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Andrew Carr, der sich im äußeren Hof von Armida aufhielt, sah die sich nähernden Reiter. Er rief Stallknechte und Diener herbei, die sich um die Pferde kümmern sollten, und ging in die Haupthalle, um ihr Kommen anzukündigen.

»Damon kommt zurück!«, rief Ellemir aufgeregt und lief in den Hof hinaus. Andrew folgte langsamer. Callista hielt sich dicht an seiner Seite.

»Es ist nicht Damon allein«, sagte sie, und Andrew wusste, ohne zu fragen, dass sie ihr Psi-Wahrnehmungsvermögen benutzt hatte, um die Identität der Reiter festzustellen. Er war jetzt daran gewöhnt, und es erschien ihm nicht mehr unheimlich oder Angst einflößend.

Sie lächelte zu ihm auf, und von neuem war Andrew ergriffen von ihrer Schönheit. Er neigte dazu, diese Schönheit zu vergessen, wenn er sie nicht ansah. Bevor er das erste Mal seine Augen auf sie richtete, hatte er ihren Geist und ihr Herz, ihre Sanftheit, ihren Mut, ihr schnelles Verstehen kennen gelernt. Er wusste ihren Wert, ihre Fröhlichkeit und ihren Witz schon zu schätzen, als sie noch allein und verängstigt in der Dunkelheit von Corresanti eingekerkert war.

Aber sie war auch schön, sehr schön, eine schlanke, lang-gliedrige junge Frau mit kupferigem Haar, das ihr in losen Zöpfen über den Rücken hing, und grauen Augen unter geraden Brauen. Während sie mit ihm dahinschritt, stellte sie fest: »Es ist Leonie, die Leronis von Arilinn. Sie ist gekommen, wie ich sie gebeten habe.«

Er nahm ihre Hand leicht in seine, obwohl das immer ein Risiko war. Er wusste, sie war durch Methoden, die er sich nicht einmal vorstellen konnte, darauf konditioniert worden, auch die leiseste Berührung zu vermeiden. Aber diesmal ließ sie ihre Hand, wenn sie auch bebte, in der seinen liegen. Das schwache Zittern verriet, dass in ihrem Inneren, unter der anerzogenen Ruhe, ein Sturm sie schüttelte. Andrew konnte auf den schlanken Händen und Handgelenken eine Anzahl winziger Narben erkennen, die nach verheilten Schnitten oder Brandwunden aussahen. Einmal hatte er sie danach gefragt. Sie hatte es mit einem Schulterzucken abgetan. »Sie sind alt und lange verheilt. Sie waren ... Stützen für mein Gedächtnis.« Sie war nicht bereit gewesen, weiter darüber zu sprechen, aber er konnte erraten, was sie meinte, und von neuem schüttelte ihn das Entsetzen. Würde er diese Frau jemals richtig kennen lernen?

»Ich dachte, du seist die Bewahrerin von Arilinn, Callista«, bemerkte er nun.

»Leonie war schon Bewahrerin, bevor ich geboren wurde. Ich wurde von Leonie ausgebildet, um eines Tages ihren Platz einzunehmen. Ich hatte bereits begonnen, als Bewahrerin zu arbeiten. Ihre Sache ist es, mich freizugeben, wenn sie will.« Wieder war da das schwache Erschauern, der schnell zurückgezogene Blick. Welche Macht hatte diese fürchterliche alte Frau über Callista?

Andrew sah, dass Ellemir auf das Tor zurannte. Wie ähnlich war sie Callista – die gleiche hoch gewachsene Schlankheit, das gleiche kupferig-goldene Haar, die gleichen grauen Augen, dunklen Wimpern, geraden Brauen – und doch unterschied sich Ellemir so stark von ihrer Zwillingsschwester! Mit einer Traurigkeit, so tief, dass er sie nicht als Neid erkannte, beobachtete Andrew Ellemir, die zu Damon eilte. Er sah ihn aus dem Sattel gleiten und sie auffangen, sie umarmen und lange küssen. Würde Callista jemals so frei werden?

Callista führte ihn zu Leonie, der einer ihrer Begleiter vorsichtig aus dem Sattel geholfen hatte. Callistas schlanke Finger lagen immer noch in seiner Hand als Geste des Trotzes, als absichtlicher Bruch des Tabus. Er wusste, sie wollte, dass Leonie es sah. Damon stellte der Bewahrerin gerade Ellemir vor.

»Ihr erweist uns Gnade, meine Dame. Willkommen in Armida.«

Leonie schob ihre Kapuze zurück, und Andrew sah sie forschend an. Da er sich auf eine grässliche, herrschsüchtige alte Schachtel gefasst gemacht hatte, war es ein Schock für ihn, nur eine zarte, dünne, alternde Frau zu erblicken, deren Augen unter den dunklen Wimpern immer noch liebreizend waren und deren Gesicht Spuren früherer bemerkenswerter Schönheit trug. Sie sah nicht streng oder einschüchternd aus. Freundlich lächelte sie Ellemir an.

»Du siehst Callista sehr ähnlich, Kind. Deine Schwester hat mich gelehrt, dich zu lieben; ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen.« Ihre Stimme war hell und klar und sehr weich. Dann wandte sie sich Callista zu und streckte ihr begrüßend die Hände entgegen.

»Geht es dir wieder gut, Chiya?« Es war eine ziemliche Überraschung, dass irgendwer die hoch gewachsene Callista »kleines Mädchen« nannte. Callista ließ Andrews Hand los. Ihre Fingerspitzen streiften nur eben die Leonies.

»O ja, ganz gut«, antwortete sie lachend, »aber ich schlafe immer noch wie ein Wickelkind mit einem Licht in meinem Zimmer, damit ich nicht in der Dunkelheit aufwache und glaube, wieder in den verfluchten Höhlen der Katzenwesen zu sein. Schämst du dich meiner, Verwandte?«

Andrew verbeugte sich förmlich. Er kannte die Sitten von Darkover gut genug, dass er die Leronis nicht direkt ansah, aber er fühlte Leonies graue Augen auf sich ruhen. Callista sagte mit ein wenig Herausforderung in der Stimme: »Das ist Andrew, mein versprochener Gatte.«

»Still, Chiya, du hast noch nicht das Recht, so zu sprechen«, verwies Leonie sie. »Wir wollen später darüber reden. Jetzt muss ich erst meinen Gastgeber begrüßen.«

So an ihre Pflichten als Gastgeberin erinnert, ließ Ellemir Damons Hand los und führte Leonie die Stufen hinauf. Andrew und Callista folgten. Doch als er nach Callistas Hand fasste, entzog sie sie ihm – nicht absichtlich, sondern mit langjähriger geistesabwesender Gewohnheit. Er merkte, sie wusste nicht einmal mehr, dass er da war.

Die Große Halle von Armida war ein enormer Raum mit Steinfußboden, in der alten Art mit eingebauten Bänken entlang der Wände und ehrwürdigen Bannern und Waffen über dem großen steinernen Kamin eingerichtet. Am einen Ende der Halle war ein Tisch fest eingemauert. In seiner Nähe lag Dom Esteban Lanart, Lord Alton, von Kissen gestützt auf einem fahrbaren Bett. Er war ein großer, schwerer Mann mit breiten Schultern und dichtem, lockigem rotem Haar, das reichlich mit Grau gesprenkelt war. Als die Gäste eintraten, befahl er gereizt: »Dezi, Junge, richte mich für meine Gäste hoch.« Ein junger Mann, der auf einer der Bänke saß, sprang auf, stopfte ihm geschickt Kissen in den Rücken und hob den alten Mann in sitzende Position. Damon hatte anfangs gedacht, der Junge sei einer von Estebans Leibdienern, doch dann bemerkte er die starke Familienähnlichkeit zwischen dem alten Comyn-Lord und dem Jüngling, der ihm behilflich war.

Er war noch ein Junge, dünn wie eine Peitschenschnur, mit lockigem rotem Haar und Augen, die eher blau als grau waren, aber die Gesichtszüge waren beinahe die von Ellemir.

Er gleicht Coryn, dachte Damon. Coryn war Dom Estebans erstgeborener Sohn gewesen, von seiner längst toten ersten Frau. Viele Jahre älter als Ellemir und Callista, war er Damons geschworener Freund geworden, als sie beide junge Burschen waren. Aber Coryn war seit vielen Jahren tot und begraben. Und er war nicht alt genug geworden, um einen Sohn in diesem Alter zu hinterlassen – nicht ganz alt genug. Trotzdem ist der Junge ein Alton, dachte Damon. Aber wer ist er? Ich habe ihn noch nie gesehen!

Leonie schien ihn jedoch sofort wieder zu erkennen. »Dann hast du also einen Platz für dich gefunden, Dezi?«

Der Junge antwortete mit gewinnendem Lächeln: »Lord Alton hat nach mir geschickt, damit ich mich hier nützlich mache, meine Dame.«

Esteban Lanart sagte: »Sei gegrüßt, Verwandte. Verzeih mir, dass ich mich nicht erheben kann, um dich in meiner Halle willkommen zu heißen. Du erweist mir Gnade, Domna.« Er bemerkte, in welche Richtung Damon blickte, und setzte ungezwungen hinzu: »Ich hatte vergessen, dass du unsern Dezi noch nicht kennst. Sein Name ist Deziderio Leynier. Es wird angenommen, dass er der Nedestro-Sohn eines meiner Cousins ist, doch der arme Gwynn starb, bevor er sich dazu aufgerafft hatte, ihn zu legitimieren. Wir haben ihn auf Laran getestet – er war ein paar Monate in Arilinn –, aber als ich jemanden brauchte, der sich ständig um mich kümmert, fiel Ellemir ein, dass er inzwischen nach Hause gekommen war, und so schickte ich nach ihm. Er ist ein guter Junge.«

Damon war empört. Wie gleichgültig, fast brutal hatte Dom Esteban in Dezis Anwesenheit von seinem Status als Bastard und armer Verwandter gesprochen! Dezis Mund war schmal geworden, aber er blieb ruhig, und Damon fühlte Sympathie für ihn. Also hatte der junge Dezi auch erfahren, was es bedeutet, erst die Wärme und Geborgenheit eines Turmkreises kennen zu lernen und dann ausgestoßen zu werden!

»Verdammt noch mal, Dezi, das sind genug Kissen! Hör auf, mich zu betütteln!«, befahl Esteban. »Ja, Leonie, das ist keine Art, dich nach so vielen Jahren unter meinem Dach willkommen zu heißen. Aber du musst den guten Willen für die Tat nehmen und dich als gebührend mit Verbeugungen und allen Höflichkeiten bedacht betrachten, wie ich sie dir zukommen lassen müsste und zukommen lassen würde, wenn ich mich von diesem verfluchten Bett erheben könnte!«

»Ich brauche keine Höflichkeiten, Cousin.« Leonie trat näher. »Es tut mir nur Leid, dich so wieder zu finden. Ich hatte gehört, dass du verwundet worden bist, aber ich wusste nicht, wie ernst es war.«

»Das wusste ich auch nicht. Es war eine kleine Wunde – ich habe schon tiefere und schmerzhaftere von einem Angelhaken gehabt –, aber klein oder groß, das Rückgrat war verletzt, und wie mir gesagt wird, werde ich nie wieder gehen können.«

Leonie meinte: »Das ist oft so bei Rückgratverletzungen. Du hast noch Glück, dass du deine Hände gebrauchen kannst.«

»O ja, ich glaube auch. Ich kann in einem Sessel sitzen, und Damon hat eine Stütze für meinen Rücken erfunden, so dass ich nicht umfalle wie ein Baby, das noch zu klein für sein hohes Stühlchen ist. Und Andrew hilft mir, das Gut und den Viehbestand zu beaufsichtigen, während Dezi Botengänge für mich erledigt. Ich kann immer noch von meinem Sessel aus regieren, und so bin ich wohl glücklich zu nennen, wie du sagst. Aber ich war Soldat, und jetzt ...« Er brach ab und zuckte die Schultern. »Damon, mein Junge, wie ist dein Feldzug verlaufen?«

»Da gibt es wenig zu erzählen, Schwiegervater«, antwortete Damon. »Die Katzenmänner, die nicht tot sind, haben sich in ihre Wälder geflüchtet. Ein paar leisteten noch einmal Widerstand, aber sie starben. Sonst war nichts.«

Esteban lachte trocken. »Man erkennt gleich, dass du kein Soldat bist, Damon! Auch wenn ich Grund zu der Annahme habe, dass du kämpfen kannst, wenn du musst. Eines Tages, Leonie, wird man überall erzählen, wie Damon mein Schwert gegen die Katzenmänner nach Corresanti trug, im Geist durch die Matrix vereinigt – aber dafür ist ein anderes Mal Zeit. Ich glaube, wenn ich jetzt Einzelheiten über den Feldzug und die Schlachten wissen will, muss ich Eduin fragen; er weiß, was ich hören möchte! Und du, Leonie, bist du hergekommen, um mein törichtes Mädchen wieder zur Vernunft zu bringen und sie nach Arilinn mitzunehmen, wo sie hingehört?«

»Vater!«, protestierte Callista. Leonie lächelte schwach.

»So leicht ist das nicht, Cousin, und ich bin überzeugt, das weißt du auch.«

»Verzeih mir, Verwandte.« Esteban blickte betreten drein. »Ich lasse es an Gastfreundlichkeit fehlen. Ellemir wird dir deine Räume zeigen – verdammt sei das Mädchen, wohin ist sie verschwunden?« Er hob seine Stimme zu dem Ruf: »Ellemir!«

Ellemir trat hastig durch die Tür an der Rückseite. Sie wischte sich die mehlbestäubten Hände an ihrer langen Schürze ab. »Die Mädchen riefen mich, ihnen beim Backen zu helfen, Vater – sie sind jung und unausgebildet. Verzeiht mir, Verwandte.« Sie schlug die Augen nieder und versteckte ihre mehligen Hände. Leonie sagte freundlich: »Entschuldige dich doch nicht dafür, eine gewissenhafte Haushälterin zu sein, mein Mädchen.«

Ellemir bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Ich habe ein Zimmer für Euch herrichten lassen, meine Dame, und ein zweites für Eure Begleiterin. Dezi wird für die Unterbringung Eurer Eskorte sorgen. Willst du so gut sein, Cousin?« Damon stellte fest, dass Ellemir mit Dezi wie mit einem Familienangehörigen sprach; er hatte auch bemerkt, dass Callista es nicht tat. Damon sagte: »Wir beide werden dafür sorgen, Ellemir«, und ging mit Dezi hinaus.

Ellemir führte Leonie und ihre Begleiterin (ohne eine solche wäre es für eine Frau von Comyn-Blut skandalös gewesen, eine so weite Reise zu machen) die Treppe hinauf und durch die breiten Korridore des alten Hauses. Leonie fragte: »Führst du diesen großen Haushalt ganz allein, Kind?«

»Nur in der Zeit, wenn der Rat tagt«, antwortete Ellemir, »und unser Coridom ist alt und sehr erfahren.«

»Aber du hast keine verantwortliche Frau, keine Verwandte oder Gesellschafterin? Du bist zu jung, eine solche Bürde allein zu tragen, Ellemir.«

»Mein Vater hat sich noch nicht beschwert«, entgegnete Ellemir. »Ich habe für ihn den Haushalt geführt, seit meine ältere Schwester heiratete; damals war ich fünfzehn.« Sie sprach mit Stolz, und Leonie lächelte.

»Ich habe dir nicht die Fähigkeit abgesprochen, kleine Cousine. Ich meinte nur, dass du sehr einsam sein musst. Wenn Callista nicht bei dir ist, müsste meiner Meinung nach eine Freundin für eine Weile zu Besuch kommen. Du bist bereits überlastet, jetzt, wo dein Vater so viel Fürsorge braucht, und wie willst du fertig werden, wenn Damon dich sofort schwängert?«

Ellemir errötete schwach. »Daran hatte ich nicht gedacht...«

»Nun, eine Jungvermählte muss früher oder später daran denken«, sagte Leonie. »Vielleicht könnte eine von Damons Schwestern herkommen und dir Gesellschaft leisten – Kind, das ist mein Zimmer? Ich bin an solchen Luxus nicht gewöhnt!«

»Es war die Suite meiner Mutter«, erklärte Ellemir. »Nebenan ist ein Zimmer, wo Eure Dame schlafen kann, aber ich hoffe, Ihr habt Eure eigene Zofe mitgebracht, denn Callista und ich haben keine, die wir Euch zur Verfügung stellen könnten. Die alte Bethiah, die unsere Kinderfrau war, starb bei dem Überfall, als Callista entführt wurde, und uns war das Herz zu schwer, als dass wir bisher eine andere an ihre Stelle gesetzt hätten. Dann sind nur noch die Küchenmädchen und dergleichen auf dem Gut.«

»Ich halte keine Zofe«, sagte Leonie. »Im Turm ist das Letzte, was wir uns wünschen, Außenseiter in unserer Nähe zu haben. Das wird dir Damon sicher erzählt haben.«

»Nein, er spricht nie von seiner Zeit im Turm«, antwortete Ellemir, und Leonie fuhr fort: »Jedenfalls halten wir keine menschlichen Diener, auch wenn der Preis ist, dass wir für uns selbst sorgen müssen. Deshalb werde ich sehr gut zurechtkommen, Kind.« Ellemir stieg die Treppe hinab und dachte erstaunt: Sie ist freundlich; – ich mag sie! Aber vieles, was Leonie gesagt hatte, beunruhigte sie. Langsam wurde ihr klar, dass es manches gab, was sie von Damon nicht wusste. Sie hatte es als selbstverständlich hingenommen, dass Callista keine Dienerinnen um sich haben mochte, und ihrer Zwillingsschwester nicht in ihre Angelegenheiten hineingeredet. Aber nun erkannte sie, dass Damons Jahre im Turm, diese Jahre, von denen er niemals sprach – und sie hatte gelernt, dass es ihn unglücklich machte, wenn sie danach fragte – immer wie eine Barrikade zwischen ihr und Damon liegen würden.

Und Leonie hatte gesagt: »Wenn Callista nicht bei dir ist.« Wieso? Konnte Callista tatsächlich nach Arilinn zurückgeschickt, gegen ihren Willen dazu überredet werden, dass ihre Pflicht dort lag? Oder – Ellemir erschauerte – war es möglich, dass Callista gezwungen würde, ihre Drohung wahr zu machen, falls Leonie sie nicht freigab, Armida, ja, Darkover zu verlassen und mit Andrew zu den Welten der Terraner davonzulaufen?

Ellemir wünschte, sie hätte auch nur eine Spur der gelegentlichen Vorausschau, die hin und wieder bei denen von Alton-Blut auftrat. Aber der Blick in die Zukunft war ihr verschlossen. Sosehr sie sich mühte, ihre Gedanken vorauszuwerfen, sie konnte doch nichts sehen als ein beunruhigendes Bild von Andrew, der vorgebeugt das Gesicht mit den Händen deckte und weinte, und sein ganzer Körper wurde geschüttelt von unerträglichem Kummer. Nun machte sie sich Sorgen. Langsam ging sie in die Küche und suchte bei ihren vernachlässigten Kuchen Vergessen.

Ein paar Minuten später meldete sich die Begleiterin Leonies – eine trübe und farblose Frau namens Lauria – bei Callista und richtete ehrerbietig aus, die Lady von Arilinn wünsche allein mit Domna Callista zu sprechen. Widerstrebend erhob sich Callista und streckte Andrew ihre Fingerspitzen entgegen. In ihren Augen saß die Furcht, und er erklärte mit grimmigem Unterton: »Du brauchst ihr nicht allein gegenüberzutreten, wenn du nicht möchtest. Ich lasse es nicht zu, dass die alte Frau dich ängstigt! Soll ich mitkommen und ihr meine Meinung sagen?«

Callista ging auf die Treppe zu. Außerhalb des Zimmers, im Korridor drehte sie sich zu ihm um. »Nein, Andrew, das muss ich allein durchmachen. Du kannst mir jetzt nicht helfen.« Andrew wünschte, er könne sie in die Arme nehmen und trösten. Aber Andrew hatte unter Schmerz und Frustration gelernt, dass Callista so nicht getröstet werden konnte, dass er sie nicht einmal berühren durfte, ohne einen ganzen Komplex von Reaktionen heraufzubeschwören, die er bis heute nicht verstand, die aber Callista in Schrecken zu versetzen schienen. So sagte er nur liebevoll: »Mach es auf deine Weise, mein Herz. Aber lass dich von ihr nicht einschüchtern. Denke daran, ich liebe dich. Und wenn sie uns hier nicht heiraten lassen, dann gibt es immer noch eine ganze große Welt außerhalb von Armida. Und eine Menge Welten in der Galaxis außer dieser, falls du das vergessen haben solltest.«

Sie blickte zu ihm auf und lächelte. Manchmal dachte sie, wenn sie ihn zuerst auf normale Weise gesehen und nicht durch die Vereinigung ihrer Gedanken in der Matrix kennen gelernt hätte, dann wäre er ihr nie gut aussehend vorgekommen. Vielleicht hätte sie ihn sogar hässlich gefunden. Er war ein großer, breiter Mann, hellhaarig wie ein Trockenstädter, unordentlich, linkisch – und trotzdem, wie lieb war er ihr geworden, wie sicher fühlte sie sich in seiner Gegenwart! Sie wünschte mit Schmerzen, dass sie sich in seine Arme werfen und sich an ihn schmiegen könne, wie Ellemir es so zwanglos mit Damon tat, aber die alte Furcht lähmte sie. Doch sie legte ihre Fingerspitzen auf seine Lippen, was selten geschah. Er küsste sie, und sie lächelte. Sie sagte leise: »Und ich liebe dich, Andrew. Falls du das vergessen haben solltest.« Damit stieg sie die Treppe hinauf zu dem Zimmer, in dem Leonie auf sie wartete.

Der verbotene Turm

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