu Aufregung in Armida gewesen, seit die Nachricht eintraf.“

„Welche Nachricht?“ Damon beugte sich vor. Doch er wußte es bereits, und das Herz wurde ihm schwer. Cleindori rollte sich auf einem Kissen zu seinen Füßen zusammen und blickte zu ihm auf. „Lieber Vater, vor drei Tagen kam die Lady Janine von Arilinn nach Armida geritten. Sie war auf der Suche nach einer, die Amt und Würde der Lady von Arilinn, die tot ist, übernehmen könne, der Leronis Leonie.“

„Sie hat lange genug gebraucht, um nach Armida zu kommen.“ Damon verzog einen Mundwinkel. „Zweifellos hat sie ihre Tests vorher in allen anderen Domänen durchgeführt.“

Cleindori nickte. „Das glaube ich auch. Denn als sie erfuhr, wer ich sei, sah sie mich an, als rieche sie etwas Unangenehmes, und sie sagte: ,Du bist also von dem Verbotenen Turm. Bist du in irgendeiner ihrer Häresien unterrichtet worden?‘ Als Lady Lori ihr meinen Namen nannte, wurde sie nämlich zornig, und ich mußte ihr berichten, daß meine Mutter mir den Namen Dorilys gegeben habe. Dann sagte Janine: ,Nun, das Gesetz verpflichtet mich, dich auf Laran zu testen. Das kann ich dir nicht verweigern.“‘

Sie machte dabei Mimik und Stimme der Leronis nach. Damon bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts mit der Hand, als denke er nach, doch in Wirklichkeit wollte er sein Grinsen verbergen. Cleindori hatte eine Begabung für Imitationen, und sie hatte den sauren Ton und mißbilligenden Blick der Leronis Janine genau wiedergegeben. Damon erklärte: „Ja, Janine war unter denen, die mich hätten blenden oder bei lebendigem Leibe verbrennen lassen, als ich mit Leonie um das Recht kämpfte, das Laran, das die Götter mir schenkten, nach eigener Wahl und nicht nach den Vorschriften Arilinns zu benutzen. Es wird nicht gerade ihre Liebe erwecken, Kind, daß du meine Tochter bist.“

Wieder lächelte Cleindori fröhlich. „Ich kann sehr gut ohne ihre Liebe leben. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, daß sie nie auch nur ein Kätzchen geliebt hat! Aber ich wollte dir erzählen, Vater, was sie zu mir sagte und was ich zu ihr sagte ... Es schien sie zu freuen, als ich berichtete, du habest mich bisher noch gar nichts gelehrt und daß ich schon mit neun nach Armida in Pflege gegeben worden sei. Dann gab sie mir eine Matrix und testete mich auf Laran. Und als sie das getan hatte, sagte sie, sie brauche mich für Arilinn, und gleich darauf runzelte sie die Stirn und meinte, von sich aus ausgewählt hätte sie mich nie. Aber es gebe nur wenige andere, die die Ausbildung durchstehen würden, und ihr Wunsch sei es, mich zur Bewahrerin heranzubilden.“

Der Schrei des Protests, der sich in Damons Kehle bildete, erstarb ungehört, denn Cleindori blickte mit leuchtenden Augen zu ihm auf. „Vater, ich antwortete ihr, wie es ja meine Pflicht war, ohne Einwilligung meines Vaters könne ich nicht in einen Turm eintreten. Und dann ritt ich hierher, um dich um diese Einwilligung zu bitten.“

„Und du wirst sie nicht bekommen“, erklärte Damon barsch, „solange ich noch nicht unter der Erde bin. Und danach auch nicht, wenn ich es verhindern kann.“

„Aber Vater – Bewahrerin von Arilinn zu sein! Nicht einmal die Königin ...“

Damon wurde die Kehle eng. Nun streckte Arilinn nach all diesen Jahren wieder die Hand nach einem Menschen aus, den er liebte! „Cleindori, nein.“ Er streichelte ihre hellen Locken. „Du siehst nur die Macht. Du weißt nicht, wie grausam die Ausbildung ist. Um Bewahrerin zu werden ...“

„Janine erzählte es mir. Die Ausbildung ist sehr lang und sehr hart und sehr schwer zu ertragen. Sie sagte auch etwas davon, was ich geloben und was ich aufgeben müsse. Aber dann sagte sie, sie glaube, ich sei dazu fähig.“

„Kind ...“ Damon schluckte schwer. „Menschliches Fleisch und Blut können das nicht aushalten!“

„Also, das ist Unsinn“, behauptete Cleindori, „denn du hast es ausgehalten, Vater. Und Callista auch, die früher einmal Leonies Stellvertreterin in Arilinn war.“

„Hast du eine Ahnung davon, was es Callista gekostet hat, Kind?“

„Du hast es mir selbst erklärt, noch bevor meine Kinderzeit zu Ende war“, antwortete Cleindori. „Und Callista hat mir ebenfalls erzählt, ehe ich zur Frau wurde, welch ein grausames und unnatürliches Leben es war. Ich war immer ganz aufgeregt über diese alte Geschichte, wie du und Callista gegen Leonie und ganz Arilinn in einem Duell gekämpft habt, das nächtelang dauerte ...“

„Ist die Geschichte so angewachsen?“ unterbrach Damon sie lachend. „Es war weniger als eine Viertelstunde, obwohl der Sturm in der Tat viele Tage lang zu wüten schien. Doch wir besiegten Arilinn und gewannen das Recht, Laran zu benutzen, wie wir wollten, und nicht, wie Arilinn es uns vorschrieb.“

„Aber ich habe längst gemerkt“, argumentierte Cleindori, „du, der in Arilinn geschult worden ist, und ebenso Callista mit ihrer Arilinn-Ausbildung, ihr seid erstklassig. Dagegen sind die anderen, die hier in der Anwendung von Laran ausgebildet wurden, recht unbeholfen. Und ich weiß auch, daß sich alle anderen Türme im Land nach den Regeln von Arilinn richten.“

„Diese Kräfte und Fähigkeiten ...“ Damon hielt inne. Er wude sich bewußt, daß er brüllte, nahm sich zusammen und sprach ruhiger weiter. „Cleindori, seit meiner Jugend vertrete ich die Meinung, daß die Regeln von Arilinn – und die aller anderen Türme, denen die Arilinn-Leute ihren Willen aufzwingen – grausam und unmenschlich sind. Das ist meine Überzeugung, und ich habe unter Einsatz meines Lebens dafür gekämpft, daß die Männer und Frauen in den Türmen nicht hinter Mauern eingekerkert einem lebenden Tod überantwortet werden. Fähigkeiten, wie wir sie haben, kann sich jeder Mann und jede Frau erwerben, ob Comyn oder aus dem Volk, wenn er oder sie das angeborene Talent besitzt. Es ist wie beim Lautenspiel. Man wird mit einem Ohr für Musik geboren und kann lernen, wie die Saiten zu zupfen sind. Aber selbst in diesem schwierigen Beruf wird von niemandem verlangt, Heimat und Familie, Leben und Liebe aufzugeben. Wir haben andere vieles gelehrt, und wir haben uns das Recht erkämpft, zu lehren, ohne dafür bestraft zu werden. Es wird ein Tag kommen, Cleindori, an dem jeder, der die alten Matrix-Wissenschaften unserer Welt benutzen kann, freien Zugang zu ihnen hat und die Türme nicht mehr benötigt werden.“

„Aber wir sind immer noch Ausgestoßene“, wandte Cleindori ein. „Vater, wenn du Janines Gesicht gesehen hättest, als sie von dir sprach und von dem Verbotenen Turm …“

Damons Gesicht spannte sich. „Ich liebe Janine nicht so sehr, daß mir ihre schlechte Meinung über mich auch nur eine schlaflose Nacht bereitet.“

„Aber Cleindori hat recht“, fiel Kennard ein. „Wir sind Renegaten. Hier auf dem Land richten sich die Leute nach deinen Ansichten, aber überall sonst in den Domänen sind sie der Meinung, daß nur die Türme Laran-Unterricht erteilen sollten. Auch ich werde in einen Turm gehen, vielleicht nach Neskaya oder nach Arilinn selbst, wenn ich meine drei Jahre Dienst bei der Garde hinter mir habe. Lady Janine sagt, wenn Cleindori nach Arilinn geht, muß ich warten, bis sie die Jahre der Absonderung hinter sich hat. Denn eine Bewahrerin darf während ihrer Ausbildung keinen Pflegebruder oder sonst jemanden, mit dem sie durch Zuneingung verbunden ist, in ihrer Nähe haben.“

„Cleindori geht nicht nach Arilinn“, erklärte Damon, „und damit Schluß!“ Er wiederholte, diesmal noch heftiger: „Menschliches Fleisch und Blut können die Regeln von Arilinn nicht aushalten!“

„Und ich sage noch einmal, daß das Unsinn ist“, widersprach Cleindori, „denn Callista hat es ausgehalten und die Lady Hilary von Syrtis und Margwenn von Thendara und Leominda von Neskaya und Janine von Arilinn und Leonie selbst und mehr als neunhundertundzwanzig Bewahrerinnen vor ihr, wie es heißt. Und was sie ausgehalten haben, kann ich auch aushalten, wenn ich muß.“

Sie stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und sah ernsthaft zu ihrem Vater auf. „Du hast mir oft genug gesagt, schon als ich noch ein kleines Kind war, daß eine Bewahrerin nur ihrem eigenen Gewissen verantwortlich ist. Und daß überall unter den besten Frauen und Männern das Gewissen die einzige Richtschnur für ihr Tun ist. Vater, ich habe das Gefühl, daß ich zur Bewahrerin berufen bin.“

„Du kannst bei uns Bewahrerin werden, wenn du erwachsen bist“, brummte Damon, „und das ohne die Quälerei, die du dir in Arilinn gefallen lassen mußt.“

„Oh!“ Zornig sprang sie auf und lief im Zimmer auf und ab. „Du bist mein Vater, du willst in mir immer nur das kleine Mädchen sehen! Vater, meinst du, ich weiß nicht, daß unsere Welt ohne die Türme dunkel vor Barbarei wäre? Ich bin noch nicht weit herumgekommen, aber ich bin in Thendara gewesen, und ich habe dort die Raumschiffe der Terraner gesehen, und ich weiß, wir sind nur deshalb ihrem Imperium nicht einverleibt worden, weil die Türme unserer Welt geben, was wir brauchen, mit Hilfe unserer alten Matrix-Wissenschaften. Wenn in den Türmen das Licht ausgeht, fällt Darkover wie eine reife Pflaume den Terranern in die Hände, denn das Volk wird nach der Technik und dem Handel des Imperiums schreien!“

Damon erwiderte ruhig: „Das halte ich nicht für unvermeidlich. Ich hasse die Terraner nicht; mein engster Freund, dein Onkel Ann’dra wurde als Terraner geboren. Aber das ist das Ziel meiner Arbeit: Wenn das Licht im letzten Turm ausgeht, soll unter der Bevölkerung der Domänen genug Laran vorhanden sein, daß Darkover unabhängig ist und nicht bei den Terranern betteln gehen muß. Der Tag wird kommen, Cleindori. Ich sage dir, der Tag wird kommen, an dem jeder Turm in den Domänen leersteht und nur noch Raubvögel darin nisten ...“

„Verwandter!“ protestierte Kennard und machte schnell ein unheilverhütendes Zeichen. „Sag so etwas nicht!“

„Es ist nicht angenehm zu hören“, entgegnete Damon, „aber es ist wahr. Jedes Jahr sind es weniger von unsern Söhnen und Töchtern, die die Begabung und den Willen haben, die Schulung alter Art auf sich zu nehmen und sich den Türmen zu weihen. Leonie klagte mir einmal, sie habe mit sechs jungen Mädchen angefangen, und davon habe nur eine die Ausbildung beenden können; es war die Leronis Hilary, und sie wurde krank und wäre gestorben, wenn man sie nicht aus Arilinn fortgeschickt hätte. Drei der Türme – Janine würde dir das nie erzählen, Cleindori, aber ich, der ich in Arilinn war, weiß es genau – drei der Türme arbeiten mit einem Mechanikerkreis, weil sie keine Bewahrerin haben und eine Frau nach ihren törichten Gesetzen nur dann Bewahrerin werden kann, wenn sie bereit ist, aus sich ein abgesondertes Symbol der Jungfräulichkeit zu machen. Sie behaupten, ihre Kraft und ihr Laran seien nicht so wichtig, wenn sie nur eine jungfräuliche Göttin darstelle, isoliert und mit abergläubischer Ehrfurcht betrachtet. Ich schätze, daß es in den Domänen hundert oder mehr Frauen gibt, die die Arbeit einer Bewahrerin leisten könnten, aber sie sehen nicht ein, warum sie sich einer Ausbildung unterziehen sollen, die aus ihnen Maschinen zur Umwandlung von Energie macht. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Die Türme werden untergehen. Sie müssen untergehen. Und wenn sie verschwunden sind und nur noch ihre Ruinen vom Stolz und Wahnsinn der Comyn künden, dann können Laran und die es verstärkenden Matrix-Steine so eingesetzt werden, wie es ihr ursprünglicher Sinn ist: Für die Wissenschaft, nicht für Zauberei! Für die geistige Gesundheit, nicht für den Wahnsinn! Dafür habe ich mein ganzes Leben gearbeitet, Cleindori.“

„Nicht, um die Türme zu stürzen, Onkel!“ Kennards Stimme klang entsetzt.

„Nein. Dafür nicht. Aber um da zu sein, wenn sie aufgegeben und verlassen sind, damit unsere Laran-Wissenschaften nicht mit den Türmen in Vergessenheit sinken.“

Cleindori stand neben ihm, die Hand leicht auf seine Schulter gelegt. Sie sagte: „Vater, dafür ehre ich dich. Aber deine Arbeit ist zu langsam, denn man nennt dich immer noch einen Gesetzlosen und Renegaten und Schlimmeres. Umso wichtiger ist es, daß junge Leute wie ich und meine Halbschwester Cassilde und Kennard ...“

Erschüttert fragte Damon: „Will Cassilde auch nach Arilinn gehen? Das wird Callista umbringen!“ Denn Cassilde war Callistas eigene Tochter, vier oder fünf Jahre älter als Cleindori.

„Sie ist alt genug, daß sie keine Erlaubnis braucht“, antwortete Cleindori. „Vater, auch wenn einmal der Tag kommt, an dem die Türme nicht mehr benötigt werden, dürfen sie doch in der Zwischenzeit nicht sterben. Und mein Gewissen sagt mir, daß ich Bewahrerin von Arilinn werden muß.“ Sie hob abwehrend die Hand. „Nein, Vater, hör mir zu. Ich weiß, du bist nicht ehrgeizig; du hast die Chance weggeworfen, Kommandant der Garde zu werden. Du hättest der mächtigste Mann in Thendara sein können, aber du verschmähtest es. So bin ich nicht. Wenn mein Laran so stark ist, wie mir die Lady von Arilinn versicherte, möchte ich es zu etwas Nützlichem einsetzen, zu mehr, als den Bauern zu helfen und die Dorfkinder zu unterrichten! Vater, ich möchte Bewahrerin von Arilinn werden!“

„Du möchtest dich selbst in das Gefängnis stecken, aus dem wir Callista um einen so hohen Preis befreit haben.“ Damons Stimme war voller Bitterkeit.

„Das war ihr Leben“, flammte Cleindori auf, „dies ist meins! Aber hör mich an, Vater.“ Wieder kniete sie neben ihm nieder. Der Zorn war aus ihrer Stimme verschwunden, und an seine Stelle war ein tiefer Ernst getreten. „Du hast mir gesagt, und ich habe es selbst gesehen, daß Arilinn die Gesetze macht, nach denen Laran in diesem Land benutzt werden darf. Ausgenommen seid nur ihr wenigen hier, die ihr euch Arilinn widersetzt.“

„In den Hellers oder in Aldaran mag es auch Leute geben, die es anders halten“, bemerkte Damon. „Ich weiß wenig davon.“

„Dann ...“ Cleindori sah zu ihm auf. Ihr rundes Gesicht war sehr ernst. „Stell dir vor, ich gehe nach Arilinn und werde dort nach Arilinns eigenen Gesetzen auf die orthodoxeste Art zur Bewahrerin ausgebildet. Aber wenn ich dann einmal Bewahrerin bin, kann ich diese Gesetze ändern, nicht wahr? Wenn die Bewahrerin von Arilinn die Vorschriften für alle Türme aufstellt, dann, Vater, kann ich sie ändern. Ich kann die Wahrheit verkünden, daß die Regeln von Arilinn grausam und unmenschlich sind – und weil ich Erfolg gehabt habe, kann man mir nicht entgegenhalten, hier spreche nur eine Versagerin oder eine Ausgestoßene gegen das, was sie selbst nicht haben erreichen können. Ich kann diese schrecklichen Gesetze ändern und mit den Regeln von Arilinn Schluß machen. Und wenn die Türme aufhören, Männer und Frauen einem lebenden Tod zu überantworten, dann werden ihnen die jungen Leute unserer Welt zuströmen, und die alten Matrix-Wissenschaften von Darkover werden wiedergeboren werden. Aber wenn es nicht eine Bewahrerin tut – dann werden diese Gesetze niemals geändert werden!“

Damon sah seine Tochter erschüttert an. Es war tatsächlich die einzige Möglichkeit, die grausamen Gesetze Arilinns zu ändern. Eine Bewahrerin von Arilinn mußte selbst ein Dekret erlassen, das für alle Türme bindend war. Er hatte sein Bestes getan, aber er war ein Renegat, ein Ausgestoßener. Von außerhalb der Mauern Arilinns konnte er nicht viel erreichen. Einiges war ihm gelungen – doch niemand wußte besser als er, wie geringfügig es war.

„Vater, es ist mein Schicksal.“ Cleindoris junge Stimme zitterte. „Alles, was Callista gelitten hat, alles, was du gelitten hast, hat vielleicht dem Zweck gedient, daß ich zurückkehre und jene anderen befreie. Jetzt, wo du bewiesen hast, daß sie befreit werden können.“

„Du hast recht“, gab Damon zu. Langsam sagte er: „Die Regeln von Arilinn werden nie umgestürzt werden, solange es nicht die Bewahrerin von Arilinn selbst tut. Aber – oh, Cleindori, nicht du!“ Voller Qual und Verzweiflung riß er seine Tochter an sich. „Nicht du, Liebling!“

Sanft befreite sie sich aus seiner Umarmung, und Damon hatte einen Augenblick lang den Eindruck, sie sei bereits groß, eindrucksvoll, hochmütig, von der fremdartigen Majestät einer Bewahrerin erfüllt, in die karminrote Robe von Arilinn gekleidet. Sie bat: „Vater, lieber Vater, du kannst mir das nicht verbieten; ich bin nur meinem eigenen Gewissen verantwortlich. Wie oft hast du zu uns allen gesagt – schon zu meinem Pflegevater Valdir, der nie müde wird, es mir zu wiederholen –, daß nur das Gewissen die Entscheidung treffen darf? Laß mich dies tun. Laß mich die Arbeit beenden, die du im Verbotenen Turm begonnen hast. Andernfalls wird alles, wenn du stirbst, mit dir sterben. Eine kleine Schar von Renegaten wird mit ihren Häresien unbeachtet verschwinden, und niemand wird ihnen nachweinen. Aber ich kann dein Werk nach Arilinn tragen und über alle Domänen verbreiten. Denn die Bewahrerin von Arilinn macht die Gesetze für alle Türme und alle Domänen. Vater, ich sage dir, es ist mein Schicksal. Ich muß nach Arilinn gehen.“

Damon senkte den Kopf. Er war immer noch nicht einverstanden, aber er war nicht fähig, gegen ihre junge und unschuldige Sicherheit anzukämpfen. Ihm war, als schlössen sich die Mauern von Arilinn bereits um sie. Und so schieden sie, um sich bis zur Stunde ihres Todes nicht wiederzusehen.

Die blutige Sonne

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