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Damon Ridenow ritt durch ein gereinigtes Land.

Den größten Teil des Jahres über hatte die große Hochebene der Kilghardberge unter dem bösen Einfluss der Katzenwesen gelegen. Ernten verdorrten auf den Feldern unter der unnatürlichen Dunkelheit, die das Licht der Sonne auslöschte. Die armen Leute der Gegend verkrochen sich in ihren Hütten, denn sie hatten Angst, sich in das verheerte Land hinauszuwagen.

Aber jetzt arbeiteten wieder Männer im Licht der großen roten Sonne von Darkover, brachten die Ernte ein und sorgten für den kommenden Winter vor. Es war ein früher Herbst, und das Korn war zum größten Teil schon eingefahren.

Die Große Katze war in den Höhlen von Corresanti erschlagen worden, und der riesige illegale Matrix-Stein, den sie gefunden und zu so fürchterlichem Zweck gebraucht hatte, war mit ihr vernichtet worden. Was an Katzenwesen übrig blieb, floh in die fernen Regenwälder jenseits der Berge oder fiel unter den Schwertern der Krieger, die Damon gegen sie geführt hatte.

Das Land war wieder rein und frei von Schrecken, und Damon, der die meisten seiner Leute nach Hause entlassen hatte, ritt ebenfalls heimwärts. Nicht zu dem von seinen Vorvätern vererbten Besitz in Serrais. Damon war ein unwichtiger jüngerer Sohn und hatte Serrais nie als seine Heimat betrachtet. Er ritt jetzt nach Armida und zu seiner Hochzeit.

Er hielt abseits des Weges und sah zu, wie sich die letzten Männer entsprechend ihren Zielen in Gruppen zusammenfanden. Da waren Gardisten, die nach Thendara wollten, in ihren grünen und schwarzen Uniformen, da waren ein paar Männer von den Domänen Ardais und Hastur, deren Weg nordwärts in die Hellers führte, und ein paar ritten nach Süden zu den Ebenen von Valeron.

»Ihr solltet zu den Männern sprechen, Lord Damon«, sagte ein kleiner, knorrig aussehender Mann neben ihm.

»Ich bin nicht sehr gut darin, Ansprachen zu halten.« Damon war ein schmaler, schlanker Mann mit einem Gelehrtengesicht. Bis zu diesem Feldzug hatte er sich nie für einen Soldaten gehalten, und er wunderte sich immer noch, dass er diese Männer erfolgreich gegen die letzten Reste der Katzenwesen geführt hatte.

»Sie erwarten es, Lord«, drängte Eduin. Damon seufzte. Er wusste, der andere hatte Recht. Damon war ein Comyn von den Domänen – kein Lord einer Domäne, nicht einmal ein Comyn-Erbe, aber immerhin ein Comyn. Er gehörte der alten telepathischen, mit Psi-Talenten ausgestatteten Rasse an, die die Sieben Domänen seit unbekannten Zeiten regierte. Die Tage waren vorbei, als man die Comyn wie lebende Götter behandelt hatte, aber Respekt, der beinahe schon Ehrfurcht war, gab es immer noch. Und Damon war dazu erzogen worden, die Verantwortung eines Comyn-Sohnes zu übernehmen. Seufzend lenkte er sein Pferd an eine Stelle, wo die wartenden Männer ihn sehen konnten.

»Unsere Arbeit ist getan. Dank euch Männern, die ihr meinem Ruf gefolgt seid, herrscht Frieden in den Kilghardbergen und in der Heimat eines jeden von uns. Mir bleibt nur noch, euch meinen Dank und mein Lebewohl zu entbieten.«

Der junge Offizier, der die Gardisten von Thendara gebracht hatte, kam zu Damon, als die anderen Männer davonritten. »Wird Lord Alton mit uns nach Thendara reiten? Sollen wir auf ihn warten?«

»Ihr würdet lange warten müssen«, antwortete Damon. »Er wurde in der ersten Schlacht mit den Katzenwesen verwundet. Es war eine kleine Wunde, aber das Rückgrat wurde unheilbar verletzt. Er ist vom Gürtel abwärts gelähmt. Ich denke, er wird niemals mehr irgendwohin reiten.«

Der junge Offizier blickte bestürzt drein. »Wer wird die Gardisten jetzt befehligen, Lord Damon?«

Es war eine nahe liegende Frage. Generationenlang hatte der Befehl über die Gardisten in den Händen der Altons gelegen: Esteban Lanart von Armida, Lord Alton, hatte sie viele Jahre lang kommandiert. Aber Dom Estebans ältester überlebender Sohn Lord Domenic war ein Jüngling von siebzehn. Obwohl ein Mann nach den Gesetzen der Domänen, besaß er für den Posten des Befehlshabers weder das Alter noch die Autorität. Der andere noch vorhandene Alton-Sohn, der junge Valdir, war ein Junge von elf, ein Novize im Nevarsin-Kloster, und wurde von den Brüdern von Sankt-Valentin-im-Schnee unterrichtet.

Wer würde dann die Garde kommandieren? Es war eine brennende Frage, dachte Damon, aber er kannte die Antwort nicht. Das sagte er auch, und er fügte hinzu: »Der Rat der Comyn wird es im nächsten Sommer entscheiden müssen, wenn er in Thendara zusammenkommt.« Auf Darkover hatte nie ein Krieg im Winter stattgefunden, und es würde nie einen geben. Im Winter gab es einen grimmigeren Feind, die grausame Kälte, die Schneestürme, die von den Hellers herab über die Domänen hinfegten. Keine Armee konnte im Winter gegen die Domänen ziehen. Selbst Räuber blieben dann zu Hause. Man konnte bis zum nächsten Ratstreffen auf die Ernennung eines neuen Befehlshabers warten. Damon ging auf ein anderes Thema über.

»Werdet Ihr Thendara vor dem Dunkelwerden erreichen?«

»Wenn sich unterwegs nichts Besonderes ereignet, ja.«

»Dann lasst mich Euch nicht länger aufhalten.« Damon verbeugte sich. »Ihr habt den Befehl über diese Männer, Verwandter.«

Der junge Offizier konnte ein Lächeln nicht verbergen. Er war sehr jung, und dies war sein erstes Kommando, wenn es auch nur für kurze Zeit galt. Versonnen beobachtete Damon den Jungen, als dieser seine Männer versammelte und mit ihnen davonritt. Das war der geborene Offizier, und da Dom Esteban invalide war, konnten fähige Offiziere mit Beförderungen rechnen.

Damon selbst hatte sich, auch wenn er diesen Feldzug angeführt hatte, nie als Soldat gesehen. Wie alle Comyn-Söhne hatte er im Kadettenkorps gedient und zum gegebenen Zeitpunkt sein Offizierspatent erhalten, aber seine Begabung und sein Ehrgeiz lagen auf völlig anderem Gebiet. Mit siebzehn war er als Telepath in den Arilinn-Turm zugelassen und in den alten Matrix-Wissenschaften von Darkover ausgebildet worden. Viele, viele Jahre lang hatte er dort gearbeitet, an Kraft und Geschicklichkeit gewonnen und den Rang eines Psi-Technikers erreicht.

Dann war er aus dem Turm weggeschickt worden. Es sei nicht seine Schuld, hatte seine Bewahrerin ihm versichert. Er sei nur zu empfindsam, und die Gesundheit seines Körpers und sogar seines Geistes könne durch die fürchterliche Anstrengung der Matrix-Arbeit zu Grunde gehen.

Innerlich rebellierend, aber gehorsam war Damon gegangen. Das Wort einer Bewahrerin war Gesetz: Man stellte es nicht in Frage, und man lehnte sich nicht dagegen auf. Damon sah sein Leben zerstört, seine Hoffnungen in Scherben liegen. Er hatte versucht, bei der Garde von neuem anzufangen, obwohl er kein Soldat war und das wusste. Eine Zeit lang war er Kadettenmeister gewesen, dann Lazarettoffizier, Versorgungsoffizier. Und bei diesem letzten Feldzug gegen die Katzenwesen hatte er gelernt, selbstbewusst aufzutreten. Aber er hatte nicht den Wunsch, den Befehl zu führen, und er war froh, dass er ihn nun niederlegen konnte.

Er sah den davonreitenden Männern nach, bis sich ihre Gestalten im Staub der Straße verloren. Jetzt nach Armida, nach Hause ...

»Lord Damon«, sagte Eduin neben ihm, »es sind Reiter auf der Straße.«

»Reisende? Zu dieser Jahreszeit?« Es schien unmöglich. Der Schnee des Winters war noch nicht gefallen, aber jeden Tag konnte der erste Wintersturm von den Hellers herabfegen und die Straßen tagelang blockieren. Es gab ein altes Sprichwort: Nur der Wahnsinnige oder der Verzweifelte reist im Winter. Damon strengte seine Augen an, um die fernen Reiter zu erkennen, aber er war seit seiner Kindheit ein wenig kurzsichtig und konnte nur verschwommene Flecken ausmachen.

»Eure Augen sind besser als meine. Was meint Ihr, Eduin, sind es bewaffnete Männer?«

»Ich glaube nicht, Lord Damon. Es reitet eine Dame mit ihnen.«

»Zu dieser Jahreszeit? Das kann man sich kaum vorstellen«, antwortete Damon. Was konnte eine Frau veranlassen, in die Unsicherheit des sich nähernden Winters hinauszuziehen?

»Es ist ein Hastur-Banner, Lord Damon. Aber Lord Hastur und seine Dame würden Thendara zu dieser Jahreszeit nicht verlassen. Wenn sie aus irgendeinem Grund nach Burg Hastur ritten, würden sie auch nicht diese Straße nehmen. Ich kann es nicht verstehen.«

Doch noch bevor er den Satz beendete, war Damon klar, welche Frau ihm mit der kleinen Eskorte von Gardisten und Begleitern entgegenritt. Nur eine Frau auf Darkover würde allein unter einem Hastur-Banner reiten, und nur eine Hastur hatte Grund, diesen Weg zu nehmen.

»Es ist die Lady von Arilinn«, erklärte er schließlich widerstrebend und sah die Verwunderung und Ehrfurcht in Eduins Gesicht.

Leonie Hastur. Leonie von Arilinn, Bewahrerin des Arilinn-Turms. Damon wusste, die Höflichkeit erforderte, dass er seiner Verwandten entgegenritt und sie willkommen hieß. Und doch blieb er wie erstarrt auf seinem Pferd sitzen und rang nach Selbstbeherrschung. Die vergangene Zeit schien ausgelöscht. In einer gefrorenen, zeitlosen, widerhallenden Kammer seines Geistes stand ein jüngerer Damon zitternd vor der Bewahrerin von Arilinn und beugte den Kopf unter den Worten, die sein Leben zerstörten:

»Es ist nicht so, dass du uns enttäuschst oder mein Missfallen erregt hättest. Aber du bist viel zu empfindsam für diese Arbeit, zu verletzlich. Wärst du als Mädchen geboren, könntest du Bewahrerin werden. Aber wie die Dinge liegen ... Ich habe dich jahrelang beobachtet. Diese Arbeit wird deine Gesundheit, deinen Verstand zerstören. Du musst uns verlassen, Damon, zu deinem eigenen Besten.«

Damon war ohne Widerspruch gegangen, denn er hatte ein Gefühl der Schuld. Er hatte Leonie geliebt, geliebt mit all der verzweifelten Leidenschaft eines einsamen Mannes, aber in Keuschheit, ohne ein Wort oder eine Berührung. Denn Leonie hatte wie alle Bewahrerinnen gelobt, Jungfrau zu bleiben. Kein Mann durfte sie mit einem sinnlichen Gedanken ansehen, kein Mann durfte sie je berühren. Hatte Leonie das irgendwie erkannt? Hatte sie gefürchtet, eines Tages werde er die Beherrschung verlieren und sich ihr – auch wenn es nur in Gedanken war – auf eine Weise nähern, die gegenüber einer Bewahrerin verboten war?

Damon war geflohen, vernichtet. Jetzt, Jahre später, schien ein Lebensalter zwischen dem jungen Damon, der in eine unfreundliche Welt hinausgestoßen wurde, um sich ein neues Leben aufzubauen, und dem heutigen Damon zu liegen, der volle Kontrolle über sich selbst hatte und Veteran dieses erfolgreichen Feldzugs war.

Die Erinnerung war noch lebendig in ihm – der Schmerz würde ihm bis zum Tod bleiben – aber Damon wappnete sich, als Leonie näher kam, mit dem Gedanken an Ellemir Lanart, die ihn in Armida erwartete.

Ich hätte sie heiraten sollen, bevor ich ins Feld zog. Er hatte es gewollt, aber Dom Esteban hielt eine so hastig geschlossene Ehe für unschicklich unter Adligen. Er wollte seine Tochter nicht in aller Eile ins Brautbett geleitet sehen, als sei sie eine schwangere Dienstmagd! Damon hatte dem Aufschub zugestimmt. Die Existenz Ellemirs, seiner versprochenen Braut, sollte jetzt auch die schmerzlichsten Erinnerungen bannen können. Indem er die in seinem ganzen Leben errungene Willenskraft zusammenraffte, ritt Damon schließlich vorwärts. Eduin hielt sich an seiner Seite.

»Ihr erweist uns Gnade, Verwandte«, sagte er ernst und verbeugte sich im Sattel. »Es ist für eine Reise in den Bergen spät im Jahr. Wohin wollt ihr?«

Leonie erwiderte die Verbeugung mit der steifen Förmlichkeit einer Comyn-Dame in Gegenwart von Außenseitern.

»Ich grüße dich, Damon. Ich reite nach Armida – unter anderem, um an deiner Hochzeit teilzunehmen.«

»Es ist mir eine Ehre.« Die Reise von Arilinn war lang und zu keiner Zeit des Jahres ohne Mühsal. »Aber sicher ist es nicht nur meiner Hochzeit wegen, Leonie?«

»Nicht nur. Doch die Wahrheit ist, dass ich dir alles Glück wünsche, Cousin.«

Zum ersten Mal trafen sich – ganz kurz – ihre Augen, aber Damon blickte weg. Leonie Hastur, Lady von Arilinn, war eine hoch gewachsene Frau, schmal gebaut und mit dem flammend roten Haar der Comyn, das jetzt unter der Kapuze ihres Reitmantels einen Anflug von Grau zeigte. Sie war vielleicht einmal sehr schön gewesen; Damon würde nie im Stande sein, darüber ein Urteil abzugeben.

»Callista sandte mir die Nachricht, dass sie von ihrem Gelübde gegenüber dem Turm entbunden werden und heiraten möchte.« Leonie seufzte. »Ich bin nicht mehr jung; ich hatte mir gewünscht, mein Amt als Bewahrerin niederzulegen, wenn Callista ein wenig älter geworden sei und es hätte übernehmen können.«

Damon verbeugte sich schweigend. Das war ausgemacht gewesen, seit Callista als Mädchen von dreizehn in den Arilinn-Turm gekommen war. In Callistas erstem Jahr dort war Damon Psi-Techniker gewesen, und als solcher hatte er sein Urteil abgeben müssen, ob man sie zur Bewahrerin ausbilden solle.

»Doch jetzt möchte sie uns verlassen, um zu heiraten. Sie hat mir berichtet, dass ihr Liebhaber ...« – Leonie benutzte die höfliche Endung, die dem Wort die Bedeutung »versprochener Gatte« gab – «... ein Außenweltler ist, einer der Terraner, die bei Thendara ihren Raumhafen gebaut haben. Was weißt du über die Sache, Damon? Mir kommt sie verstiegen, phantastisch vor wie eine alte Ballade. Wie hat sie diesen Terraner überhaupt kennen gelernt? Sie nannte mir seinen Namen, aber ich habe ihn vergessen ...«

»Andrew Carr«, sagte Damon. Sie ritten Seite an Seite auf Armida zu. Ihre Begleiter und Leonies Dame folgten in achtungsvoller Entfernung. Die große rote Sonne hing niedrig am Himmel und warf trübes Licht auf die Gipfel der Kilghardberge hinter ihnen. Im Norden begannen sich Wolken zu sammeln, und ein kühler Wind blies von den fernen, unsichtbaren Höhen der Hellers herab.

»Ich bin mir auch heute noch nicht sicher, wie alles begann«, antwortete Damon nach einer Pause. »Ich weiß nur, als Callista von den Katzenwesen entführt wurde und voller Angst als Gefangene allein in den dunklen Höhlen von Corresanti lag, konnte keiner ihrer Verwandten ihren Geist erreichen.«

Leonie erschauerte und zog sich die Kapuze fester ums Gesicht. »Das war eine schreckliche Zeit.«

»Das war es. Und irgendwie geschah es, dass Andrew Carr, dieser Terraner, eine gedankliche Verbindung zu ihr herstellte. Bis zu diesem Tag kenne ich nicht alle Einzelheiten, aber er allein konnte ihr in ihrem Kerker Gesellschaft leisten, er allein konnte ihren Geist erreichen. Und so kamen sie sich mit Herz und Verstand näher, obwohl sie sich im Fleisch niemals gesehen hatten.«

Leonie seufzte. »Ja, solche Bande können stärker sein als die Bande des Fleisches. Und so lernten sie sich lieben, und als sie gerettet worden war, trafen sie sich –«

»Das meiste hat Andrew zu ihrer Rettung getan«, berichtete Damon, »und jetzt haben sie sich einander angelobt. Glaub mir, Leonie, das ist keine Phantasterei, die aus der Furcht eines eingekerkerten Mädchens oder dem Begehren eines einsamen Mannes geboren wurde. Callista erzählte mir, bevor ich ins. Feld zog, sie werde, sollte sie ihres Vaters und deine Zustimmung nicht erringen können, Armida und Darkover verlassen und mit Andrew zu seiner Welt gehen.«

Leonie schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich habe die terranischen Schiffe auf dem Raumhafen bei Thendara liegen sehen. Und mein Bruder Lorill, der dem Rat angehört und mit den Terranern zu tun hat, sagt, sie scheinen in jeder Beziehung Menschen wie wir zu sein. Aber eine Ehe, Damon? Ein Mädchen von diesem Planeten, ein Mann von irgendeinem anderen? Selbst wenn Callista keine Bewahrerin wäre und kein Gelübde abgelegt hätte, wäre eine solche Ehe befremdlich und ein Risiko für beide.«

»Ich glaube, das wissen sie, Leonie. Und trotzdem sind sie entschlossen.«

»Ich habe immer die sehr starke Überzeugung gehabt«, meinte Leonie mit einer Stimme, die wie von weit her klang, »dass eine Bewahrerin niemals heiraten sollte. So habe ich mein ganzes Leben lang empfunden, und danach habe ich gelebt. Wäre dem nicht so gewesen ...« Sie sah kurz zu Damon hoch, und der Schmerz in ihrer Stimme erschreckte ihn. Er versuchte, sich dagegen abzuschirmen. Ellemir, dachte er, als sei der Name ein Schutzzauber. Doch Leonie fuhr seufzend fort: »Trotzdem, ich würde Callista nicht zwingen, sich nach meinem Glauben zu richten, wenn sie von tiefer Liebe zu einem Mann ihres eigenen Clans und ihrer eigenen Kaste erfüllt wäre. Dann würde ich sie bereitwillig freigeben. Nein ...« Leonie unterbrach sich. »Nein, nicht bereitwillig, weil ich weiß, welche Schwierigkeiten auf eine Frau warten, die als Bewahrerin eines Matrix-Kreises ausgebildet und konditioniert ist. Nicht bereitwillig. Aber freigegeben hätte ich sie, und da mir dann nichts anderes übrig bliebe, hätte ich sie dem Bräutigam mit Anstand übergeben. Aber wie kann ich sie einem Fremden übergeben, einem Mann von einer anderen Welt, der nicht einmal auf unserm Boden, unter unserer Sonne geboren ist? Der Gedanke erfüllt mich mit eisigem Entsetzen, Damon! Mich schaudert es dabei.«

Langsam antwortete Damon: »So habe ich anfangs auch empfunden. Aber Andrew ist kein Fremder. Mein Verstand weiß, dass er auf einer anderen Welt geboren ist, die um die Sonne eines anderen Himmels kreist, um einen fernen Stern, der von hier aus nicht einmal ein Lichtpünktchen an unserm Himmel ist. Dennoch ist er nicht unmenschlich, ist kein Ungeheuer, das sich als Mensch maskiert. Er ist in Wahrheit einer von unserer eigenen Art, ein Mann wie ich. Er mag uns fremd sein, aber fremdartig ist er nicht. Ich sage dir, Leonie, ich weiß es. Sein Geist ist mit meinem verbunden gewesen.« Unbewusst legte Damon seine Hand auf den Matrix-Kristall, den auf Psi-Kräfte reagierenden Stein, den er in einem isolierenden Beutel um den Hals trug. Er setzte hinzu: »Er hat Laran

Leonie sah ihn erschreckt, ungläubig an. Laran war die Psi-Kraft, die die Comyn der Domänen über das gewöhnliche Volk hinaushob, die erbliche Fähigkeit, die in das Comyn-Blut hineingezüchtet worden war. »Laran!«, rief sie beinahe zornig aus. »Das kann ich nicht glauben.«

»Glauben oder Unglauben ändert eine einfache Tatsache nicht, Leonie«, sagte Damon. »Ich habe Laran gehabt, seit ich ein Junge war, ich bin in einem Turm ausgebildet, und ich sage dir, dieser Terraner hat Laran. Ich habe meinen Geist mit dem seinen zusammengeschlossen, und ich versichere dir, er unterscheidet sich in nichts von einem Mann unserer eigenen Welt. Es gibt keinen Grund, Callistas Wahl mit Entsetzen oder Abscheu zu betrachten. Er ist ein Mensch wie wir.«

Leonie sagte: »Und er ist dein Freund.«

Damon nickte. »Mein Freund. Und um Callista zu retten, schlossen wir uns zusammen – durch die Matrix.« Es war nicht nötig, mehr zu sagen. Es war das stärkste bekannte Band, stärker als Blutsverwandtschaft, stärker als das Band zwischen Liebenden. Es hatte Damon und Ellemir zusammengebracht, und ebenso Andrew und Callista.

Leonie seufzte. »Ist das so? Dann nehme ich an, ich muss es akzeptieren, mögen seine Geburt und seine Kaste sein, was sie wollen. Da er Laran hat, ist er ein passender Gatte, wenn irgendein lebender Mann überhaupt ein passender Gatte für eine als Bewahrerin ausgebildete Frau sein kann.«

»Manchmal vergesse ich, dass er keiner von uns ist«, gestand Damon. »Und manchmal wieder kommt er mir merkwürdig, beinahe fremdartig vor, aber der Unterschied ist allein in den Sitten und in der Kultur begründet.«

»Auch das kann einen großen Unterschied bedeuten«, entgegnete Leonie. »Ich denke daran, wie Melora Aillard von Jalak von Shainsa entführt wurde und was sie zu erdulden hatte. Es hat noch nie eine Ehe zwischen den Domänen und den Trockenstädten ohne Tragödie gegeben. Und ein Mann von einer anderen Welt und einer anderen Sonne muss uns noch ferner stehen.«

»Dessen bin ich mir nicht so sicher«, meinte Damon. »Auf jeden Fall ist Andrew mein Freund, und ich werde seine Werbung unterstützen.«

Leonie sank im Sattel zusammen. »Du würdest mit einem Unwürdigen weder Freundschaft schließen noch dich mit ihm durch eine Matrix verbinden. Aber selbst wenn alles, was du sagst, wahr ist, wie kann eine solche Heirat etwas anderes als eine Katastrophe sein? Selbst wenn er einer von uns wäre und voll begriffe, welchen Einfluss der Turm auf Leib und Seele einer Bewahrerin hat, wäre es nahezu unmöglich. Hättest du so viel gewagt?«

Damon antwortete nicht gleich. Sie konnte nicht gemeint haben, was er dachte.

Man lebte nicht mehr in den Tagen vor dem Zeitalter des Chaos, als die Bewahrerinnen verstümmelt, ja sogar zu Neutren, zu weniger als Frauen gemacht wurden. O ja, Damon wusste, Bewahrerinnen wurden immer noch unter schrecklicher Disziplin dazu erzogen, ein von den Männern abgesondertes Leben zu führen. Dazu wurden in Körper und Gehirn Reflexe eingebaut. Aber verändert wurden Körper und Gehirn nicht mehr. Und bestimmt wusste Leonie nicht... andernfalls, dachte Damon, wäre er der eine Mann gewesen, dem sie jene Frage niemals gestellt hätte. Sicher war das in aller Unschuld geschehen, sicher wusste sie es nicht.

Er wappnete sich gegen Leonies Unschuld, er zwang sich, sie anzusehen und mit ruhiger Stimme zu sagen: »Mit Freuden hätte ich es gewagt, Leonie, wenn ich geliebt hätte, wie Andrew liebt.«

Sosehr er sich mühte, fest und leidenschaftslos zu sprechen, teilte sich etwas von seinem inneren Kampf Leonie doch mit. Sie blickte auf, schnell und nur für eine Sekunde oder weniger. Ihre Augen trafen sich, und Leonie wandte ihre ab.

Ellemir, erinnerte Damon sich verzweifelt. Ellemir, meine Liebste, meine versprochene Frau. Aber seine Stimme war ruhig. »Versuche, Andrew ohne Vorurteil gegenüberzutreten, Leonie, und du wirst feststellen, er ist ein Mann, dem du Callista bereitwillig zur Ehe geben kannst.«

Leonie hatte ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen. »Ich will deinem Rat gern folgen, Damon. Aber auch wenn alles, was du sagst, wahr ist, widerstrebt es mir trotzdem.«

»Ich weiß.« Damon blickte die Straße entlang. Sie waren jetzt in Sichtweite der großen Eingangstore von Armida, dem Erbsitz der Domäne Alton. Zu Hause, dachte er, und Ellemir wartet auf mich. »Aber auch wenn alles, was du sagst, Leonie, wahr ist, wüsste ich nicht, was wir tun könnten, um Callista an der Heirat zu hindern. Sie ist kein törichtes junges Mädchen, das sich einer Schwärmerei hingibt. Sie ist eine erwachsene Frau, im Turm ausgebildet, tüchtig, daran gewöhnt, ihren eigenen Willen zu haben. Ich bin überzeugt, sie wird ihren Willen auch durchsetzen, ohne Rücksicht auf uns alle.«

Leonie seufzte. »Ich möchte sie nicht mit Gewalt zurückholen, wenn sie nicht will. Die Bürde einer Bewahrerin ist zu schwer, um sie ohne innere Zustimmung zu tragen. Ich habe sie ein Leben lang getragen, ich weiß Bescheid.« Diese Bürde hatte sie müde gemacht, lastete auf ihr. »Aber an Bewahrerinnen kommt man nicht leicht. Wenn ich sie für Arilinn retten kann, dann, Damon, weißt du, dass ich sie retten muss.«

Damon wusste es. Die alten Psi-Gaben der Sieben Domänen, die hunderte oder tausende von Jahren lang in den Genen der Comyn-Familien herangereift waren, verflüchtigten sich jetzt, starben aus. Telepathen waren seltener als je zuvor. Es verstand sich nicht mehr von selbst, dass die Söhne und Töchter der direkten Nachkommen jeder Domäne die ererbte Psi-Kraft des betreffenden Hauses hatten. Und viele legten gar keinen Wert mehr darauf. Damons älterer Bruder, Erbe der Ridenow-Familie zu Serrais, hatte kein Laran. Damon selbst war der Einzige der Brüder, der Laran in voller Stärke besaß, und er war deswegen in keiner Weise besonders geehrt worden. Im Gegenteil, seiner Arbeit im Turm wegen hatten seine Brüder ihn verachtet, als sei er kein ganzer Mann. Es war schwer, Telepathen zu finden, die der Turmarbeit gewachsen waren. Einige der alten Türme waren geschlossen worden und standen dunkel. Dort gab es keinen Unterricht, keine Übungen, keine Arbeit mit den alten Psi-Wissenschaften von Darkover mehr. Außenseiter, solche mit nur wenigen Tropfen Comyn-Blut, waren zu den geringeren Türmen zugelassen worden, obwohl Arilinn sich an die alten Sitten hielt und nur jene aufnahm, die nahe Blutsverwandte der Domänen waren. Und wenige Frauen mit der Kraft, der Psi-Gabe, dem Durchhaltevermögen, konnten gefunden werden. Dazu mussten sie den Mut und den Willen haben, beinahe alles zu opfern, was einer Frau von den Domänen das Leben lebenswert machte, mussten sich der schrecklichen Disziplin der Bewahrerinnen unterwerfen. Wen würden sie finden, um Callistas Platz neu zu besetzen?

Also führten beide Wege zur Tragödie. Arilinn musste eine Bewahrerin verlieren – oder Andrew eine Frau, Callista einen Mann. Damon seufzte tief und sagte: »Ich weiß, Leonie«, und schweigend ritten sie auf die großen Tore von Armida zu.

Der verbotene Turm

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