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Es war entschieden worden, dass die Hochzeit in vier Tagen stattfinden sollte, eine stille Feier, der nur Leonie als Ehrengast und ein paar Nachbarn, die auf nahe gelegenen Gütern lebten, beiwohnen sollten. Die kurze Zwischenzeit gestattete es gerade noch, Domenic, Dom Estebans Erben, eine Nachricht nach Thendara zu schicken und einem oder mehreren von Damons Brüdern die Gelegenheit zu geben, von Serrais herzukommen, wenn sie es wünschten.

Am Abend vor der Hochzeit lagen die Zwillingsschwestern noch lange wach. Sie waren in dem Zimmer, das sie als Kinder geteilt hatten, bevor Callista nach Arilinn ging. Endlich sagte Ellemir ein wenig traurig: »Ich hatte mir immer vorgestellt, an meinem Hochzeitstag werde es ein großes Festessen geben und feine Kleider, und alle unsere Verwandten würden mit uns feiern. Stattdessen ist es eine hastige Sache mit ein paar Landleuten. Nun, wenn ich Damon zum Mann bekomme, kann ich auf all das andere verzichten, aber trotzdem ...«

»Mir tut es auch Leid, Elli, ich weiß, es ist meine Schuld«, antwortete Callista. »Du heiratest einen Comyn-Lord von der Ridenow-Domäne, und so gibt es keinen Grund, warum du nicht durch di Catenas verheiratet werden solltest, mit allen Feiern und Lustbarkeiten, die du dir wünschen kannst. Andrew und ich haben dir das verdorben.« Eine Comyn-Tochter konnte nicht ohne Erlaubnis des Comyn-Rates di Catenas, nach der alten Zeremonie, heiraten, und Callista wusste, es bestand nicht die geringste Aussicht, dass der Rat sie einem Fremden, einem Niemand – einem Terraner geben würde. Deshalb hatten sie die schlichtere Form gewählt, die als Freipartner-Hochzeit bekannt war. Dazu genügte eine einfache Erklärung vor Zeugen.

Ellemir hörte die Traurigkeit aus ihrer Schwester Stimme heraus und meinte: »Nun, wie Vater so gern sagt, die Welt wird gehen, wie sie will, und nicht, wie du oder ich es gern hätten. Damon hat versprochen, dass wir zum nächsten Ratstreffen nach Thendara reisen, und dort wird es genug Lustbarkeiten für jeden geben.«

»Und bis dahin«, setzte Callista hinzu, »hat meine Ehe mit Andrew schon so lange bestanden, dass niemand mehr etwas daran ändern kann.«

Ellemir lachte. »Und ich hätte Pech, wenn ich dann ein Kind erwartete und die Feste nicht genießen könnte! Das heißt, natürlich betrachte ich es nicht als Pech, wenn ich Damons Kind sofort bekäme.«

Callista schwieg. Sie dachte an die Jahre im Turm, wo sie ohne Bedauern, weil sie nichts davon wusste, alle Dinge beiseite geschoben hatte, von denen ein junges Mädchen träumt. Da sie diese Dinge nun in Ellemirs Stimme hörte, fragte sie zögernd: »Möchtest du sofort ein Kind?«

Wieder lachte Ellemir. »O ja! Du nicht?«

»Ich habe nicht darüber nachgedacht«, antwortete Callista langsam. »Es waren so viele Jahre, in denen Gedanken an Ehe oder Liebe oder Kinder mir fern lagen ... Ich vermute, Andrew wird früher oder später Kinder haben wollen, aber mich dünkt, ein Kind sollte ich für mich selbst wünschen, nicht weil es meine Pflicht gegenüber unserm Clan ist. In der Zeit im Turm habe ich immer nur an die Pflichten gegenüber anderen gedacht, und jetzt glaube ich, ich muss ein wenig Zeit haben, nur an mich zu denken. Und an ... an Andrew.«

Das war für Ellemir verwirrend.

Wie konnte eine Frau an ihren Mann denken, ohne dass ihr Wunsch, ihm ein Kind zu schenken, im Vordergrund stand? Aber sie spürte, dass es bei Callista anders war. Jedenfalls, dachte sie mit unbewusstem Hochmut, war Andrew kein Comyn; es war nicht besonders wichtig, ob Callista ihm gleich einen Erben gebar.

»Vergiss nicht, Elli, ich habe so viele Jahre geglaubt, ich werde überhaupt nicht heiraten ...«

Ihre Stimme war so traurig und seltsam, dass Ellemir es nicht ertragen konnte. Sie sagte: »Du liebst Andrew, und du hast deine Wahl aus freiem Willen getroffen«, aber es deutete sich darin eine Frage an. Hatte Callista sich entschlossen, ihren Retter zu heiraten, nur weil dies das Einfachste zu sein schien?

Callista folgte dem Gedanken und erklärte: »Nein, ich liebe ihn. Ich liebe ihn mehr, als ich dir sagen kann. Aber es gibt da ein altes Sprichwort, von dem ich erst heute weiß, wie wahr es ist: Keine Wahl bleibt ganz ohne Reue. Jede Entscheidung wird an Freude und Leid mehr bringen, als wir vorhersehen können. Mein Leben kam mir unveränderbar vor und bereits klar geregelt. Ich würde Leonies Platz in Arilinn übernehmen und dort dienen, bis der Tod oder das Alter mich von der Last befreite. Und das schien mir auch ein gutes Leben zu sein. Liebe, Heirat, Kinder – das waren nicht einmal Tagträume für mich!«

Ihre Stimme zitterte. Ellemir stand auf und setzte sich zu ihrer Schwester auf die Bettkante. In der Dunkelheit ergriff sie ihre Hand.

Callista machte eine unbewusste, automatische Bewegung, um die Hand wegzuziehen, und dann sagte sie kläglich mehr zu sich selbst als zu Ellemir: »Ich glaube, ich muss lernen, das nicht mehr zu tun.«

Ellemir antwortete sanft: »Es würde auch Andrew nicht gefallen.«

Sie spürte, dass Callista unter diesen Worten zusammenzuckte. »Es ist... ein Reflex. Es ist ebenso schwer, ihn mir abzugewöhnen, wie es war, ihn zu lernen.«

Impulsiv rief Ellemir aus: »Du musst sehr einsam gewesen sein, Callista!«

Callistas Antwort schien aus einer verschütteten Tiefe heraufzukommen. »Einsam? Nicht immer. Im Turm sind wir uns näher, als du dir vorstellen kannst. Wir sind alle Teile eines Ganzen. Doch auch in diesem Kreis war ich als Bewahrerin immer abgesondert von den anderen, getrennt durch eine ... eine Barriere, die niemand überschreiten konnte. Es wäre leichter gewesen, in Wahrheit allein zu sein.«

Ellemir merkte, dass ihre Schwester gar nicht mit ihr sprach, sondern zu fernen, nicht mitteilbaren Erinnerungen, und etwas in Worte zu fassen versuchte, über das sie niemals hatte sprechen wollen.

»Die anderen im Turm konnten ... konnten dieser Nähe Ausdruck verleihen. Sie konnten sich berühren. Sich lieben. Eine Bewahrerin erfährt doppelte Einsamkeit. Im Matrix-Kreis ist sie jedem Geist näher als die Übrigen, und trotzdem ist sie für sie nie ... nie ganz wirklich. Sie ist keine Frau, sie ist nicht einmal ein lebendes, atmendes menschliches Wesen. Nur ... nur ein Teil der Schirme und Relais.« Sie hielt inne, in Gedanken wieder in jenem seltsamen, ab geschirmten, einsamen Leben, das sie geführt hatte.

»So viele Frauen versuchen es und versagen. Irgendwie geraten sie in Beziehung zu der menschlichen Seite der anderen Männer und Frauen im Turm. In meinem ersten Jahr in Arilinn sah ich sechs junge Mädchen mit der Ausbildung zur Bewahrerin anfangen und versagen. Und ich war stolz, weil ich das Training aushielt. Es ist... nicht leicht.« Ihr war bewusst, wie lächerlich unangemessen diese Formulierung war. Sie ließ nichts von den Monaten eiserner körperlicher und geistiger Disziplin erkennen, bis ihr Gehirn unglaubliche Kräfte erworben hatte, bis ihr Körper die unmenschlichen Flüsse und Drücke ertragen konnte. Callista schloss leise und bitter: »Jetzt wünschte ich, ich hätte auch versagt!« Sie hörte ihre eigenen Worte, entsetzte sich über sie und verstummte.

Ellemir flüsterte: »Ich wünschte, wir hätten uns nicht so weit voneinander entfernt, Breda.« Beinahe zum ersten Mal benutzte sie das Wort für »Schwester« in der vertraulichen Form; es konnte auch »Liebling« bedeuten.

Callista antwortete eher auf den Ton als auf den Inhalt. »Es war ja nicht so, dass ich... dass ich dich nicht mehr liebte oder nicht mehr an dich dachte, Ellemir. Aber man lehrte mich – oh, du kannst dir nicht vorstellen, wie! –, mich jeden menschlichen Kontaktes zu enthalten. Und du warst meine Zwillingsschwester – ich hatte dir am nächsten gestanden. In meinem ersten Jahr weinte ich mich abends in den Schlaf, weil ich mich so nach dir sehnte. Aber dann ... dann bist du mit dem Rest meines Lebens, das vor Arilinn lag, verschmolzen, warst wie jemand, den ich nur in einem Traum gekannt habe. Später, als mir erlaubt wurde, dich hin und wieder zu sehen, dich zu besuchen, versuchte ich deshalb, dich fern von mir zu halten, dich als Teil des Traums zu sehen, damit ich nicht von jeder neuen Trennung wieder zerrissen wurde. Unsere Lebensbahnen liefen verschiedene Wege, und ich wusste, es musste so sein.«

Die Traurigkeit in ihrer Stimme war schlimmer als Tränen. Um sie zu trösten, legte sich Ellemir impulsiv neben ihre Schwester und nahm sie in die Arme.

Callistas Körper wurde steif, doch dann seufzte sie und blieb still liegen. Ellemir spürte die Anstrengung, die es ihre Schwester kostete, sich ihr nicht zu entwinden. Mit heftigem Zorn dachte sie: Wie konnten sie ihr das antun? Es ist eine Deformierung, als hätten sie aus ihr einen Krüppel oder eine Bucklige gemacht!

Sie drückte die Schwester an sich. »Ich hoffe, wir können wieder einen Weg zueinander finden.«

Callista ließ sich die Umarmung gefallen, wenn sie sie auch nicht erwiderte. »Das hoffe ich auch, Ellemir.«

»Mir kommt es schrecklich vor, dass du nie verliebt warst.«

Ihre Schwester antwortete leichthin: »Oh, so schlimm ist das nicht. Wir standen uns im Turm so nahe, dass ich glaube, auf die eine oder andere Art waren wir immer verliebt.« Es war zu dunkel, um Callistas Gesicht zu erkennen, aber Ellemir spürte ihr Lächeln, als sie hinzusetzte: »Und wenn ich dir nun erzähle, dass Damon noch in Arilinn war, als ich dort anfing, und dass ich mir kurze Zeit einbildete, in ihn verliebt zu sein? Bist du sehr eifersüchtig, Ellemir?«

Ellemir lachte. »Nein, nicht sehr.«

»Er war fertig ausgebildeter Techniker, und er lehrte mich das Überwachen. Natürlich war ich für ihn keine Frau, ich war nur eins der kleinen Mädchen, die er unterrichtete. Es gab für ihn überhaupt keine Frau, ausgenommen Leonie –« Sie unterbrach sich und sagte schnell: »Das ist natürlich lange vorbei.«

Ellemir lachte laut heraus. »Ich weiß, dass Damons Herz ganz mir gehört. Wie könnte ich auf eine Liebe eifersüchtig sein, die ein Mann einer Bewahrerin entgegenbringt, die das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hat?« Ellemir erschrak über ihre eigenen Worte. »Oh, Callista, ich habe nicht gemeint –«

»Doch, das hast du gemeint«, widersprach Callista sanft, »aber Liebe ist Liebe, auch wenn nichts Körperliches dabei im Spiel ist. Wenn ich das nicht schon vorher gewusst hätte, hätte ich es in den Höhlen von Corresanti gelernt, als ich meine Liebe zu Andrew entdeckte. Es war Liebe, und sie war wirklich, und wenn ich du wäre, würde ich nicht verächtlich auf Damons Liebe zu Leonie hinabsehen, als wäre es die Schwärmerei eines grünen Jungen gewesen.« Sie dachte, sprach es jedoch nicht aus, dass diese Liebe genug an Realität gehabt hatte, um Leonies Frieden zu stören, auch wenn niemand außer Callista je etwas davon geahnt hatte.

Sie hat recht getan, Damon wegzuschicken ...

»Mir kommt es merkwürdig vor, ohne Begehren zu lieben«, sagte Ellemir, »und, was du auch sagst, nicht ganz wirklich.«

»Männer haben mich begehrt«, erwiderte Callista ruhig, »ungeachtet des Tabus. Das kommt vor. Meistens hat es in mir gar nichts erregt, es gab mir nur das Gefühl, als ob ... als ob schmutzige Insekten über meinen Körper kröchen. Aber es gab Fälle, in denen ich mir beinahe wünschte, ich wüsste, wie ich dies Begehren erwidern könne.«

Plötzlich brach ihre Stimme. Ellemir hörte einen wilden Unterton heraus, der ganz wie Entsetzen klang. »Oh, Ellemir, Elli, wenn ich selbst vor deiner Berührung zurückschrecke – vor der Berührung meiner Zwillingsschwester – was werde ich Andrew antun? Oh, gnädiger Avarra, wie tief werde ich ihn verletzen?«

»Breda, Andrew liebt dich, sicher wird er verstehen ...«

»Vielleicht ist es nicht genug, dass er versteht! Oh, Elli, selbst wenn es jemand wie Damon wäre, der die Gebräuche der Türme kennt, der weiß, was eine Bewahrerin ist, hätte ich Angst! Und Andrew weiß oder versteht es nicht, und es gibt keine Worte, es ihm zu sagen! Und auch er hat die einzige Welt verlassen, die er je kannte, und was kann ich ihm dafür geben?«

Ellemir beschwichtigte sie: »Aber du bist von dem Bewahrerinneneid entbunden worden.« Die Gewohnheit vieler Jahre, das war ihr klar, konnte nicht in einem Tag durchbrochen werden, doch sobald Callista sich von ihren Ängsten befreit hatte, würde sicher alles gut werden. Sie drückte Callista an sich und sagte zärtlich: »Die Liebe ist nichts, wovor man sich zu fürchten hat, Breda, auch wenn sie dir seltsam oder erschreckend Vorkommen mag.«

»Ich wusste, du würdest es nicht verstehen.« Callista seufzte. »Im Turm waren andere Frauen, die nicht nach den Gesetzen für Bewahrerinnen lebten, die frei waren, der Verbundenheit, die uns alle umschlang, Ausdruck zu geben. Es war so viel ... so viel Liebe unter uns, und ich wusste, wie glücklich es sie machte, zu lieben oder auch nur das Verlangen zu befriedigen, wenn es keine Liebe war, sondern nur ... Bedürfnis – und Freundlichkeit.« Sie seufzte noch einmal. »Ich bin nicht unwissend, Ellemir«, erklärte sie mit eigentümlicher, verlorener Würde. »Unerfahren, ja, weil ich bin, was ich bin, aber nicht unwissend. Ich habe gelernt, mir dessen nicht ... nicht sonderlich bewusst zu sein. Es war auf diese Weise einfacher, aber ich wusste Bescheid, o ja. Ebenso wie ich zum Beispiel weiß, dass du Liebhaber vor Damon gehabt hast.«

Ellemir lachte. »Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht. Wenn ich zu dir nicht darüber sprach, dann nur, weil ich die Gesetze kenne, unter denen du lebtest – sie wenigstens so gut kannte, wie sie ein Außenstehender kennen kann –, und das schien eine Mauer zwischen uns zu sein.«

»Aber du musst doch erkannt haben, dass ich dich darum beneidete«, sagte Callista. Ellemir setzte sich im Bett hoch und sah ihre Zwillingsschwester überrascht und schockiert an. Sie konnten sich nur undeutlich sehen. Eine kleine grüne Mondsichel hing blass vor ihrem Fenster. Stockend fragte Ellemir: »Beneiden ... mich? Ich dachte ... ich war überzeugt, eine Bewahrerin, die ihr Gelübde abgelegt hat, würde mich verachten oder es als Schande ansehen, dass ich – dass eine Comynara auch nicht anders ist als eine Bauersfrau oder ein Tierweibchen in Hitze.«

»Dich verachten? Niemals!«, versicherte Callista. »Wenn wir Bewahrerinnen nicht viel darüber sprechen, dann nur aus Furcht, wir könnten nicht im Stande sein, unsere Andersartigkeit zu ertragen. Sogar die anderen Frauen in den Türmen, die unsere Isolation nicht teilen, betrachten uns als fremdartig, als beinahe nichtmenschlich ... Absonderung, Stolz wird unsere einzige Verteidigung. Es ist, als wollten wir eine Wunde verbergen, unsere eigene ... Unvollständigkeit verbergen.«

Ihre Stimme bebte. Ellemir dachte, dass das Gesicht ihrer Schwester in dem trüben Mondlicht tatsächlich nichtmenschlich leidenschaftslos aussah, als sei es in Stein gehauen. Ihr war, als sei Callista herzzerreißend fern von ihr, als sprächen sie über eine große, schmerzende Kluft hinweg.

Ihr ganzes Leben lang hatte Ellemir gelernt, von einer Bewahrerin als einer weit über ihr stehenden Person zu denken, die verehrt, beinahe angebetet werden musste. Sogar ihre eigene Schwester, ihr Zwilling, war wie eine Göttin, weit außer Reichweite. Einen Augenblick lang hatte sie die schwindelnde Vorstellung, es sei umgekehrt, und das erschütterte ihre Überzeugungen. Jetzt war es Callista, die zu ihr aufblickte, sie beneidete, Callista, die auf gewisse Weise jünger war als sie und viel verwundbarer, nicht mehr in die ferne Majestät Arilinns gekleidet, sondern eine Frau wie sie, zerbrechlich, unsicher ... Sie flüsterte: »Ich wünschte, ich hätte das über dich früher gewusst, Callie.«

»Ich wünschte, ich hätte es über mich selbst gewusst.« Callista lächelte traurig. »Wir werden nicht ermutigt, viel über diese Dinge nachzudenken oder über anderes außer unserer Arbeit. Ich fange erst an, mich als Frau zu entdecken, und ich ... weiß nicht recht, wie ich damit anfangen soll.« Für Ellemir klang das wie ein unglaublich trauriges Geständnis. Nach einer Pause sprach Callista leise in die Dunkelheit: »Ellemir, ich habe dir von meinem Leben berichtet, was ich kann. Erzähle mir etwas von deinem. Ich will dich nicht drängen, aber du hast Liebhaber gehabt. Erzähle mir darüber.«

Ellemir zögerte, spürte jedoch, dass hinter der Frage mehr stand als einfache sexuelle Neugier. Die war auch da, und in Anbetracht der Art, wie Callista gezwungen worden war, in der Zeit als Bewahrerin diese Seite ihres Wesens zu unterdrücken, war es ein gesundes Zeichen und eine gute Vorbedeutung für ihre Ehe. Aber da war noch mehr, da war der Wunsch, an Ellemirs Leben in den Jahren ihrer Trennung teilzunehmen. Diesem Verlangen impulsiv entsprechend, sagte sie: »Es war in dem Jahr, als Dorian heiratete. Hast du Mikhail überhaupt kennen gelernt?«

»Ich habe ihn bei der Trauung gesehen.« Ihre ältere Schwester Dorian hatte einen Nedestro-Cousin von Lord Ardais geheiratet. »Er kam mir wie ein freundlicher, redegewandter junger Mann vor, aber ich habe nicht mehr als ein paar Dutzend Worte mit ihm gewechselt. Ich hatte Dorian seit unserer Kindheit so selten gesehen.«

»Es war in jenem Winter«, führ Ellemir fort. »Dorian bat mich, den Winter bei ihr zu verbringen. Sie war einsam und bereits schwanger und hatte unter den Bergfrauen wenige Freundinnen gefunden. Vater gab mir die Erlaubnis, sie zu besuchen. Und später im Frühling war Dorian so schwer geworden, dass es ihr kein Vergnügen mehr machte, Mikhails Bett zu teilen. Da waren er und ich aber schon so gute Freunde geworden, dass ich ihren Platz dort einnahm.« Sie kicherte ein wenig in Gedanken daran.

»Du warst nicht älter als fünfzehn!«, rief Callista erschrocken.

Ellemir antwortete lachend: »Das ist alt genug zum Heiraten. Dorian war nicht älter gewesen. Ich wäre auch verheiratet worden, wenn Vater nicht gewünscht hätte, dass ich zu Hause blieb und die Wirtschaft führte.«

Wieder spürte Callista den grausamen Neid, die verzweifelte Entfremdung. Wie einfach war es für Ellemir gewesen, und wie richtig! Und wie anders für sie! »Hat es andere gegeben?«

Ellemir lächelte in der Dunkelheit. »Nicht viele. Ich lernte bei Mikhail, dass es mir gefiel, bei einem Mann zu liegen, aber ich wollte nicht, dass über mich geklatscht werde wie über Sybil-Mhari, von der man sich skandalöse Geschichten erzählt. Hast du gehört, dass sie sich Liebhaber unter den Wachtposten oder sogar den Dienern sucht? Und ich wollte kein Kind austragen, das großzuziehen man mir nicht erlauben würde, wenn auch Dorian versprach, sollte ich Mikhail ein Kind gebären, werde sie es als ihres annehmen. Ebenso wenig wollte ich in aller Eile mit jemandem verheiratet werden, den ich nicht mochte, was Vater im Falle eines Skandals bestimmt veranlasst hätte. Deshalb gibt es nicht mehr als zwei oder drei Männer, die sagen könnten, wenn sie wollten, sie hätten von mir mehr gehabt als einen Handkuss in der Mittsommernacht. Und Damon hat geduldig gewartet...«

Sie lachte leise, erregt. Callista streichelte das weiche Haar ihrer Zwillingsschwester.

»Jetzt ist das Warten fast vorbei, Liebes.«

Ellemir schmiegte sich eng an ihre Schwester. Sie spürte Callistas Ängste, den Widerstreit ihrer Gefühle, doch immer noch missverstand sie deren Natur.

Sie hat das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt, dachte Ellemir, sie hat ein von Männern abgesondertes Leben geführt. Da ist es kein Wunder, dass sie sich fürchtet. Aber einmal wird sie begreifen, dass sie frei ist, und Andrew wird freundlich und geduldig sein, und so wird auch sie ihr Glück finden ... ein Glück wie meines ... und Damons.

Sie standen in lockerem Rapport, und Callista folgte Ellemirs Gedanken, doch sie wollte ihre Schwester nicht beunruhigen, indem sie ihr sagte, dass es längst nicht so einfach war.

»Wir sollten schlafen, Breda. Morgen ist unser Hochzeitstag, und morgen Nacht«, setzte sie neckend hinzu, »wird Damon dich vielleicht nicht viel schlafen lassen.«

Lachend schloss Ellemir die Augen. Callista lag ruhig da. Der Kopf ihrer Zwillingsschwester ruhte an ihrer Schulter. Sie starrte in die Dunkelheit. Dann spürte sie, dass der Faden des Rapports zwischen ihnen dünner wurde und Ellemir in Träume davonglitt. Ihre Schwester schlief. Leise glitt Callista aus dem Bett und trat ans Fenster. Sie blickte hinaus auf die vom Mondlicht erhellte Landschaft. So stand sie da, bis sie verkrampft und kalt war, bis die Monde untergingen und ein dünner, feiner Regen die Fensterscheibe trübte. Die jahrelange strenge Disziplin ermöglichte es ihr, nicht zu weinen.

Ich kann es hinnehmen und ertragen, wie ich so vieles ertragen habe. Aber was ist mit Andrew? Kann ich ertragen, was es ihm antun wird, was es seiner Liebe antun mag? Stunde auf Stunde stand sie so, aber sie spürte ihren Körper nicht mehr. Ihr Geist hatte sich in eins der Reiche jenseits der Gedanken zurückgezogen, das man Zuflucht vor quälenden Vorstellungen gezeigt hatte. Den verkrampften, eiskalten Körper, den zu verachten sie gelehrt worden war, ließ sie zurück.

In der Morgendämmerung ging der Regen in dünnen Schneematsch über, der an die Scheibe prasselte. Ellemir bewegte sich, fühlte im Bett nach ihrer Schwester, setzte sich verwirrt hoch und entdeckte Callista bewegungslos am Fenster. Sie stand auf und lief zu ihr, sie rief ihren Namen, aber Callista hörte sie nicht und rührte sich nicht.

Vor Angst schrie Ellemir auf. Callista, die weniger die Stimme als die Angst in Ellemirs Gedanken hörte, kam langsam in die Wirklichkeit zurück. »Es ist alles in Ordnung, Ellemir.« Liebevoll blickte sie in das ihr zugewandte furchtsame Gesicht.

»Du bist so kalt, Liebes, ganz steif und kalt. Komm wieder ins Bett, lass mich dich wärmen«, drängte Ellemir. Callista ließ es zu, dass ihre Schwester sie zum Bett führte, sie warm zudeckte und fest an sich drückte. Nach langer Zeit gestand sie, beinahe flüsternd: »Ich habe es falsch gemacht, Elli.«

»Falsch? Was denn, Breda?«

»Ich hätte in Andrews Bett gehen sollen, gleich nachdem er mich aus den Höhlen geholt hatte. Nach der langen Zeit allein im Dunkeln, nach all der Angst war meine Abwehr schwach.« Mit schmerzlicher Reue erinnerte sie sich, wie er mit ihr aus Corresanti davongeritten war, wie sie warm und furchtlos in seinen Armen geruht hatte. »Dann war hier so viel Aufregung, Vater war zum Krüppel geworden, das Haus war mit Verwundeten gefüllt. Wie dem auch sei, damals wäre es leichter gewesen.«

Ellemir war geneigt, dem zuzustimmen. Doch Callista war nicht die Art Frau, die so etwas ohne Rücksicht auf die Gefühle ihres Vaters und ihren Bewahrerinneneid hätte tun können. Und Lord Alton hätte es so sicher erfahren, als ob Callista es vom Dach hinuntergeschrien hätte.

»Du warst selbst krank, Liebes. Andrew hat das bestimmt verstanden.«

Aber Callista fragte sich: War die lange Krankheit, die auf ihre Rettung folgte, vielleicht eine Reaktion auf ihr Versagen gewesen? Vielleicht hatten sie eine Gelegenheit versäumt, die niemals wiederkam. Sie hätten zusammenkommen können, als sie beide vor Leidenschaft brannten und es keinen Raum gab für Zweifel und Ängste. Sogar Leonie hatte es für wahrscheinlich gehalten, dass sie es getan hatte.

Warum habe ich es nicht getan? Und jetzt, jetzt ist es zu spät ...

Ellemir gähnte. Dann lächelte sie strahlend.

»Es ist unser Hochzeitstag, Callista!«

Callista schloss die Augen. Mein Hochzeitstag. Und ich kann Ellemirs Freude nicht teilen. Ich liebe ebenso wie sie, und doch bin ich nicht froh ... Sie fühlte den wilden Drang, sich mit ihren Nägeln zu zerfleischen, sich mit ihren Fäusten zu schlagen, die Schönheit zu bestrafen, die ein so leeres Versprechen war, den Körper, der ganz wie der einer begehrenswerten Frau aussah – und doch nur eine hohle Schale war. Aber Ellemir sah sie besorgt und fragend an, und so zwang sie sich, fröhlich zu lächeln.

»Unser Hochzeitstag.« Callista küsste ihre Zwillingsschwester. »Bist du glücklich, Liebling?«

Und für eine kleine Weile gelang es ihr, in Ellemirs Freude ihre eigenen Ängste zu vergessen.

Der verbotene Turm

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