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Kapitel 2: Die Matrix

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Die Southern Crown landete genau mittags auf der Tagseite. Jeff Kerwin schwang sich geschickt von den engen Stahlsprossen der Luftschleusenleiter auf den Boden und holte tief Atem. Er hatte gemeint, schon die Luft müsse etwas enthalten, das schön und anders und vertraut und seltsam war.

Doch es war bloß Luft. Sie roch gut, aber nach Wochen in der Konservenluft eines Raumschiffes würde jede Luft gut riechen. Er sog sie noch einmal ein und suchte in den ihm entschlüpfenden Erinnerungen nach einem Hinweis auf die Zusammensetzung. Sie war kalt und schneidend und enthielt Spuren von Pollen und Staub und vor allem den unpersönlichen Chemikaliengestank jedes Raumhafens. Heißer Teer. Zementstaub. Der stechende Ozon flüssigen Sauerstoffs, der aus undichten Ventilen dampfte.

Ich könnte ebensogut wieder auf der Erde sein! Ein Raumhafen wie jeder andere!

Na und? Er befahl sich barsch, zurück auf den Boden der Wirklichkeit zu kommen. Du hast in deinen Gedanken aus deiner Rückkehr nach Darkover eine so große Sache gemacht, daß du immer noch enttäuscht wärst, käme die ganze Stadt mit Paraden und Fanfaren zu deinem Empfang!

Er trat zurück und wich einer Gruppe von Raumpolizisten aus, alle groß, in schwarzes Leder und Stiefel gekleidet, mit Blastern, die ihre Gefährlichkeit hinter eleganten Holstern verbargen. Sterne flammten auf den Ärmeln. Die Sonne war erst ein kleines Stück von ihrem höchsten Stand herabgesunken. Riesig, rot-orange leuchtete sie durch zerfetzte, feurige Wölkchen, die hoch am dünnen Himmel hingen. Die sägezahnförmigen Berge hinter dem Raumhafen warfen ihren Schatten über die Handelsstadt, aber die Gipfel badeten sich in dem gedämpften Licht. Die Erinnerung suchte nach Landmarken entlang der Bergkette. Die Augen auf den Horizont gerichtet, stolperte Kerwin über einen Frachtballen, und eine Stimme fragte gutmütig: „Suchst du die Sterne, Rotkopf?“

Mit einem beinahe körperlichen Ruck brachte sich Kerwin zurück auf den Raumhafen. „Ich habe für eine Weile genug Sterne gesehen“, antwortete er. „Ich dachte gerade, daß die Luft gut riecht.“

Der Mann neben ihm grinste. „Das ist wenigstens ein Trost. Ich war einmal auf eine Welt abkommandiert, wo die Luft mit Schwefel gesättigt war. Großartig für die Gesundheit, behaupteten die Mediziner, aber ich hatte immer das Gefühl, es hätte mich jemand mit einer ganzen Kiste fauler Eier beworfen.“

Er trat zu Kerwin auf den betonierten Streifen. „Wie ist das – wieder zu Hause zu sein?“

„Das weiß ich noch nicht.“ Kerwin sah den anderen mit so etwas wie Zuneigung an. Johnny Ellers war klein und untersetzt und wurde oben kahl, ein zäher kleiner Mann im schwarzen Leder des professionellen Raumfahrers. Zwei Dutzend Sterne flammten farbenprächtig auf seinem Ärmel – ein Stern für jede Welt, wo er Dienst getan hatte. Kerwin, erst ein Zwei-Sterne-Mann, hatte Ellers als eine Quelle der Information über beinahe jeden Planeten und jedes Thema unter der Sonne – unter jeder Sonne – kennengelernt.

„Wir sollten uns besser auf den Weg machen“, meinte Ellers. Die Wartungsmannschaft schwärmte bereits über das Schiff und bereitete es für den in wenigen Stunden vorgesehenen neuen Start vor. Günstige Umlaufbahnen warteten nicht auf den Menschen. Der Raumhafen war vollgestopft mit Lastern, Arbeitern, brummenden Maschinen, Treibstoff-Tankwagen, und in fünfzig Sprachen und Dialekten wurden Anweisungen gebrüllt. Kerwin hielt Umschau und fand sich allmählich wieder zurecht. Jenseits der Raumhafentore lagen die Handelsstadt, die Gebäude des terranischen Hauptquartiers – und Darkover. Am liebsten wäre er gerannt, aber er nahm sich zusammen und stellte sich mit Ellers in der sich bildenden Schlange an, um Identität und Zweck des Besuchs feststellen zu lassen. Er gab seine Fingerabdrücke ab, unterschrieb eine Karte, die bestätigte, er sei der, der zu sein er angebe, erhielt einen Personalausweis und ging weiter.

„Wohin?“ fragte Ellers, der sich ihm wieder angeschlossen hatte.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Kerwin langsam. „Ich sollte mich wohl beim HQ zum Dienst melden.“ Über diesen Augenblick hinaus hatte er keine festen Pläne, und er war sich nicht sicher, ob es ihm recht war, daß Ellers bei ihm blieb und die Führung übernahm. So gern er Ellers mochte, er hätte es vorgezogen, seine Bekanntschaft mit Darkover allein zu erneuern.

Ellers lachte. „Teufel, du wirst dich doch nicht auf der Stelle zum Dienst melden wollen! Du bist doch kein Greenhorn mehr, das mit großen Augen seinen ersten fremden Planeten betrachtet! Morgen ist es noch früh genug für den Amtsschimmel. Heute abend ...“ Mit einer schwungvollen Geste wies er auf die Raumhafentore. „Wein, Weib und Gesang – nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.“

Kerwin zögerte, und Ellers drängte: „Komm schon! Ich kenne die Handelsstadt wie meinen Handrücken. Du mußt dich ausstatten – und ich kenne alle Läden. Wenn du in den Touristenfallen einkaufst, hast du im Nu sechs Monatsgehälter ausgegeben!“

Das stimmte. Die großen Schiffe mußten immer noch zu sehr auf das Gewicht achten, als daß sie die Mitnahme von Kleidung und persönlichem Besitz hätten gestatten können. Es kam billiger, bei einer Versetzung alles loszuschlagen und sich nach der Landung neu einzudecken, als die Frachtgebühren zu bezahlen. Jeder Raumhafen im Terranischen Imperium war von einem Ring aus Läden umgeben, guten, schlechten und mittelmäßigen, von Luxus-Modezentren bis hinunter zu Altkleiderhändlern.

„Und außerdem weiß ich, wo etwas los ist. Du hast nicht gelebt, bis du den darkovanischen Firi probiert hast. Weißt du, hinten in den Bergen erzählen sie ein paar komische Geschichten über den Stoff, besonders über seine Wirkung auf Frauen. Ich erinnere mich, daß ich einmal ...“

Kerwin ließ Ellers vorangehen und hörte mit halbem Ohr auf die Geschichte des kleinen Mannes, die bereits eine ihm wohlbekannte Wendung zu nehmen begann. Wenn man Ellers reden hörte, hatte er so viele Frauen auf so vielen Welten gehabt, daß Kerwin sich manchmal leise wunderte, wie er dazwischen die Zeit gefunden hatte, in den Raum zu gelangen. Die Heldinnen seiner Geschichten füllten die ganze Skala von einer sirianischen Vogelfrau mit großen blauen Schwingen und einem Daunenmantel bis zu einer Prinzessin von Arkturus IV im Kreis ihrer Mädchen, die mit Streifen lebenden Pseudofleisches bis zum Tag ihres Todes an sie gefesselt waren.

Die Raumhafentore öffneten sich auf einen großen Platz, in dessen Mitte sich ein Denkmal auf einem hohen Sockel und ein kleiner Park mit Bäumen befanden. Kerwin sah sich die Bäume an, deren violette Blätter im Wind zitterten, und schluckte.

Früher hatte er die Handelsstadt recht gut gekannt. Sie war seitdem gewachsen – und zusammengeschrumpft. Der hochragende Wolkenkratzer des Terranischen Hauptquartiers, damals ehrfurchterregend, war jetzt nur noch ein hohes Gebäude. Der Ring der Läden um den Platz war breiter geworden. Kerwin erinnerte sich nicht, als Kind das massige Sky-Harbor-Hotel mit seiner Neonfassade gesehen zu haben. Er seufzte und versuchte, die Erinnerungen auszusortieren.

Sie überquerten den Platz und bogen in eine Straße ein. Sie war mit behauenen Steinblöcken von so gewaltiger Größe gepflastert, daß Kerwin sich mit aller Phantasie nicht vorstellen konnte, wer oder was diese gewaltigen Platten gelegt hatte. Die Straße lag still und leer da. Kerwin nahm an, der Großteil der terranischen Bevölkerung sei gegangen, sich die Landung des Sternenschiffs anzusehen, und zu dieser Stunde würden nur wenige Darkovaner auf der Straße sein. Die richtige Stadt war immer noch außer Sicht, außer Hörweite – außer Reichweite. Wieder seufzte er und folgte Ellers zu der Reihe der Raumhafenläden.

„Hier können wir eine anständige Ausstattung bekommen.“

Es war ein darkovanischer Laden, was bedeutete, daß er bis auf die Hälfte der Straße überquoll. Es gab keine klare Grenze zwischen draußen und drinnen, zwischen der zum Verkauf stehenden Ware und dem Eigentum des Besitzers. Aber man hatte den Bräuchen der fremden Terraner das Zugeständnis gemacht, daß einige der Artikel auf Ständern und Tischen zur Schau gestellt waren. Als Kerwin unter dem äußeren Bogen hindurchging, weiteten sich seine Nasenlöcher. Er hatte einen bekannten Duft wahrgenommen, einen Hauch wohlriechenden Rauchs. Das war der Weihrauch, der jedes darkovanische Heim von der Hütte bis zum Palast parfümierte. Er war im Waisenhaus der Handelsstadt nicht benutzt worden, nicht offiziell, aber die meisten Pflegerinnen und Hausmütter waren Darkovanerinnen, und der Geruch saß in ihren Haaren und ihrer Kleidung fest. Ellers krauste die Nase und machte „Puh!“, aber Kerwin lächelte. Es war das erste, was er in einer ihm fremd gewordenen Welt wiedererkannt hatte.

Der Ladenbesitzer, ein kleiner, verschrumpelter Mann in einem gelben Hemd und Breeches, wandte sich ihnen zu und murmelte gedankenlos: „S’dia Shaya.“ Es bedeutete: Ihr erweist mir Gnade, und ohne darüber nachzudenken, antwortete Kerwin mit einer ebenso bedeutungslosen höflichen Formel. Ellers machte große Augen.

„Ich wußte nicht, daß du die Sprache beherrschst!“

„Ich spreche nur den Stadtdialekt.“ Der kleine Mann drehte sich zu einem Ständer mit farbenfreudigen Mänteln, Wämsen, seidenen Westen und Jacken um, und Kerwin, entgeistert über sich selbst, verlangte kurz auf Terra-Standard: „Nichts dergleichen. Kleidung für Terranan, Bursche.“

Er konzentrierte sich darauf, Kleidung auszusuchen, daß er ein paarmal zum Wechseln hatte – Unterwäsche, Nachtzeug, nur soviel, daß er ein paar Tage damit auskam, bis er festgestellt hatte, was für seine Arbeit und das Klima am geeignetsten war. Da waren furchtbar schwere Parkas, bestimmt für Touren in den Kletter-Reservaten von Rigel und Capella Neun, gefüttert mit synthetischen Fasern, die die Bewahrung der Körperwärme bei minus dreißig Grad und noch darunter garantierten. Achselzuckend lehnte Kerwin sie ab, obwohl der zitternde Ellers bereits einen gekauft hatte und ihn anzog. So kalt war es nicht einmal in den Hellers, und hier in Thendara schien ihm das Wetter für Hemdsärmel geeignet zu sein. Mit gedämpfter Stimme warnte er Ellers davor, Rasierzeug zu kaufen.

„Teufel, Kerwin, willst du dir einen Bart wachsen lassen und dich unter die Eingeborenen mischen?“

„Nein, aber du bekommst etwas Besseres an den Buden innerhalb des HQ. Darkover ist arm an Metallen, und was sie haben, ist nicht so gut wie unseres und kostet eine Menge mehr.“

Während der Ladenbesitzer ihre Einkäufe verpackte, schlenderte Ellers zu einem Tisch nahe dem Eingang.

„Was ist denn das, Kerwin? Ich habe noch nie jemanden auf Darkover gesehen, der so etwas anhatte. Ist es ein darkovanisches Eingeborenen-Kostüm?“

Kerwin zuckte zusammen. Darkovanisches Eingeborenen-Kostüm war ebenso wie die darkovanische Sprache ein Konzept, das es nur in den Vereinfachungen der Außenseiter aus dem Imperium gab. Er selbst wußte von neun darkovanischen Sprachen – allerdings konnte er nur eine gut sprechen und kannte ein paar Ausdrücke aus zwei anderen –, und in der Kleidung gab es auf Darkover gewaltige Unterschiede, von den Seiden und feingesponnenen Tuchen der Tieflande bis zu dem groben Leder und den ungefärbten Fellen der fernen Berge. Er trat zu seinem Freund an den Tisch, auf dem ein Durcheinander von Kleidungsstücken lag, alle mehr oder weniger abgetragen, hauptsächlich die üblichen einfachen Hosen und Hemden der Stadt. Doch Kerwin sah sofort, was Ellers Augen auf sich gelenkt hatte. Es war ein sehr schönes Stück, grüne und dunkelgelbe Töne gingen ineinander über, und es war in Mustern, die ihm bekannt vorkamen, reich bestickt. Er hielt das Kleidungsstück hoch und sah, daß es ein langer Kapuzenmantel war.

„Das ist ein Reitmantel“, erklärte er. „Man trägt sie in den Kilghardbergen, und der Stickerei nach hat er wahrscheinlich einem Edelmann gehört. Das könnten seine Hausfarben sein, obwohl ich nicht weiß, was sie bedeuten oder wie das Ding hierhergekommen ist. Die Mäntel halten warm und sind besonders beim Reiten bequem. Aber schon, als ich noch ein Kind war, kamen Mäntel dieser Art hier unten in der Stadt aus der Mode; solches Zeug ...“ – er wies auf den importierten Synthetik-Parka, den Ellers trug – „... war billiger und ebenso warm. Diese Mäntel sind handgefertigt, handgefärbt, handbestickt.“ Er nahm Ellers den Mantel ab. Es war kein gewebtes Tuch, sondern weiches, geschmeidiges Leder, fein wie Wolle, dehnbar wie Seide und mit metallischen Fäden reich bestickt. Eine ganze Farbenpracht quoll ihm über den Arm.

„Sieht aus, als wäre er für einen Fürsten gemacht worden“, bemerkte Ellers leise. „Sieh dir diesen Pelz an! Von welchem Tier stammt denn der?“

Der Ladenbesitzer roch Kunden und stürzte sich in eine wortreiche Anpreisung der Kostbarkeit des Pelzes, aber Kerwin lachte und schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.

„Rabbithorn“, sagte er. „Das sind Tiere, die wie Schafe gehalten werden. Wenn es Pelz von einem wilden Marl wäre, dann wäre das bestimmt ein Mantel für einen Fürsten. Doch ich vermute, er war Eigentum irgendeines armen Kavaliers, der zum Haushalt eines Adligen gehört – und er muß eine begabte und fleißige Frau oder Tochter haben, die ein Jahr daran gesessen hat, den Mantel für ihn zu besticken.“

„Aber die Stickereien, edle Herren, die Muster, geeignet für Comyn, die Schönheit des gefärbten Leders ...“

„Eins ist er, nämlich warm“, stellte Kerwin fest und legte sich den Mantel über die Schultern. Er fühlte sich sehr weich und angenehm an. Ellers trat zurück und betrachtete ihn verblüfft.

„Guter Gott, bist du bereits zum Eingeborenen geworden? Du wirst in dem Ding doch nicht in der Terranischen Zone herumlaufen, wie?“

Kerwin lachte herzlich. „Ich glaube nicht. Aber ich könnte es abends in meinem Zimmer tragen. Wenn die Junggesellenquartiere im HQ denen auf meinem letzten Planeten gleichen, wird dort mit der Heizung verdammt geknausert, falls man nicht die doppelte Gebühr für Energieverbrauch zahlt. Und es wird hier im Winter auch ziemlich kalt. Natürlich ist es jetzt noch schön warm ...“

Ellers erschauerte und stellte düster fest: „Wenn das warm ist, hoffe ich, am anderen Ende der Galaxis zu sein, sobald es kalt wird! Mann, deine Knochen müssen aus einem mir unbekannten Stoff gemacht sein. Es friert! Na ja, des einen Planet ist des anderen Hölle“, zitierte er ein Sprichwort des Raumdienstes. „Aber, Mann, du wirst doch nicht ein Monatsgehalt für das verdammte Ding ausgeben wollen?“

„Nicht, wenn es sich vermeiden läßt“, antwortete Kerwin aus einem Mundwinkel. „Doch wenn du deinen Mund nicht hältst und mich mit ihm handeln läßt, muß ich es vielleicht!“

Am Ende bezahlte er mehr, als er erwartet hatte, und als er nachrechnete, nannte er sich einen Trottel. Aber er wollte das Ding haben, aus keinem Grund, den er hätte erklären können. Es war das erste, was ihm seit seiner Rückkehr nach Darkover gefallen hatte. Er wollte es, und schließlich bekam er es zu einem Preis, den er sich gerade noch leisten konnte. Gegen Ende des Handels hatte er den Eindruck, aus irgendeinem Grund bereite es dem Ladenbesitzer Unbehagen, mit ihm zu feilschen, und so trennte er sich eher von dem Stück, als Kerwin erwartet hatte. Er wußte, wenn auch Ellers es nicht tat, daß er den Mantel für etwas weniger als seinen tatsächlichen Wert erhalten hatte. Für beträchtlich weniger, um die Wahrheit zu sagen.

„Mit dem Geld hättest du dich ein halbes Jahr nach Herzenslust betrinken können“, stellte Ellers traurig fest, als sie wieder auf die Straße hinaustraten.

Kerwin lachte vor sich hin. „Nicht weinen! Pelz ist auf einem Planeten wie diesem kein Luxus, sondern eine gute Kapitalanlage. Und für die erste Runde habe ich noch genug Geld in der Tasche. Wo können wir sie bekommen?“

Sie bekamen sie in einem Weinlokal am äußeren Rand des Sektors. Es war frei von Touristen, obwohl sich ein paar Arbeiter vom Raumhafen unter die Darkovaner gemischt hatten, die sich an der Bar drängten oder es sich auf langen Sofas entlang den Wänden bequem gemacht hatten. Alle konzentrierten sich völlig auf die ernsthaften Geschäfte des Trinkens, Unterhaltens und Spielens mit Gegenständen, die wie Dominosteine oder kleine Kristallprismen aussahen.

Ein paar Darkovaner blickten flüchtig auf, als die beiden Erdenmänner sich einen Weg durch die Menge bahnten und an einem Tisch niederließen. Bis ein molliges, dunkelhaariges Mädchen ihre Bestellung entgegennahm, hatte Ellers seine gute Laune wiedergefunden. Er kniff das Mädchen in ihren runden Schenkel und verlangte im Raumhafen-Jargon Wein. Nun legte er den darkovanischen Mantel über den Tisch, befühlte den Pelz und stürzte sich in eine lange Geschichte, wie ihm einmal eine bestimmte Pelzdecke auf einem kalten Planeten von Lyra ganz bestimmte gute Dienste geleistet habe.

„Die Nächte dort sind ungefähr sieben Tage lang, und die Leute legen einfach die Arbeit nieder, bis die Sonne wieder aufgeht und das Eis schmilzt. Ich kann dir sagen, dies Baby und ich krochen unter die Pelzdecke und steckten die ganze Zeit nicht einmal unsere Nasen hervor ...“

Kerwin widmete sich seinem Glas. Er verlor den Faden der Erzählung – nicht, daß es darauf ankam, denn Ellers Geschichten waren sich alle ähnlich. Ein Mann, der mit einem halb geleerten Glas allein an einem Tisch saß, sah hoch, begegnete Kerwins Blick und stand plötzlich auf – so hastig, daß er seinen Stuhl umwarf. Er wollte an den Tisch kommen, wo die beiden saßen. Dann sah er Ellers, dessen Rücken ihm zugekehrt gewesen war, blieb stehen und machte einen Schritt rückwärts. Er schien sowohl verwirrt als auch überrascht zu sein. Aber in diesem Augenblick sah Ellers, der in seinem Bericht an einen toten Punkt gelangt war, sich um und grinste.

„Ragan, altes Haus! Das hätte ich mir denken können, daß ich dich hier finde! Wie lange ist es her? Komm und trink ein Glas mit uns!“

Ragan zögerte, und Kerwin bemerkte, daß er ihn mit einem verlegenen Blick streifte.

„Nun komm schon“, drängte Ellers. „Das ist Jeff Kerwin, ein Kumpel von mir.“

Ragan kam und setzte sich. Kerwin wurde aus ihm nicht klug. Er war klein und mager und sah aus wie ein Mann, der im Freien arbeitet: geschmeidig, sonnenverbrannt und mit Schwielen an den Händen. Er konnte ein zu klein geratener Darkovaner oder ein Erdenmensch in darkovanischer Kleidung sein, obwohl er die allgemein übliche Kletterweste und wadenhohe Stiefel trug. Aber er sprach Terra-Standard ebenso gut wie die beiden Erdenmenschen, fragte Ellers nach der Reise und als die zweite Runde kam, bestand er darauf, sie zu bezahlen. Aber er fuhr fort, Kerwin Seitenblicke zuzuwerfen, wenn er dachte, unbeobachtet zu sein.

Kerwin fragte: „Also, was ist los? Sie haben sich benommen, als hätten Sie mich erkannt, bevor Ellers Sie an unsern Tisch rief ...“

„Richtig. Ich hatte Ellers noch gar nicht bemerkt“, antwortete Ragan, „aber dann sah ich ihn bei Ihnen, und Sie tragen ...“ Er deutete auf Kerwins terranische Kleidung. „Deshalb konnten Sie nicht der sein, für den ich Sie gehalten hatte. Ich kenne Sie doch nicht, oder?“ setzte er mit verwirrtem Stirnrunzeln hinzu.

„Ich glaube nicht.“ Kerwin betrachtete den Mann und fragte sich, ob er eins der Kinder im Raumfahrer-Waisenhaus gewesen sein konnte. Es war unmöglich zu sagen. Wie lange war es her? Zehn oder zwölf Jahre nach terranischer Rechnung; Kerwin hatte den Umrechnungsfaktor für das darkovanische Jahr vergessen. Selbst wenn sie damals Freunde gewesen sein sollten, hätte eine so lange Zeitspanne die Erinnerung ausgelöscht. Und er erinnerte sich auch an niemanden namens Ragan, obwohl das gar nichts zu bedeuten hatte.

„Aber Sie sind kein Terraner?“ forschte Ragan.

Kerwin fiel das Hohnlächeln des Angestellten ein – einer von denen –, aber er verscheuchte das Bild. „Mein Vater war Terraner. Ich wurde hier geboren und im Raumfahrer-Waisenhaus großgezogen. Ich bin jedoch sehr jung von hier weggekommen.“

„Das muß es sein“, sagte Ragan. „Ich war auch ein paar Jahre in dem Waisenhaus. Ich arbeite als Verbindungsmann für die Handelsstadt, wenn man dort darkovanische Führer, Bergsteiger und so weiter braucht. Außerdem organisiere ich Karawanen in die Berge, in die anderen Handelsstädte oder wohin auch immer.“

Kerwin versuchte immer noch, sich schlüssig zu werden, ob der Mann einen erkennbaren darkovanischen Akzent hatte. Schließlich fragte er ihn: „Sind Sie Darkovaner?“

Ragan zuckte die Schultern. Die Bitterkeit in seiner Stimme war richtig erschreckend. „Wer weiß? Und – wen interessiert es schon?“

Er hob sein Glas und trank. Kerwin tat es ihm nach. Er merkte, daß er in Kürze betrunken sein werde; er war nie ein Trinker gewesen, und die darkovanischen Alkoholika, die er als Kind natürlich nicht probiert hatte, waren starker Stoff. Doch was kam es darauf an? Ragan musterte ihn von neuem, und auch darauf schien es nicht anzukommen.

Kerwin dachte: Vielleicht haben wir vieles gemeinsam. Meine Mutter war wahrscheinlich Darkovanerin; wenn sie Terranerin gewesen wäre, hätte es Unterlagen gegeben. Sie kann alles mögliche gewesen sein. Mein Vater war im Raumdienst, das ist das einzige, was ich sicher weiß. Aber abgesehen davon, wer und was bin ich? Und wie ist er zu seinem Halbblut-Sohn gekommen?

„Wenigstens sind Sie es ihm wert gewesen, daß er Ihnen die Staatsangehörigkeit des Imperiums verschafft hat“, sagte Ragan bitter, und Jeff sah ihn verblüfft an. Er konnte sich nicht erinnern, daß er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Meinem war sogar das gleichgültig!“

„Aber Sie haben einen Rotschimmer im Haar“, stellte Jeff fest und wunderte sich, warum er das gesagt hatte. Ragan schien ihn gar nicht gehört zu haben. Ellers unterbrach mit gekränktem Gesicht:

„Hört mal, ihr beiden, das hier soll eine Feier sein! Trinkt aus!“

Ragan stützte das Kinn in die Hände und sah Kerwin über den Tisch hinweg an. „Dann sind Sie zumindest teilweise aus dem Grund hergekommen, um nach Ihren Eltern – Ihren Verwandten zu suchen?“

„Um etwas über sie herauszufinden“, berichtigte Kerwin.

„Sind Sie schon einmal auf den Gedanken gekommen, es könnte besser für Sie sein, nichts zu wissen?“

Er war auf den Gedanken gekommen. Er hatte sich hindurchgekämpft und war auf der anderen Seite wieder aufgetaucht. „Es kümmert mich nicht, ob meine Mutter eins von diesen Mädchen war.“ Er wies mit dem Kann auf die Frauen, die kamen und gingen, Getränke holten, stehenblieben, um sich mit den Männern zu necken, Witze und Anzüglichkeiten auszutauschen. „Ich will es wissen.

Ich will sicher sein, welche Welt Anspruch auf mich hat, Darkover oder Terra. Ich will sicher sein ...

„Gibt es denn keine Unterlagen im Waisenhaus?“

„Ich hatte noch keine Gelegenheit nachzusehen“, antwortete Kerwin. „Jedenfalls ist das die erste Stelle, an die ich mich wenden werde. Ich weiß nicht, wieviel man mir dort erzählen kann. Aber es ist ein guter Anfang.“

„Haben Sie sonst keinen Anhaltspunkt?“

Kerwin tastete mit Fingern, die die zunehmende Betrunkenheit ungeschickt machte, nach seiner Kupferkette. Sie gehörte ihm, solange er sich erinnern konnte. „Nur das hier. Im Waisenhaus sagte man mir, es habe um meinen Hals gehangen, als ich dort eintraf.“

Es gefiel ihnen nicht. Die Hausmutter sagte, ich sei schon zu groß, um ein Glücksamulett zu tragen, und versuchte, es mir wegzunehmen. Ich schrie ... warum hatte ich das vergessen? ... und wehrte mich so heftig, daß man es mir schließlich ließ. Zum Teufel, warum habe ich das getan? Meinen Großeltern gefiel es auch nicht, und ich lernte, es vor ihnen zu verstecken.

„So ein Blödsinn“, mischte sich Ellers grob ein. „Der lange verloren geglaubte Talisman! Du willst ihn ihnen also zeigen, und sie werden erkennen, daß du der lange verloren geglaubte Sohn und Erbe des hohen Lord Rotz von der Müllabfuhr auf seinem Schloß bist, und dann wirst du glücklich und in Freuden leben!“ Er gab einen unartikulierten höhnischen Laut von sich. Kerwin fühlte, daß sein Gesicht sich vor Zorn rötete. Wenn Ellers das wirklich für Quatsch hielt ...

„Darf ich es mir einmal ansehen?“ Ragan streckte die Hand aus.

Kerwin zog die Kette über den Kopf. Aber als Ragan danach greifen wollte, barg er sie in seiner Hand. Es hatte ihn immer nervös gemacht, wenn ein anderer den Stein berührte. Er hatte nie Lust gehabt, mit einem der psychologischen Betreuer darüber zu sprechen. Wahrscheinlich hätten sie ein Schulterklopfen und eine Antwort bereit gehabt, irgend etwas Schlüpfriges über sein Unterbewußtsein.

Die Kette bestand aus Kupfer, einem auf Darkover wertvollen Metall. Aber der blaue Stein selbst war ihm immer wenig bemerkenswert vorgekommen, als ein billiges Schmuckstück, etwas, das ein armes Mädchen in Ehren halten mochte. Er war nicht einmal geschliffen, nur ein hübscher blauer Kristall, ein Stückchen Glas.

Aber Ragans Augen verengten sich, als er ihn betrachtete, und er stieß einen leisen Pfiff aus. „Bei Alars Wolf! Wissen Sie, was das ist, Kerwin?“

Kerwin zuckte die Schultern. „Irgendein Halbedelstein aus den Hellers, nehme ich an. Ich bin kein Geologe.“

„Es ist ein Matrix-Stein“, erklärte Ragan, und als Kerwin ihn verständnislos ansah, setzte er hinzu: „Ein psychokinetischer Kristall.“

„Mir zu hoch“, sagte Ellers und streckte die Hand nach dem kleinen Schmuckstück aus. Schnell schloß Kerwin schützend die Hand darüber, und Ragan hob die Augenbrauen.

„Eingestimmt?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Kerwin, „nur mag ich es einfach nicht, daß Leute es berühren. Sicher ist das dumm.“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte Ragan, und plötzlich schien er zu einem Entschluß zu kommen.

„Ich habe auch einen Stein. Er ist nicht annähernd so groß, nur ein kleiner von der Art, wie sie auf den Märkten für Kofferschlösser und Kinderspielzeuge verkauft werden. Einer wie Ihrer – nun, die liegen nicht gerade auf der Straße herum, wissen Sie, und wahrscheinlich ist er ein kleines Vermögen wert. Sollte er jemals von dem Hauptschirme überwacht worden sein, dürfte es nicht schwer sein, festzustellen, wem er gehörte. Aber selbst die kleinen wie meiner ...“ Er holte eine Lederrolle aus einer Innentasche und wickelte sie behutsam auf. Ein winziger blauer Kristall rollte hinaus.

„Es verhält sich so mit ihnen: Vielleicht stellen sie eine Lebensform auf niedriger Stufe dar, das hat noch niemand herausgefunden. Jedenfalls gehören sie nur einem einzigen Menschen. Wenn Sie ein Schloß mit einem Matrix-Stein verschließen, kann nichts es jemals wieder öffnen außer Ihrer eigenen Absicht, es zu tun.“

„Willst du sagen, das sind magische Steine?“ fuhr Ellers wütend dazwischen.

„Teufel, nein. Sie nehmen deine Gehirnwellen und das ihnen eigentümliche Enzephalogramm auf oder etwas in der Art; das ist wie ein Fingerabdruck. Deshalb ist die Person, die das Schloß versiegelt hat, die einzige Person, die es wieder öffnen kann, was sehr praktisch ist, wenn man persönliche Papiere schützen will. Dafür benutze ich den hier auch. Oh, ich bringe außerdem ein paar Tricks damit fertig.“

Kerwin blickte auf den blauen Stein in Ragans Hand. Er war kleiner als sein eigener, hatte aber die gleiche ungewöhnliche Farbe. Er widerholte langsam: „Matrix-Stein.“

Ellers, vorübergehend wieder nüchtern werdend, starrte Kerwin an. „Ja-a. Das große Geheimnis von Darkover. Seit Generationen versuchen die Terraner, etwas von der geheimen Matrix-Technologie zu erbetteln, zu borgen oder zu stehlen. Es wurde hier ein großer Krieg deswegen geführt – vor zwölf, zwanzig Jahren – ich erinnere mich nicht mehr, es war lange vor meiner Zeit. Oh, die Darkovaner bringen kleine Steine wie Ragans in die Handelsstadt und verkaufen sie, tauschen sie ein gegen Drogen oder Metalle, meistens Dolche, Werkzeuge oder Kameralinsen. Irgendwie wandeln sie Energie um, ohne daß ein Verlust durch Nebenprodukte entsteht. Aber sie sind so klein. Immerfort hören wir Gerüchte von großen. Noch größeren als deiner, Jeff. Aber kein Darkovaner wird über sie sprechen. He!“ Er grinste. „Vielleicht bist du dann doch der verlorengegangene Erbe des hohen Lords Rotz von der Müllabfuhr in seinem Schloß! Ganz bestimmt wird kein Barmädchen ein solches Ding tragen!“

Kerwin hielt den Stein in seiner Hand, sah ihn aber nicht an. Wenn er es tat, schwamm es ihm vor den Augen, und ihn überfielen Schwindel und Übelkeit. Er steckte ihn wieder unter sein Hemd. Die Art, wie Ragen ihn anstarrte, paßte ihm nicht. Irgendwie erinnerte ihn das an etwas.

Ragan schob Kerwin seinen eigenen kleinen Kristall zu. Er war nicht größer als eine Perle, wie ihn eine Frau ans Ende eines langen Zopfes einflechten mag. Er fragte: „Können Sie hineinsehen?“

Das hatte schon einmal jemand zu ihm gesagt. Irgendwann hatte irgendwer zu ihm gesagt: Sieh in die Matrix. Die Stimme einer Frau, leise. Oder hatte sie gesagt: Sieh nicht in die Matrix ... Der Kopf tat ihm weh. Zimperlich schob er den Stein zurück. Wieder wanderten Ragans Augenbrauen in die Höhe. „So schlimm ist es? Können Sie Ihren Stein benutzen?“

„Benutzen? Wie denn? Ich weiß, verdammt noch mal, gar nichts über das Ding“, antwortete er unhöflich. Ragan zuckte die Schultern. „Ich bringe mit meinem nur ein paar Tricks fertig. Sehen Sie her.“

Er kippte aus dem dicken grünen Glaskelch die letzten paar Tropfen hinunter, stellte ihn verkehrt herum auf den Tisch und legte den winzigen blauen Kristall auf den Fuß des Glases. Sein Gesicht nahm einen starren, konzentrierten Ausdruck an. Plötzlich gab es einen Blitz, der dem Auge wehtat, ein Zischen, und der Stiel des Glases schmolz und tropfte auf den Tisch, wo er eine grüne Pfütze bildete. Ellers japste und fluchte. Kerwin legte die Hand über die Augen. Das Glas blieb, wo es war, und sein geschmolzener Stiel krümmte sich. Er erinnerte sich, daß er in einem Kurs über Kunstgeschichte von einem terranischen Maler gehört hatte, der solche Dinge für Teetassen und Uhrendeckel malte. Die Geschichte hatte ihn eher als Wahnsinnigen denn als Genie eingestuft. Der Kelch mit dem zur Seite sackenden Stiel sah genauso surrealistisch aus wie die Bilder dieses Malers.

„Könnte ich das auch? Könnte es jeder?“

„Mit einem Stein von der Größe des Ihren könnten Sie eine Menge mehr tun“, antwortete Ragan, „wenn Sie wüßten, wie Sie ihn zu benutzen haben. Ich verstehe nicht, wie sie funktionieren. Aber wenn Sie sich darauf konzentrieren, können sie kleine Gegenstände bewegen, intensive Hitze erzeugen und – nun, noch anderes. Man braucht nicht viel Übung, um mit so kleinen Steinen herumzuspielen.“

Kerwin berührte den Stein auf seiner Brust. Er sagte: „Dann ist er nicht nur ein Schmuckstück?“

„Teufel, nein. Er ist ein kleines Vermögen wert – vielleicht auch ein großes; ich bin kein Fachmann. Es überrascht mich, daß man ihn Ihnen nicht weggenommen hat, bevor Sie Darkover verließen. Schließlich haben die Terraner sich viel Mühe gegeben, einen der größeren Steine in die Finger zu bekommen, um damit zu experimentieren und die Grenzen ihrer Möglichkeiten festzustellen.“

Wieder kam eine dieser dunklen Erinnerungen an die Oberfläche. Auf dem großen Schiff, das ihn nach Terra brachte, hatte sich eine Stewardess mit dem Stein zu schaffen gemacht. Er war aus seinem Betäubungsschlaf aufgewacht, hatte geschrien und Alpträume bekommen. Kerwin hatte es für eine Nebenwirkung der Medikamente gehalten. Düster stellte er fest: „Versucht haben sie es vielleicht.“

„Ich bin überzeugt, die Leiter des HQ würden eine Menge darum geben, wenn sie Versuche mit einem Stein von dieser Größe anstellen könnten“, meinte Ragan. „Überlegen Sie es sich, ob Sie ihn ihnen überlassen wollen. Innerhalb bestimmter Grenzen wird man Ihnen dafür wahrscheinlich alles geben, was Sie wollen. Sie könnten zum Beispiel auf einen wirklich guten Posten befördert werden.“

Kerwin grinste. „Da es mir immer, wenn ich ihn abnehme, lausig geht, dürfte das – einige Schwierigkeiten bereiten.“

„Heißt das, du nimmst ihn nie ab?“ fragte Ellers in seiner Betrunkenheit. „Du läßt ihn sogar im Bad an?“

Kerwin antwortete auflachend: „Oh, ich kann ihn abnehmen. Es ist mir nur irgendwie – ach, ich weiß nicht – unheimlich, wenn ich ihn eine Weile von mir lasse.“ Er hatte sich selbst immer abergläubisch, unvernünftig und unter einem Zwang stehend geschimpft, weil er das Ding als Fetisch behandelte.

Ragan schüttelte den Kopf. „Wie ich sagte, es sind merkwürdige Steine. Sie – verdammt, das hört sich wie Unsinn an, aber es geschieht; ich weiß nicht wie, ich weiß nur, daß es geschieht, vielleicht stellen sie wirklich eine niedrige Stufe des Lebens dar. Sehen Sie, sie binden sich an einen. Man kann nicht einfach davongehen und sie zurücklassen, und noch nie hat jemand davon gehört, es hätte einer seinen Stein verloren. Ich kenne einen Mann, der ständig seine Schlüssel verlor, bis er einen dieser kleinen Steine erwischte und an seinem Schlüsselring befestigte. Und immer, wenn er das Schlüsselbund irgendwo liegenließ, dann – glauben Sie mir! – wußte er, wo es war.“

Das, dachte Kerwin, erklärte eine Menge. Auch daß ein Kind schrie, als sei es halb so alt, wie es wirklich war, als eine keinen Unsinn duldende terranische Hausmutter ihm seinen „Glückszauber“ wegnahm. Am Ende mußten sie ihn ihm zurückgeben. Erschauernd fragte er sich, was geschehen wäre, hätten sie es nicht getan. Doch das wollte er gar nicht wissen. Wieder berührte er den verborgenen Stein und erinnerte sich kopfschüttelnd an die Überzeugung des Kindes, daß er den Schlüssel zu seiner unbekannten Vergangenheit, zu seiner und seiner Mutter Identität, zu seinen verschwommenen Erinnerungen und halb vergessenen Träumen darstellte.

„Natürlich hoffte ich“, sagte er mit dick aufgetragener Ironie, „das Amulett werde tatsächlich beweisen, ich sei der lange verloren geglaubte Sohn und Erbe deines hohen Lords Sowieso. Jetzt sind alle meine Illusionen zerstört.“ Er hob das Glas an die Lippen und rief dem darkovanischen Mädchen zu, nochmal das Gleiche zu bringen.

Und dabei fiel sein Blick auf das Glas, dessen Stiel Ragan geschmolzen hatte. Verdammt, war er betrunkener, als er geglaubt hatte?

Der Kelch stand aufrecht auf seinem grünen Stiel, gerade und ungebrochen. Er war vollkommen in Ordnung.

Die blutige Sonne

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