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Kapitel 1: Der Terraner Vierzig Jahre später

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Es war so.

Du warst eine Raumwaise. Soviel du wußtest, mochtest du auf einem der großen Schiffe geboren worden sein, den Schiffen von Terra, den Sternenschiffen, die in Geschäften des Imperiums die weiten Flüge zwischen den Sternen machten. Du erfuhrst nie, wo du geboren wurdest oder wer deine Eltern gewesen waren. Das erste Heim, das du kanntest, war das Raumfahrer-Waisenhaus, beinahe in Sichtweite des Hafens von Thendara gelegen. Dort lerntest du die Einsamkeit kennen. Davor hatte es irgendwo seltsame Farben und Lichter und verschwommene Bilder von Leuten und Orten gegeben, die im Dunkel verschwanden, wenn du versuchtest, die Erinnerung an sie heraufzubeschwören. Manchmal ließ dich ein Alptraum im Bett hochfahren und vor Entsetzen schreien, bis du ganz wach wurdest und den sauberen, ruhigen Schlafsaal um dich erkanntest.

Die anderen Kinder waren das Treibgut der arroganten, ständig umherreisenden Rasse der Erde, und du warst eins von ihnen und trugst einen ihrer Namen. Aber draußen lag die dunkel-schöne Welt, die du in deinen Träumen gesehen hattest und manchmal noch sahst. Du wußtest irgendwie, daß du anders warst. Du gehörtest zu jener Welt draußen, zu jenem Himmel, jener Sonne, nicht zu der sauberen, weißen, sterilen Welt der Terranischen Handelsstadt.

Du hättest es gewußt, auch wenn sie es dir nicht gesagt hätten, aber sie sagten es dir oft genug. Oh, nicht in Worten, sondern auf hundert kleine, versteckte Arten. Und auf jeden Fall warst du anders als sie, und den Unterschied konntest du bis in die Knochen hinein spüren. Und dann waren da die Träume.

Aber die Träume verblaßten, erst zu Erinnerungen an Träume und dann zu Erinnerungen an die Erinnerungen. Du wußtest nur noch, daß du dich einmal an etwas anderes als das hier erinnert hattest.

Du lerntest, keine Fragen nach deinen Eltern zu stellen, aber du hattest deine Vermutungen. Und sobald du alt genug warst, um den Andruck in einem Raumschiff zu ertragen, das mit Interstellar-Antrieb von einem Planeten abhob, stach man deinen Arm voller Nadeln und trug dich wie ein Gepäckstück an Bord eines der großen Schiffe.

Er kommt nach Hause, hatten die anderen Jungen halb neidisch, halb ängstlich gesagt. Nur du hattest es besser gewußt; man schickte dich ins Exil. Und als du mit Übelkeit und Kopfschmerzen und dem Gefühl, jemand habe ein großes Stück aus deinem Leben herausgeschnitten, aufwachtest, setzte das Schiff zur Landung auf einer Welt namens Terra an, und ein ältliches Paar wartete auf den Enkel, den es nie gesehen hatte.

Sie sagten, du seist zwölf oder so. Sie nannten dich Jefferson Andrew Kerwin junior. So hatte man dich auch im Raumfahrer-Waisenhaus genannt, und du erhobst keinen Einspruch. Ihre Haut war brauner als deine, und ihre Augen – „Tieraugen“ hätten deine darkovanischen Kinderfrauen sie genannt – waren dunkel. Aber sie waren unter einer anderen Sonne aufgewachsen, und du wußtest bereits über die Eigenschaften des Lichts Bescheid. Hattest du doch die hellen Lichter innerhalb der Terranischen Zone gesehen und erinnertest dich daran, wie sie deinen Augen wehtaten. So warst du zu glauben bereit, diese seltsamen, dunklen alten Leute seien die Eltern deines Vaters. Sie zeigten dir das Bild eines Jefferson Andrew Kerwin, als er ungefähr in deinem Alter – dreizehn – gewesen war, ein paar Jahre, bevor er davonlief und Stauer auf einem der großen Schiffe wurde. Das war lange her. Sie gaben dir sein Zimmer zum Schlafen und schickten dich auf seine Schule. Sie waren freundlich zu dir, und nicht öfter als zweimal die Woche erinnerten sie dich mit einem Wort oder einem Blick daran, daß du nicht der Sohn warst, den sie verloren hatten, der Sohn, der sie um der Sterne willen im Stich ließ.

Und sie stellten auch nie Fragen über deine Mutter. Sie konnten es nicht. Sie wußten nichts und wollten nichts wissen und, was mehr war, es war ihnen gleichgültig. Du warst Jefferson Andrew Kerwin von der Erde, und mehr verlangten sie nicht.

Wenn es geschehen wäre, als du noch jünger warst, hätte es genug sein mögen. Du hungertest danach, irgendwohin zu gehören, und die sehnsüchtige Liebe dieser alten Leute, die dich brauchten, damit du ihr verlorener Sohn seist, hätte dich vielleicht für die Erde erobert.

Aber der Himmel der Erde war ein kaltes, brennendes Blau, und die Berge zeigten ein kaltes, unfreundliches Grün. Die hellflammende Sonne tat deinen Augen weh, sogar hinter dunklen Gläsern, und die Gläser ließen die Leute denken, du versuchtest, dich vor ihnen zu verstecken. Du beherrschtest die Sprache perfekt – dafür hatten sie natürlich im Waisenhaus gesorgt. Du konntest als Terraner durchgehen. Du vermißtest die Kälte und die Winde, die aus dem Paß hinter der Stadt herabfegten, und die fernen Umrisse der hohen, gesplitterten Bergzähne. Du vermißtest die staubige Vergangenheit des Himmels und das niedrige, tiefrote, glühende Auge der Sonne. Deine Großeltern mochten es nicht, daß du an Darkover dachtest oder über Darkover sprachst, und einmal, als du dein Taschengeld gespart und eine Bilderserie gekauft hattest – sie war auf den Randplaneten aufgenommen worden, und einer davon hatte eine Sonne wie die daheim auf Darkover – nahmen sie dir die Bilder weg. Du gehörtest hierher, auf die Erde. Jedenfalls sagten sie dir das.

Aber du wußtest es besser. Und sobald du alt genug warst, gingst du fort. Du wußtest, daß du ihnen von neuem das Herz brachst, und in einer Beziehung war es nicht recht, weil sie freundlich zu dir gewesen waren, so freundlich, wie sie es verstanden. Aber du gingst davon; du mußtest. Denn auch wenn sie es nicht wußten, du wußtest es, daß Jeff Kerwin junior nicht der Junge war, den sie liebten. Wahrscheinlich war auch der erste Jeff Kerwin, dein Vater, nicht dieser Junge gewesen, und das war der Grund, warum er davongegangen war. Sie liebten etwas, das sie sich selbst ausgedacht hatten und ihren Sohn nannten, und vielleicht, dachtest du, würden sie mit Erinnerungen und ohne einen wirklichen Jungen, der das Bild des vollkommenen Sohns störte, sogar glücklicher sein.

Für den Anfang war es ein Job im Raumdienst auf der Erde. Du arbeitetest schwer und hieltest den Mund, wenn der arrogante Terranan zu deiner Höhe emporstarrte oder versteckte Anspielungen auf den Akzent machte, den du nie ganz verloren hattest. Und dann kam der Tag, an dem du an Bord eins der großen Schiffe gingst, diesmal wach und freiwillig. Du hattest untergeordnete Posten im Zivildienst des Imperiums inne und reistest zu Sternen, die Namen auf der Appell-Liste deiner Träume waren. Und du sahst die verhaßte Sonne der Erde zu einem trüben Stern zusammenschrumpfen und in der Weite des großen Dunkels verlorengehen, und du warst unterwegs, um den ersten Schritt zur Verwirklichung deines Traums zu tun.

Es war nicht Darkover. Noch nicht. Aber eine Welt mit einer roten Sonne, die deinen Augen nicht wehtat. Du kamst deinen untergeordneten Pflichten auf einer Welt voll übler Gerüche und elektrischer Stürme nach, wo Albino-Frauen hinter hohen Mauern eingeschlossen waren und du nie ein Kind sahst. Und nach einem Jahr auf dieser Welt gab es eine gute Stellung auf einer Welt, wo die Männer Messer trugen und die Frauen Glöckchen in ihren Ohren hatten, die beim Gehen verlockend klingelten. Dort hatte es dir gefallen. Du hattest viele Schlägereien und viele Frauen. Hinter dem ruhigen Zivildienstangestellten verbarg sich ein Raufbold, und auf jener Welt brach er hin und wieder aus. Du hattest viel Spaß. Es war auf jener Welt, daß du anfingst, ein Messer zu tragen. Irgendwie schien dir das richtig zu sein; du kamst dir vollständiger vor, als du es anschnalltest, als seist du bis jetzt halb angezogen herumgelaufen. Du sprachst darüber mit dem Psychologen deiner Dienststelle und hörtest dir seinen Vortrag über versteckte Furcht vor sexueller Unzulänglichkeit, Kompensation mit Phallus-Symbolen und dem Zwang, Stärke zu demonstrieren, an. Du hörtest ihm ruhig und ohne Kommentar zu und ließt alles an dir abgleiten, weil du es besser wußtest. Er stellte eine bezeichnende Frage.

„Sie sind auf Cottman Vier aufgewachsen, nicht wahr, Kerwin?“

„In dem dortigen Raumfahrer-Waisenhaus.“

„Ist das nicht eine der Welten, wo erwachsene Männer ständig ein Schwert tragen? Zugegeben, ich bin kein vergleichender Anthropologe, aber wenn Sie Männer gesehen haben, die zu jeder Zeit ein Schwert trugen ...“

Du stimmtest zu, das sei es wahrscheinlich, und sagtest nichts mehr. Aber das Messer trugst du weiter, zumindest wenn du dienstfrei warst, und ein- oder zweimal hattest du Gelegenheit, es zu benutzen, und du bewiesest in aller Stille und zu deiner eigenen Befriedigung, daß du in einem Kampf deinen Mann stehen konntest, wenn es sein mußte.

Es war eine schöne Zeit dort. Du hättest bleiben und glücklich sein können. Aber ein Zwang, eine Unruhe trieb dich weiter, und als der Legat starb und der neue seine eigenen Leute mitbringen wollte, warst du bereit zu gehen.

Inzwischen waren die Lehrjahre vorbei. Bisher warst du dahin gegangen, wohin man dich schickte. Jetzt konntest du innerhalb bestimmter Grenzen sagen, wohin du gehen wolltest. Und du zögertest keinen Augenblick.

„Darkover.“ Und korrigiertest dich: „Cottman Vier.“

Der Mann im Personalbüro starrte dich lange an. „Gott im Himmel, warum kann sich irgendwer wünschen, dorthin zu gehen?“

„Ist nichts frei?“ Jetzt hattest du dich schon halb und halb damit abgefunden, daß du den Traum sterben lassen mußtest.

„Oh, Teufel, doch! Wir bekommen nie Freiwillige für dort. Wissen Sie, wie es da ist? Kalt wie die Sünde, unter anderem, und barbarisch – große Teile der Welt sind für Erdenmenschen gesperrt, und außerhalb der Handelsstadt können Sie keinen Schritt ohne Gefahr tun. Ich bin selbst nie dort gewesen, aber wie ich höre, herrscht da immer Aufruhr. Davon abgesehen gibt es so gut wie keinen Verkehr mit den Darkovanern.“

„Nicht? Der Raumhafen von Thendara ist einer der größten des Raumdienstes, habe ich gehört.“

„Das stimmt.“ Der Mann erklärte düster: „Cottmann Vier liegt zwischen dem oberen und dem unteren Spiralarm der Galaxis. Deshalb müssen wir soviel Leute dort stationieren, daß ein größerer Transithafen bemannt werden kann. Thendara ist einer der wichtigsten Knotenpunkte für den Passagier- und Frachtverkehr. Aber es ist die Hölle; Sie bleiben vielleicht, wenn Sie die Welt längst satt haben, noch jahrelang dort kleben, bis man einen Ersatzmann für Sie gefunden hat. Sehen Sie mal“, setzte er überredend hinzu, „Sie sind ein viel zu tüchtiger Mann, als daß Sie sich da draußen wegwerfen dürften. Rigel 9 schreit nach guten Leuten, und dort könnten Sie wirklich vorankommen – sich vielleicht zum Konsul oder sogar zum Legaten hocharbeiten, wenn Sie gern in den diplomatischen Dienst überwechseln möchten. Warum wollen Sie sich auf einem halb gefrorenen Felsklumpen am Rand des Nirgendwo verschwenden?“

Du hättest dich auf deine Erfahrungen verlassen sollen, aber in diesem Augenblick glaubtest du, er wolle es wirklich wissen; deshalb sagtest du es ihm.

„Ich bin auf Darkover geboren.“

„Oh. Einer von denen. Ich verstehe.“ Du sahst, wie sich sein Gesicht veränderte, und du hättest das Grinsen von diesem rosa Gesicht gern weggefegt. Aber du tatest es nicht. Du standest nur da und sahst, wie er deinen Versetzungsantrag stempelte, und du sagtest dir, wenn du jemals die Absicht gehabt hättest, in die Diplomatie überzuwechseln, oder die Hoffnung, dich zum Legaten hochzuarbeiten, dann hätte das, was er auf deine Karte stempelte, gerade Absicht und Hoffnung getötet. Aber das interessierte dich nicht. Und dann war da wieder ein großes Schiff, und wachsende Aufregung ergriff dich, so daß du ständig in der Beobachtungskuppel herumspuktest und nach einer roten Kohle im Himmel Ausschau hieltest, die endlich zu der Glut in deinen Träumen anwuchs. Und dann, nach einer endlos scheinenden Zeit, fiel das Schiff träge auf einen großen roten Planeten zu, der ein Halsband aus vier winzigen Monden trug, Edelsteine im Gehänge eines karmesinroten Himmels.

Und du warst wieder zu Hause.

Die blutige Sonne

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