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Kapitel 3: Die Fremden

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Drei Runden später entschuldigte Ragan sich. Er sagte, er habe einen Auftrag für das HQ erledigt und müsse darüber Bericht erstatten, bevor er sein Geld bekomme. Als er fort war, blickte Kerwin ungeduldig zu Ellers hinüber, der beim Trinken mit Ragan Schritt gehalten hatte. Auf diese Art hatte er den ersten Abend auf der Welt, deren Bild er seit seiner Kindheit im Herzen trug, nicht verbringen wollen. Er wußte nicht recht, was er wollte – aber bestimmt hatte er sich nicht vorgestellt, daß er die ganze Nacht in einer Raumhafenbar sitzen und sich betrinken würde!

„Hör mal, Ellers ...“

Nur ein leises Schnarchen antwortete ihm. Ellers war an seinem Platz zusammengesunken und völlig hinüber.

Das mollige darkovanische Barmädchen kam mit neuem Wein – Kerwin hatte nicht verfolgt, wie oft sie schon nachgeschenkt hatte – und betrachtete Ellers mit einer professionellen Mischung aus Enttäuschung und Resignation. Nachdem sie Kerwin mit einem schnellen Blick gestreift hatte, übertrug sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Als sie sich vorbeugte, um einzugießen, streifte sie ihn kunstvoll. Ihr loses Gewand war an der Kehle nicht zusammengesteckt, so daß er das Tal zwischen ihren Brüsten sehen konnte, und der vertraute süße Geruch nach Weihrauch hing an ihrem Kleid und ihrem Haar. Tief in Kerwins Innerem begann eine Saite zu schwingen, als er den Duft nach Darkover, nach Frau einsog. Aber er sah nochmals hin und erkannte, daß ihre Augen hart und seicht waren und ihre liebliche Stimme einen scharfen Unterton hatte, als sie säuselte: „Dir gefallen, was du sehen, großer Mann?“

Sie sprach gebrochenes Terra-Standard, nicht den wohlklingenden Stadt-Dialekt. Hinterher wurde sich Kerwin bewußt, daß ihn das am meisten gestört hatte. „Du mögen Lomie, großer Mann? Du kommen mit mir, ich hübsch und warm, du werden sehen …“

Kerwin hatte einen schalen Geschmack im Mund, und das war nicht der Nachgeschmack des Weins. Welcher Himmel und welche Sonne es auch sein mochten, wie man die Welt auch nannte, die Mädchen in den Bars der terranischen Handelsstädte waren überall die gleichen.

„Du kommen? Du kommen ...?“

Ohne recht zu wissen, was er vorhatte, faßte Kerwin den Rand der Tischplatte und wuchtete sich hoch. Hinter ihm fiel krachend die Bank um. Er ragte über das Mädchen empor, musterte sie finster durch das trübe, rauchgeschwängerte Licht, und von seinen Lippen stürzten Worte in einer lange vergessenen Sprache:

„Hebe dich hinweg, du Tochter einer Bergziege, und verberge deine Schande anderswo, nicht indem du bei Männern von Welten liegst, die deine eigene verachten! Wo ist der Stolz der Cahuenga geblieben, Schändliche?”

Das Mädchen keuchte und wich zurück. Krampfhaft raffte sie das Kleid über ihren bloßen Brüsten zusammen. Sie verbeugte sich beinahe bis zum Boden. Sie schluckte, aber eine Zeitlang bewegten sich ihre Lippen nur tonlos. Dann flüsterte sie:

„S’dia shaya ... d’sperdo, vai dom alzuo...“ Weinend entfloh sie. Ihr Schluchzen und der Duft ihres Haars blieben hinter ihr zurück.

Kerwin hielt sich schwankend an der Tischkante fest. Gott, wie man sich doch betrinken kann! Was habe ich da eben für einen Unsinn von mir gegeben?

Er war bestürzt über sein eigenes Verhalten. Was sollte denn das? Das arme Mädchen hatte vor Angst beinahe den Verstand verloren! Er war nicht tugendhafter als der nächstbeste Mann. Welcher puritanische Überrest hatte ihn veranlaßt, in heiligen Zorn zu geraten und sie derartig niederzuschmettern? Er hatte seinen Anteil an den Raumhafenmädchen auf mehr als einer Welt gehabt.

Und welche Sprache hatte er überhaupt gesprochen? Er wußte, es war nicht der Stadtdialekt gewesen, aber was dann? Er konnte sich nicht erinnern, so sehr er sich auch bemühte. Nicht eine Silbe war noch von den Wörtern vorhanden, die plötzlich in seinem Geist aufgetaucht waren, nur die sie begleitende Empfindung war geblieben.

Ellers hatte glücklicherweise während der ganzen Szene geschnarcht. Kerwin konnte sich vorstellen, wie ihn der andere aufgezogen hätte, wäre er wach gewesen. Er dachte: Wir sollten hier lieber verschwinden, solange ich den Weg noch finde – und bevor ich noch etwas Verrücktes anstelle!

Er bückte sich und schüttelte Ellers, aber Ellers brummte nicht einmal. Kerwin erinnerte sich, daß Ellers ebensoviel getrunken hatte wie er und Ragan zusammen. Das tat er in jedem Raumhafen. Kerwin zuckte die Schultern, stellte die Bank wieder auf, die er umgeworfen hatte, hob Ellers Füße hinauf und ging unsicher auf die Tür zu.

Luft. Frische Luft. Das war alles, was er brauchte. Dann sollte er besser in die Terranische Zone zurückgehen. Innerhalb der Raumhafentore wußte er wenigstens, wie er sich zu benehmen hatte. Aber, dachte er verwirrt, ich hatte mir eingebildet, ich wisse mich hier auf Darkover zu benehmen. Was ist in mich gefahren?

Das triefäugige, zornige Auge der Sonne stand niedrig über der Straße. Schatten in tiefem Violett und Indigo hüllten die zusammengedrängten Häuser in eine freundliche Dunkelheit. Jetzt waren Leute auf der Straße, Darkovaner in farbenfreudigen Hemden und Breeches mit schweren gewebten Umhängen oder den allgegenwärtigen importierten Kletterwesten, Frauen, bis zu den Augenbrauen in Pelz eingehüllt, und einmal glitt eine hohe Gestalt vorbei, die unter einer Kapuze und einem seltsam geschnittenen und gefärbten Mantel unsichtbar blieb. Aber es war keine menschliche Gestalt.

In dem Augenblick, als Kerwin stehenblieb und zu dem flammenden Himmel hochblickte, versank die Sonne, und sofort fegte Dunkelheit über den Himmel wie mit großen, weichen Schwingen, die sich falteten und alles Leuchten auslöschten. Das war die plötzlich einbrechende Nacht, die dieser Welt den Namen gegeben hatte. Am Firmament sprang die funkelnde Krone aus großen weißen Sternen hervor, und drei der kleinen, juwelengleichen Monde standen am Himmel, jadegrün, pfauenblau, perlenrosa.

Kerwin starrte mit feuchten Augen nach oben und schämte sich seiner Tränen nicht. Es war also doch keine Illusion, trotz der üblichen Raumhafenbars und der enttäuschenden Straßen. Er war tatsächlich nach Hause zurückgekehrt. Er hatte das plötzliche Verdunkeln des Himmels gesehen, den Glanz der Sternenkrone, die man nach der Legende Hasturs Krone nannte ... Er blieb stehen, bis sich der nächtliche Nebel mit der plötzlichen Abkühlung der Luft sammelte und die Sterne erst ihren Glanz verloren und dann verschwanden.

Langsam ging er weiter. Die ersten dünnen, nebligen Niederschläge fielen. Der hoch in den Himmel ragende Lichtstrahl des Hauptquartiers wies ihm die Richtung, und er bewegte sich widerstrebend darauf zu.

Er dachte an das darkovanische Mädchen in der Bar, das er auf so unerwartete und befremdende Weise zurückgewiesen hatte. Sie war warm und schmiegsam gewesen, und sie war sauber, und was konnte sich ein Mann als Willkommen in der Heimat mehr wünschen? Warum hatte er sie weggeschickt – und noch dazu in dieser Art?

Er fühlte sich merkwürdig unruhig und ziellos. Heimat? Eine Heimat bedeutete mehr als Himmel und Sterne über sich, die einem bekannt waren. Eine Heimat bedeutete Menschen. Er hatte eine Heimat auf der Erde gehabt, wenn es das war, was er sich wünschte. Nein, dachte er nüchtern. Seine Großeltern hatten ihn nie gewollt. Er war nur der zweite Versuch gewesen, einen Jungen nach dem Bild zu gestalten, daß sie sich von einem Sohn machten. Und im Raum? Ellers war vielleicht der engste Freund, den er je gehabt hatte, und was war Johnny Ellers? Ein Raumhafenstreicher, ein Planetenhüpfer. Plötzlich überfiel Kerwin die Sehnsucht nach Wurzeln, nach einem Heim, nach Menschen und einer Welt, die er nie kennengelernt hatte. Die man ihm nie kennenzulernen erlaubt hatte. Ihm kamen die Worte wieder in den Sinn, die er, sich selbst verspottend, zu Ellers gesagt hatte: Ich hatte gehofft, das Amulett werde beweisen, ich sei der lange verloren geglaubte Sohn und Erbe ...

Ja, jetzt erkannte er, daß ihn dieser Traum zurück nach Darkover gelockt hatte, die Phantasterei, er werde einen Ort finden, wohin er gehörte. Warum hätte er sonst die letzte Welt verlassen sollen? Es hatte ihm dort gefallen; er hatte eine Menge Schlägereien, eine Menge Frauen, eine Menge unverbindlicher Kameradschaft, eine Menge lustiger Abenteuer gehabt. Aber die ganze Zeit hatte er den unaufhörlichen Drang verspürt, nach Darkover zurückzukehren. Das hatte ihn veranlaßt, sich, wie er jetzt einsah, die Chance auf eine sichere Laufbahn zu verderben und außerdem jede Hoffnung auf eine Beförderung den Garaus zu machen.

Und würde nun, wo er hier war, wo er die vier Monde und die schnell hereinbrechende Nacht seiner Träume gesehen hatte, alles übrige Enttäuschung sein? Würde er herausfinden, daß seine Mutter auch nur so ein Raumhafenmädchen war wie die eine, die sich ihm heute abend genähert hatte, weil sie zu gern etwas von der reichlichen Heuer eingesackt hätte? Wenn dem so war, bewunderte er den Geschmack seines Vaters nicht. Sein Vater? Er hatte viel über seinen Vater gehört in den sieben Jahren, die er bei seinen Großeltern festgesessen hatte, und danach hatte er sich ein Bild von ihm gemacht, das sich mit dieser Vorstellung nicht ganz vereinbaren ließ. Er nahm an, sein Vater sei ein wählerischer Mensch gewesen. Aber vielleicht war er seiner Großmutter nur so vorgekommen ... Nun, zumindest hatte er für seinen Sohn genug Interesse gehabt, um ihm die Staatsangehörigkeit des Imperiums zu verschaffen.

Wie dem auch sein mochte, er wollte ausführen, wozu er hergekommen war. Er wollte versuchen, seine Mutter aufzuspüren, und aufklären, warum sein Vater ihn im Raumfahrer-Waisenhaus abgesetzt hatte und wie und wo er gestorben war. Und dann? Was dann? Die Frage quälte ihn: Was würde er dann tun?

Den Falken werde ich fliegen lassen, wenn seine Schwingen gewachsen sind, sagte Kerwin zu sich selbst, und fann fiel ihm auf, daß er das darkovanische Sprichwort ausgesprochen hatte, ohne darüber nachzudenken.

Der nächtliche Nebel hatte sich jetzt kondensiert, und dünner, kalter Regen begann zu fallen. Es war tagsüber so warm gewesen, daß Kerwin beinahe vergessen hatte, wie schnell die Tageswärme zu dieser Jahreszeit von Regen, Schneeklatsch und Schnee ausgelöscht wurde. Schon mischten sich kleine Eisnadeln zwischen die Tropfen. Er erschauerte und legte einen Schritt zu.

Irgendwo war er falsch abgebogen. Er hatte erwartet, auf den Platz vor dem Raumhafen hinauszukommen. Nun stand er auf einem offenen Platz, aber es war nicht der richtige. An einer Seite zog sich eine Reihe von kleinen Cafés und Garküchen, Kneipen und Restaurants entlang. Es waren Terraner da, so daß das Gebiet dem Raumhafenpersonal bestimmt nicht verboten war. Kerwin wußte, daß es derartige Orte gab, denn er war sorgfältig darüber instruiert worden. Aber draußen waren Pferde angebunden, so daß die Lokale auch von darkovanischen Gästen besucht wurden. Er spazierte am Rand des Platzes entlang, fand ein Lokal, das angenehm nach darkovanischem Essen roch, und trat auf gut Glück ein. Die Düfte ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Essen – das war es, was er brauchte, gutes, solides Essen, nicht die fade synthetische Nahrung des Sternenschiffs. In dem dämmrigen Licht verschwammen alle Gesichter, und er hielt nach keinem der Männer von der Southern Crown Ausschau.

Kerwin setzte sich an den Ecktisch und bestellte, und als das Essen kam, ließ er es sich schmecken. Nicht weit von ihm entfernt ließen sich zwei Darkovaner, besser gekleidet als die meisten, bei ihrem Essen Zeit. Sie trugen bunte Mäntel, hohe Stiefel und juwelenbesetzte Gürtel, in denen Messer steckten. Einer hatte flammend rotes Haar, und bei diesem Anblick hob Kerwin die Augenbrauen. Die Stadt-Darkovaner waren alle dunkel, und er war als Kind seines eigenen roten Haars wegen neugierig angestarrt worden, wenn er in die Stadt kam. Sein Vater und auch seine Großeltern hatten dunkle Haare und Augen, und er war unter ihnen wie ein Leuchtfeuer aufgefallen. Im Waisenhaus hatten sie ihn Tallo (Kupfer) gerufen, halb im Spott und halb, wie ihm jetzt klar wurde, in einer Art abergläubischer Scheu. Und die darkovanischen Pflegerinnen und Hausmütter hatten soviel Mühe gehabt, den Spitznamen zu unterdrücken, daß es ihn sogar damals schon erstaunt hatte. Irgendwie hatte er den Eindruck gewonnen – obwohl es den darkovanischen Pflegerinnen verboten war, mit den Kindern über den hiesigen Aberglauben zu sprechen –, daß rotes Haar Unglück bedeutete, beziehungsweise tabu war.

Wenn es Unglück bedeutete, wußte der Rotkopf am anderen Tisch das entweder nicht, oder es war ihm gleichgültig.

Auf der Erde war die Erinnerung an diesen Aberglauben allmählich verblaßt, vielleicht, weil rotes Haar dort gar nicht so selten war. Aber es mochte Ragans musternde Blicke erklären. Wenn rotes Haar dermaßen ungewöhnlich war, würde jemand, der in einiger Entfernung einen rothaarigen Mann erblickte, annehmen, er sei ein Bekannter, und überrascht sein, wenn er sich als Fremder herausstellte.

Doch dabei fiel ihm ein, daß Ragans eigenes Haar einen rostroten Schimmer hatte. Vielleicht war er als Kind auch rothaarig gewesen. Wieder dachte Kerwin, der kleine Mann sei ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Er versuchte, sich zu erinnern, ob es im Waisenhaus außer ihm noch andere Rotköpfe gegeben habe. Ganz bestimmt hatte er zwei gekannt, als er sehr klein gewesen war ...

Vielleicht bevor ich in das Waisenhaus kam. Vielleicht war meine Mutter rothaarig oder irgendwelche Verwandten von ihr ...

So sehr er sich bemühte, er konnte die Leere jener frühen Jahre nicht füllen. Da war nur eine Erinnerung an böse Träume ...

Ein Lautsprecher an der Wand rülpste unverschämt, und eine blecherne Stimme forderte: „Achtung, bitte. Das gesamte Raumhafen-Personal: Achtung bitte.“

Kerwin hob die Augenbrauen und sah den Lautsprecher beleidigt an. Er war hier eingetreten, um von derartigen Dingen loszukommen. Offenbar empfanden einige andere Gäste des Restaurants ebenso, denn es wurden ein paar höhnische Geräusche laut.

Die blecherne Stimme fuhr in Terra-Standard fort: „Achtung, bitte. Wer vom HQ-Personal ein Flugzeug auf dem Feld stehen hat, melde sich sofort bei Abteilung B. Jede Genehmigung für den Oberflächenverkehr ist widerrufen, wiederhole: widerrufen. Die Southern Crown wird planmäßig, wiederhole: planmäßig starten. Alle Atmosphären-Flugzeuge auf dem Feld müssen unverzüglich entfernt werden. Ich wiederhole: Wer vom HQ-Personal ein privates Atmosphären-Flugzeug auf dem Feld ...“

Der rothaarige Darkovaner, der Kerwin aufgefallen war, erklärte hörbar und boshaft – und in dem Stadt-Dialekt, den jeder verstand –: „Wie arm diese Terraner sein müssen, daß sie uns alle mit dem quakenden Kasten da oben stören, statt einem Lakaien ein paar Pennies zu bezahlen, damit er ihre Botschaft überbringt.“ Das Wort, das er für „Lakai“ benutzte, war ein besonders beleidigendes.

Ein Raumhafen-Beamter in Uniform, der vorn im Restaurant saß, maß den Sprecher mit einem wütenden Blick. Dann überlegte er es sich anders, rückte seine mit goldenen Litzen geschmückte Mütze auf dem Kopf zurecht und marschierte hinaus in den Regen. Ein Schwall bitterkalter Luft fegte in den Raum – denn er war der erste eines kleinen Exodus gewesen –, und der Darkovaner in Kerwins Nachbarschaft sagte zu seinem Gefährten: „Esa so vhalle Terranan acqualle ...“ und lachte.

Der andere erwiderte etwas noch Verächtlicheres, wobei sein Blick auf Kerwin ruhte, und Kerwin ging auf, daß er der einzige im Raum verbliebene Terraner war. Er merkte, daß er zitterte. Er war immer kindisch empfindlich gegen Beleidigungen gewesen. Auf der Erde war er ein Fremder, ein Schaustück, ein Darkovaner gewesen. Hier auf Darkover fühlte er sich plötzlich als Terraner, und die Geschehnisse des Tages waren nicht geeignet gewesen, seine Reizbarkeit zu dämpfen. Aber er schoß nur einen finsteren Blick hinüber und bemerkte zu dem leeren Tisch zu seiner Linken: „Der Regen kann das Schlammkaninchen nur ertränken, wenn es nicht Verstand genug hat, den Mund geschlossen zu halten.“

Ein anderer Darkovaner schob seine Bank zurück und sprang auf, und dabei warf er seinen Becher um. Das dünne Klappern des metallenen Gefäßes und das Aufheulen des Kellners zogen alle Blicke auf sie, und Kerwin zwängte sich hinter seinem Tisch hervor. Innerlich beobachtete er sich selbst mit Bestürzung. Hatte er vor, zwei Szenen in zwei Bars zu machen, und würde seine wenig feierliche Heimkehr nach Darkover damit enden, daß man ihn wegen Trunkenheit und ungebührlichen Benehmens ins hiesige Gefängnis steckte?

Dann faßte der zweite Mann am Tisch seinen Gefährten beim Ellenbogen und sprach drängend auf ihn ein. Kerwin konnte ihn nicht verstehen. Der Blick des ersten Mannes wanderte langsam aufwärts und blieb an Kerwins Kopf hängen, der jetzt von einer Lampe über ihm deutlich beleuchtet war. Mit einem kleinen Schlucker sagte der Darkovaner: „Ich will keinen Ärger mit Comyn ...“

Zum Teufel, wovon redet er? dachte Kerwin. Der Möchtegern-Raufbold sah seinen Gefährten an, fand bei ihm keine Ermutigung, warf seinen Arm vors Gesicht und murmelte etwas, das sich wie „Su serva, vai dom ...“, anhörte. Er segelte durch das Lokal, umging die Tische wie ein Schlafwandler und stürzte sich hinaus in den Regen.

Sämtliche Gäste, die noch in dem kleinen Restaurant anwesend waren, starrten Kerwin an. Aber ihm gelang es, den Kellner lange genug zu mustern, um ihn zu vertreiben. Er setzte sich und hob seine Tasse – sie enthielt das darkovanische Äquivalent von Kaffee, ein koffeinreiches Getränk, das in etwa wie bittere Schokolade schmeckte – und trank. Es war kalt.

Der gutgekleidete rothaarige Darkovaner stand auf, kam herbei und glitt in den leeren Platz Kerwin gegenüber.

„Zum Teufel, wer sind Sie?“

Zu Jeffs Überraschung sprach er Terra-Standard. Aber er sprach es schlecht und bildete jedes Wort mit Sorgfalt.

Kerwin stellte müde seine Tasse hin.

„Niemand, den Sie kennen, Freund. Wollen Sie nicht gehen?“

„Nein, ich spreche im Ernst“, versicherte der rothaarige Mann. „Wie ist Ihr Name?“

Und nun verlor Kerwin die Geduld. Welches Recht hatte dieser Kerl, sich zu ihm zu setzen und zu verlangen, daß er über sich Rechenschaft ablegte?

„Evil-Eye Fleegle, und ich bin ein sehr alter Gott“, antwortete er. „Und ich spüre jedes Jahrtausend, das auf mir lastet. Verschwinden Sie, oder ich schlage Sie mit dem bösen Blick, wie ich es mit Ihrem Freund gemacht habe.“

Der rothaarige Mann grinste. Es war ein spöttisches, unfreundliches Grinsen. „Er war kein Freund von mir“, erklärte er, „und offensichtlich sind Sie nicht, was Sie scheinen. Sie waren überraschter als alle anderen, als er hinausrannte. Natürlich dachte er, Sie seien einer von uns.“ Er verbesserte sich: „Einer meiner Verwandten.“

Kerwin fragte ironisch: „Was ist das hier, der Tag der alten Heimat? Nein, danke. Ich stamme von einer langen Reihe arkturianischer Eidechsenmenschen ab.“ Er griff nach dem kaffeeähnlichen Getränk und vergrub sein Gesicht in der Tasse. Dabei spürte er den verwirrten Blick des Rothaarigen auf seinem Scheitel. Dann wandte der Mann sich ab und murmelte „Terranan“ in einem Ton, der das einzige Wort zu einer tödlichen Beleidigung machte.

Jetzt, wo es zu spät war, wünschte Kerwin, er habe höflicher geantwortet. Es war heute abend das zweite Mal gewesen, daß jemand ihn für einen seiner Bekannten hielt. Wenn er irgendwem in Thendara sehr ähnlich sah, war das dann nicht das, was er hier hatte herausfinden wollen?

Es drängte ihn, dem Mann nachzugehen und eine Erklärung zu verlangen. Aber er hatte die Chance verpaßt; er würde nur zurückgewiesen werden. Mit einem Gefühl der Frustration warf Kerwin ein paar Münzen auf die Bartheke, griff nach seinem Bündel aus dem Raumhafenladen und trat wieder auf die Straße.

Inzwischen war aus dem Regen ein eisiger Graupelschauer geworden; die Sterne waren nicht mehr zu sehen. Es war dunkel und kalt, und der Wind heulte. Kerwin kämpfte sich voran. Er erschauerte in seiner dünnen Uniformjacke. Warum hatte er nichts Wärmeres mitgenommen, um es nach dem Dunkelwerden anzuziehen? Er wußte doch, wie das Wetter hier des Nachts war! Verdammt – er hatte ein warmes Kleidungsstück. Es mochte ein bißchen merkwürdig aussehen, aber er konnte es überwerfen, bis er aus diesem Wind heraus war. Mit steifen Fingern öffnete er das Bündel und holte den pelzgefütterten, bestickten Mantel heraus. Warum auch nicht? Er legte ihn sich um die Schultern, und das geschmeidige Leder umhüllte ihn mit Wärme wie mit einer Liebkosung.

Kerwin bog in eine Seitenstraße ein. Und da war der offene Platz vor dem Raumhafen! Die Neonlichter des Sky-Harbor-Hotels leuchteten auf der den Toren entgegengesetzten Seite. Er sollte ins HQ gehen und sich ein Quartier anweisen lassen. Er hatte sich nicht gemeldet, er wußte nicht einmal, wo er schlafen sollte. Kerwin schritt auf die Tore zu. Dann ließ ihn ein spontaner Einfall kehrtmachen und zu dem Hotel zurückgehen. Er brauchte einen letzten Schluck und etwas Zeit zum Nachdenken, bevor er sich wieder in die Welt der weißen Wände und gelben Lichter begab. Vielleicht nahm er sich auch für diese Nacht ein Zimmer im Hotel.

Der Portier, der eifrig Eintragungen durchsah, blickte kaum auf.

„Gehen Sie da durch“, sagte er kurz und widmete sich wieder seinem Buch.

Hatte der Zivildienst hier Räume reservieren lassen? Kerwin wollte schon protestieren, doch dann zuckte er die Schultern und trat durch die ihm bezeichnete Tür.

Und blieb stehen, denn er war in einen Saal geraten, der für eine geschlossene Gesellschaft vorbereitet war. Auf einem langen Tisch in der Mitte war eine Art Buffet aufgebaut, und in hohen Kristallvasen standen Blumen. Am hinteren Ende des Raums stand ein großer, rothaariger Mann und sah ihn unschlüssig an – dann merkte Kerwin, daß die schwarze Wand eine Glasscheibe vor der Dunkelheit der Nacht war, die sie zum Spiegel machte. Der Darkovaner mit dem Mantel war er selbst. Er betrachtete sich, als habe er sich nie zuvor gesehen: Ein großer Mann mit vom Regen glatten Haar und einem einsamen und grüblerischen Gesicht. Es war das Gesicht eines Abenteurers, der aus irgendeinem Grund um sein Abenteuer betrogen worden ist. Der Anblick seines eigenen Gesichts über dem darkovanischen Mantel weckte in ihm einen Schwall von – Erinnerungen? Wann hatte er sich selbst schon einmal so gekleidet gesehen? Oder – oder jemand anders?

Ungeduldig runzelte Kerwin die Stirn. Natürlich kam er sich selbst bekannt vor. Was war denn nur los mit ihm? Und das war auch die Lösung; der Portier hatte ihn einfach für einen Darkovaner gehalten, vielleicht für jemanden, den er vom Sehen kannte, und ihn in den reservierten Saal gewiesen. Ebenso war es eine Erklärung für das Verhalten Ragans und des Rothaarigen im Restaurant. Es gab auf Darkover einen Doppelgänger von ihm oder zumindest jemanden, der ihm sehr ähnlich sah, irgendeinen großen Rothaarigen von ungefähr seiner Größe und Farbe, und davon wurden die Leute bei flüchtigem Hinsehen getäuscht.

„Ihr seid früh hier, Com’ii“, sagte eine Stimme hinter ihm, und Kerwin drehte sich um und sah sie.

Im ersten Augenblick hielt er sie für ein terranisches Mädchen, und das wegen der rotgoldenen Locken, die auf ihrem Köpfchen aufgetürmt waren. Sie war schlank und zart, und ihr einfaches Gewand schmiegte sich an zierliche Kurven. Schnell wandte Kerwin seine Augen ab. In aller Öffentlichkeit eine darkovanische Frau anzustarren, war eine Unverschämtheit, für die ein Mann zusammengeschlagen werden konnte, wenn Verwandte der Frau in der Nähe und gewillt waren, Anstoß zu nehmen. Aber sie gab seinen Blick offen zurück und hieß ihn durch ihr Lächeln willkommen. Einen Augenblick lang glaubte er, sein erster Eindruck, sie sei Terranerin, sei trotz ihrer darkovanischen Anrede doch richtig.

„Wie seid Ihr hergekommen? Ich dachte, wir hätten ausgemacht, daß die Turmkreise zusammenbleiben“, sagte sie, und Kerwin starrte sie an. Sein Gesicht wurde heiß, und das nicht vom Feuer. „Ich bitte um Entschuldigung, Domna“, erklärte er in der Sprache seiner Kinderzeit. „Ich wußte nicht, daß dies ein Privatzimmer ist; man hat mich irrtümlich hierher verwiesen. Verzeiht mein Eindringen, ich werde sofort gehen.“

Sie sah ihn an, und ihr Lächeln verblaßte. „Was denkt Ihr Euch eigentlich?“ verlangte sie zu wissen. „Wir haben über vieles zu diskutieren ...“ Sie hielt inne. Dann fragte sie unsicher: „Habe ich einen Fehler gemacht?“

Kerwin erwiderte: „Irgendwer hat einen gemacht, das ist sicher.“ Seine Stimme erstarb bei den letzten Wörtern, weil ihm klar wurde, daß sie sich nicht der Sprache von Thendara bediente, sondern einer anderen, die er nie zuvor gehört hatte. Und trotzdem hatte er sie so gut verstanden, daß es ihm erst jetzt auffiel!

Dem Mädchen blieb der Mund offenstehen. Schließlich fragte sie: „Im Namen des Sohnes von Aldones und seiner göttlichen Mutter, wer seid Ihr?“

Kerwin wollte ihr schon seinen Namen nennen, als ihm der Gedanke kam, daß er ihr unmöglich etwas bedeuten konnte, und der Zornteufel, der sich kurze Zeit ruhig verhalten hatte, weil er mit einer schönen Frau sprach, bemächtigte sich seiner von neuem. Das war heute abend schon das zweite – nein, das dritte Mal. Verdammt noch mal, sein Doppelgänger mußte viel herumkommen, wenn er sowohl in einer Raumhafenkneipe als auch in dem für eine Gesellschaft der darkovanischen Aristokratie reservierten Raum erkannt wurde – denn das Mädchen konnte keiner anderen Klasse angehören.

So ironisch, wie er es nur fertigbrachte, antwortete er: „Erkennt Ihr mich nicht, Lady? Ich bin Euer großer Bruder Bill, das schwarze Schaf der Familie, der mit sechs Jahren davonlief und in den Raum ging, und seitdem bin ich von Raumpiraten auf den Randwelten gefangengehalten worden. Ihr könnt Euch bei der nächsten Amtseinsetzung vergewissern.“

Sie schüttelte verständnislos den Kopf, und er wurde sich bewußt, daß die Sprache und die Ironie wie auch die Anspielungen, die er gemacht hatte, ihr überhaupt nichts sagten. Dann meinte sie in dieser Sprache, die er verstand, wenn er nicht zu gründlich darüber nachdachte: „Aber sicher seid Ihr doch einer von uns, vielleicht aus der Verborgenen Stadt? Wer seid Ihr?“

Kerwin war zu verärgert, um das Spiel weiter fortzusetzen. Beinahe wünschte er, der Mann, für den sie ihn hielt, werde in diesem Augenblick hereinkommen, damit er ihm die Nase einschlagen könne.

„Passen Sie auf, Mädchen, Sie verwechseln mich mit einem anderen. Ich weiß gar nichts über Ihre Verborgene Stadt – sie ist wohl zu gut verborgen. Auf welchem Planeten liegt sie? Sie sind doch keine Darkovanerin?“ Denn ihr Benehmen war ganz bestimmt nicht das einer darkovanischen Frau.

Wenn sie bisher verwirrt gewesen war, so schien sie jetzt vom Donner gerührt zu sein. „Und trotzdem habt Ihr die Sprache von Valeron verstanden? Hört mir zu“, setzte sie von neuem an, und diesmal benutzte sie den Stadt-Dialekt von Thendara. „Ich finde, das müssen wir aufklären. Hier ist etwas sehr merkwürdig. Wo können wir miteinander sprechen?“

„Der beste Ort dafür ist hier“, antwortete Kerwin. „Ich mag eben erst auf Darkover gelandet sein, aber so fremd bin ich hier nicht. Ich bin gar nicht verrückt darauf, daß Eure Verwandten mir einen Mordversuch anhängen, noch bevor ich vierundzwanzig Stunden hier bin, falls Ihr empfindliche männliche Verwandte habt. Falls Ihr Darkovanerin seid.“

Das elfenhafte Gesichtchen verzog sich zu einem verwirrten kleinen Lächeln. „Das kann ich nicht glauben“, sagte sie. „Ihr wißt nicht, wer ich bin, und was schlimmer ist, Ihr wißt nicht, was ich bin. Ich war überzeugt, Ihr kämt von einem der entfernter liegenden Türme, Ihr wäret jemand, den ich noch nie von Angesicht zu Angesicht, sondern nur in den Relais gesehen hatte. Vielleicht jemand von Hali oder Neskaya oder Dalereuth ...“

Kerwin schüttelte den Kopf.

„Ich bin niemand, den ihr kennt, glaubt mir. Ich wünschte, Ihr würdet mir erzählen, für wen Ihr mich haltet. Wer er auch sein mag, ich möchte meinen Doppelgänger in dieser Stadt gern kennenlernen. Das könnte mir einige Fragen beantworten.“

„Das kann ich nicht tun“, sagte sie zögernd, und Kerwin spürte, daß sie jetzt unter dem geöffneten darkovanischen Mantel die terranische Uniform erkannt hatte. „Nein, bitte, geht nicht. Wenn Kennard hier wäre ...“

„Tani, was soll das?“ fiel eine helle, harte Stimme ein, und in der spiegelnden Glasscheibe erblickte Kerwin einen Mann, der auf sie zukam. Er wandte sich dem Neuankömmling zu und fragte sich – so wahnsinnig war die Welt geworden – ob er ein Spiegelbild seiner selbst finden werde. Aber dem war nicht so.

Der Mann war groß und schlank mit heller Haut und dichtem, rotgoldenem Haar. Kerwin verabscheute ihn schon, bevor er in ihm den Rothaarigen erkannte, mit dem er jene kurze und unbefriedigende Begegnung in dem Restaurant gehabt hatte. Der Darkovaner erfaßte sofort, was vorging, und sein Gesicht nahm den Ausdruck entrüsteter Wohlanständigkeit an.

„Ein Fremder hier, und du allein mit ihm, Taniquel?“

„Auster, ich wollte doch nur ...“, protestierte das Mädchen.

„Ein Terranan!“

„Zuerst hielt ich ihn für einen von uns, vielleicht von Dalereuth.“

Der Darkovaner ließ Kerwin einen verächtlichen Blick zukommen. „Er ist ein arkturianischer Eidechsenmensch, jedenfalls hat er mir das gesagt“, höhnte er. Dann sprach er schnell auf das Mädchen ein. Kerwin erkannte, daß es dieselbe Sprache war, die sie benutzt hatte, aber er konnte kein einziges Wort verstehen. Doch das war auch nicht notwendig; Ton und Gesten sagten ihm alles, was er zu wissen brauchte. Der Rothaarige war verdammt wütend.

Eine tiefere, angenehmere Stimme unterbrach ihn. „Komm, komm, Auster, so schlimm kann es doch gar nicht sein. – Taniquel, erzähl mir, um was es hier geht, und halte mich nicht zum besten, Kind.“ Die Stimme gehörte einem weiteren rothaarigen Mann, der eben eingetreten war. Woher kamen sie heute abend nur alle? Dieser hier war ein schwergebauter, stämmiger Mann, groß und stark. Sein rotes Haar hatte graue Streifen, und sein Gesicht war von einem kurzgeschnittenen, ergrauenden Bart umgeben. Seine Augen verschwanden beinahe hinter Brauenwülsten, die man fast schon als Deformierung bezeichnen konnte. Er ging steifbeinig und stützte sich auf einen dicken Spazierstock mit Kupferknauf. Jetzt sah er Kerwin gerade an und sagte: „S’dia shaya; ich bin Kennard, Dritter in Arilinn. Wo ist Eure Bewahrerin?“

Kerwin war sicher, daß er Bewahrerin sagte. Es war ein Wort, das auch mit Wärterin oder Hüterin übersetzt werden konnte.

„Für gewöhnlich läßt man mich ohne Hüterin hinaus“, stellte er trocken fest. „Wenigstens bisher.“

Schnell und spöttisch fiel Auster ein: „Auch du irrst dich, Kennard. Unser Freund ist ein – ein arkturianischer Krokodilmensch, das behauptet er wenigstens. Aber wie alle Terraner lügt er.“

„Terraner!“ rief Kennard aus. „Aber das ist unmöglich!“

Kerwin hatte genug. Er erklärte scharf: „Das ist nicht nur nicht unmöglich, es ist die reine Wahrheit. Ich bin ein Bürger von Terra. Aber ich habe meine ersten Kinderjahre auf Darkover verbracht, und ich habe gelernt, an diese Welt als an meine Heimat zu denken und die Sprache zu sprechen. Wenn ich hier eingedrungen bin oder jemanden beleidigt habe, nehmt meine Bitte um Entschuldigung entgegen. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und wollte den Raum verlassen.

Auster brummte etwas, das sich wie „Kriechendes Rabbithorn!“ anhörte.

Kennard bat: „Wartet!“ Kerwin, bereits halb aus der Tür, blieb bei dem höflichen, überredenden Ton des Mannes stehen. „Wenn Ihr ein paar Minuten Zeit habt, würde ich gern mit Euch sprechen, Sir. Es könnte wichtig sein.“

Kerwin blickte zu dem Mädchen Taniquel hin und hätte beinahe nachgegeben. Aber das Gesicht Austers bestimmte seinen Entschluß. Er wollte keinen Ärger mit dem da. Nicht an seinem ersten Abend auf Darkover. „Ich danke Euch“, antwortete er höflich. „Vielleicht ein anderes Mal. Bitte, verzeiht mein Eindringen in Eure Gesellschaft.“

Auster spuckte einen Mundvoll Wörter aus, und Kennard nahm die Absage mit Würde hin. Er verbeugte sich und sprach eine konventionelle Abschiedsformel. Das Mädchen Taniquel sah ihm ernüchtert und erschrocken nach, und noch einmal zögerte Kerwin. Er sagte sich, er solle bleiben, seine Meinung ändern, um eine Erklärung bitten, die Kennard ihm sicher geben konnte. Aber er war zu weit gegangen, um jetzt noch zurückstecken zu können, ohne sich lächerlich zu machen. Er sagte: „Nochmals gute Nacht“, und die Tür fiel zwischen ihm und den Rotköpfen zu. Mit einem merkwürdigen Gefühl der Niederlage und voll böser Vorahnungen durchquerte er das Foyer. Eine Gruppe von Darkovanern, die meisten in langen, feierlichen Umhängen wie sein eigener – hier kapitulierte man nicht vor billiger importierter Kleidung – kam ihm entgegen und verschwand in dem Raum, den er soeben verlassen hatte. Kerwin bemerkte, daß sich auch unter ihnen einige Rothaarige befanden, und von der Menge im Foyer stieg Gemurmel auf. Wieder schnappte er das Wort Comyn auf.

Ragan hatte das Wort in Zusammenhang mit Kerwins Stein erwähnt: Gut genug für Comyn. Kerwin forschte in seinem Gedächtnis. Das Wort bedeutete nichts weiter als Gleiche – Leute, die im gleichen Rang miteinander standen. Aber in diesem Sinn war das Wort nicht benutzt worden.

Draußen hatte sich der Regen in stechenden Nebel aufgelöst. Ein großer Mann in einem grünen und schwarzen Umhang ging mit hocherhobenem Rotkopf an Kerwin vorbei und sagte: „Schnell hinein, Ihr werdet zu spät kommen“, und betrat das Sky-Harbor-Hotel. Es war schon ein merkwürdiger Ort für ein Familientreffen darkovanischer Aristokraten, aber was wußte er davon? Ein toller Einfall schoß im durch den Kopf. Sollte er in die Gesellschaft hineinplatzen und zu wissen verlangen, ob irgendwer vor etwa dreißig Jahren einen jungen Verwandten verloren habe? Aber er verwarf den Gedanken im gleichen Augenblick mit seinem Auftauchen.

Auf der dunklen Straße war das Pflaster jetzt mit Eis bedeckt, denn der kalte Regen gefror im Fallen. Monde und Sterne waren ausgelöscht. Die Lichter der HQ-Tore brannten gelb. Kerwin wußte, dort würde er Wärme und vertraute Dinge finden, ein Dach über dem Kopf, einen Platz zum Schlafen und sogar Freunde. Ellers war wahrscheinlich aufgewacht, hatte festgestellt, daß Kerwin fort war, und war zum HQ zurückgekehrt.

Aber was würde Kerwin dort finden? Ein ihm zugewiesenes Quartier genau wie das auf seinem letzten Planeten, kalt und unpersönlich und mit dem unvermeidlichen Geruch nach Desinfektionsmitteln; eine Film-Bibliothek, die sorgfältig zensiert war, damit sie nicht zu viele ununterdrückbare Emotionen wachrief; genau die gleichen Mahlzeiten, wie er sie auf jedem anderen Planeten des Terranischen Imperiums bekommen würde, denn die Angestellten, die jeden Augenblick versetzt werden konnten, sollten nicht unter Verdauungsbeschwerden oder Anpassungsproblemen zu leiden haben. Und die Gesellschaft anderer Männer wie er selbst, die auf phantastischen fremden Welten lebten, indem sie ihnen den Rücken kehrten und sich der eintönigen, langweiligen, immer gleichen Welt der Terraner zuwandten.

Sie lebten auf fremden Welten unter fremden Sonnen genauso wie auf Terra – ausgenommen dann, wenn sie hinausgingen und dreinschlugen, und dann suchten sie das, was schlecht an dem fremden Planeten war, nicht das, was schön war. Alkohol, Frauen, die willig, wenn auch nicht allzu anziehend waren, und ein Ort, wo sie ihr überflüssiges Geld ausgeben konnten. Die wirklichen Welten lagen eine Million Meilen außerhalb ihrer Reichweite, und da würden sie immer bleiben. Sie waren ebenso außer Reichweite wie das rothaarige, lächelnde Mädchen, das ihn als Com’ii, als Freund begrüßt hatte.

Noch einmal wandte Kerwin sich von den Toren des HQ ab. Jenseits des Rings aus Raumhafenbars, Touristenfallen, Hurenhäusern und Auslagen mußte irgendwo ein echtes Darkover sein, die Welt, die er als Junge gekannt, die Welt, die ihn in seinen Träumen verfolgt und ihn von seinen neuen Wurzeln auf Terra weggerissen hatte. Aber warum hatte er jene Träume überhaupt gehabt? Woher waren sie gekommen? Bestimmt nicht aus der sauberen, sterilen Welt des Raumfahrer-Waisenhauses!

Langsam, als wate er durch Schlamm, ging er auf die Altstadt zu. Seine Finger zogen die Verschlüsse des darkovanischen Mantels am Hals zusammen. Die auf Terra hergestellten Stiefel hallten laut auf dem Steinpflaster. Für was die Leute ihn auch halten mochten, es konnte nicht schaden, wenn er sich noch ein bißchen umsah. Dies war seine eigene Welt. Hier war er geboren worden. Er war kein naiver terranischer Raumfahrer, der sich außerhalb der Raumhafenquartiere unsicher fühlte. Er kannte die Stadt, das heißt, er hatte sie einmal gekannt, und er beherrschte die Sprache. Natürlich, Terraner sah man in der Altstadt nicht besonders gern. Dann ging er eben nicht als Terraner! War es nicht ein Terraner gewesen, der einmal gesagt hatte: Gebt mir ein Kind, bevor es sieben Jahre alt ist, und jeder, der es danach will, kann es haben. Dieser schroffe alte Heilige hatte die richtige Idee gehabt, und danach war Kerwin Darkovaner und würde immer einer sein, und jetzt war er wieder zu Hause und würde sich nicht weggraulen lassen!

Es waren nicht mehr viele Leute auf der Straße. Ein paar mühten sich in Mänteln und Pelzen mit gesenkten Köpfen gegen den beißenden Wind voran. Ein bibberndes Mädchen, ein unzulängliches Pelzmäntelchen um sich raffend, sandte Kerwin einen hoffnungsvollen Blick zu und murmelte etwas in der alten Sprache der Stadt, die Kerwin gesprochen hatte, bevor er drei Wörter der terranischen Babysprache lallen konnte. (Woher wußte er das?) Und er zögerte, denn sie war schüchtern und hatte eine weiche Stimme und war ganz anders als das Mädchen mit den harten Augen in der Raumhafenbar. Aber dann hob sich ihr Blick zu seinem roten Haar, und sie flüsterte etwas Unverständliches und entfloh.

Eine zwergenhafte Kreatur trippelte vorbei. Die grünen Augen glühten katzenhaft im Dunkeln, aber dahinter stand unzweifelhaft menschliche Intelligenz. Das Wesen schoß Kerwin einen schnellen Blick zu. Kerwin trat schnell beiseite, denn die Kyrri waren merkwürdige Geschöpfe, die sich von elektrischer Energie ernährten und an unvorsichtige Fremde schmerzhafte, wenn auch nicht tödliche, Schocks austeilen konnten, wenn man sie anrempelte.

Kerwin ging bis zum Markt der Altstadt und genoß die unbekannten Geräusche und Düfte. Eine alte Frau verkaufte gebratenen Fisch an einem kleinen Stand. Sie tauchte die Fische in dicken Eierteig ein und dann in eine Schüssel mit klarem grünen Öl. Sie sah hoch, und mit einem Wortschwall in einem zu breiten Dialekt, als daß Kerwin ihn verstanden hätte, reichte sie ihm den frischen Fisch. Kerwin wollte schon den Kopf schütteln, aber der Fisch roch gut, und so suchte er in seiner Börse nach Münzen. Sie sah ihn an, zuckte zusammen und trat zurück, und die Münzen fielen zu Boden. In ihrem Gebabbel tauchte wieder das Wort Comyn auf. Kerwin runzelte die Stirn. Hölle und Teufel! Er schien ein besonderes Talent dafür zu besitzen, heute abend unschuldige Leute halb zu Tode zu ängstigen. Nun, die Stadt war voll von rothaarigen Männern und Frauen, die zu einer Art Familientreffen gekommen waren. Kerwin sagte sich, rotes Haar müsse noch unheilverkündender sein, als er im Waisenhaus gemeint hatte.

Vielleicht lag es an diesem phantastischen Edelmannsmantel, den er trug. Er hätte ihn ja ausgezogen, aber es war zu kalt für seine dünne terranische Uniform. Außerdem nahm er an, daß er in terranischer Kleidung in diesem Teil der Stadt tatsächlich gefährdet war.

Jetzt gestand er es sich ein: Genau diese Art von Betrug hatte er im Sinn gehabt, als er den Mantel kaufte. Aber zu viele Leute gafften ihn an. Kerwin machte kehrt. Am besten ging er auf schnellstem Weg zum HQ zurück.

Rasch schritt er durch die dunklen, verlassenen Straßen. Er hörte Schritte hinter sich – langsame, zielbewußte Schritte. Aber er befahl sich, nicht so argwöhnisch zu sein. Schließlich war er nicht der einzige Mann, der einen triftigen Grund hatte, heute nacht im Regen umherzulaufen! Erst hielten die Schritte gleichen Abstand zu ihm, dann wurden sie schneller, und Kerwin trat beiseite, damit sein Verfolger ihn in der engen Straße überholen konnte.

Das war ein Fehler. Kerwin spürte einen sengenden Schmerz, dann explodierte sein Kopf, und von irgendwoher hörte er eine Stimme seltsame Worte rufen:

Sag dem Sohn des Barbaren, er soll nie mehr auf die Ebenen von Arilinn kommen! Der Verbotene Turm ist zerbrochen, und die Goldene Glocke ist gerächt!

Das ergab keinen Sinn, dachte Kerwin in dem Sekundenbruchteil, bevor sein Kopf auf das Straßenpflaster aufschlug und er nichts mehr wußte.

Die blutige Sonne

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