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An diesem Morgen half Damon Dom Esteban in den für ihn angefertigten Rollstuhl. »So könnt Ihr aufrecht sitzend an der Hochzeit teilnehmen und braucht nicht wie ein Invalide flach auf dem Bett zu liegen!«

»Es ist ein seltsames Gefühl, sich wieder in der Senkrechten zu befinden.« Der alte Mann hielt sich mit beiden Händen fest. »Mir ist schwindelig, als wäre ich bereits betrunken.«

»Ihr habt zu lange auf dem Rücken gelegen«, stellte Damon sachlich fest. »Bald werdet Ihr Euch daran gewöhnt haben.«

»Nun, besser, ich sitze, als ich bin auf Kissen hochgestützt wie eine Frau im Kindbett! Und wenigstens sind meine Beine noch da, wenn ich sie auch nicht fühlen kann.«

»Sie sind noch da«, versicherte Damon ihm, »und wenn jemand Euren Stuhl schiebt, könnt Ihr zu ebener Erde überall hin.«

»Das wird eine Erleichterung sein«, sagte Esteban. »Ich habe es satt, diese Decke anzusehen! Wenn der Frühling kommt, werde ich Arbeiter bestellen und sie ein paar Räume im Erdgeschoss für mich umbauen lassen. Ihr beiden ...«, setzte er hinzu und winkte Andrew, sich ihnen anzuschließen, »... könnt für euch und eure Frauen jede der großen Suiten oben haben.«

»Das ist großzügig, Schwiegervater«, bedankte sich Damon, doch der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Ganz und gar nicht. Kein Raum im oberen Stockwerk wird für mich je wieder den geringsten Nutzen haben. Ich schlage vor, dass ihr jetzt geht und euch die Zimmer aussucht. Lasst meine alten Räume für Domenic, wenn er sich eine Frau nimmt, aber unter allen anderen habt ihr die Wahl. Wenn ihr das gleich tut, können die Frauen in ihr eigenes Heim ziehen, sobald sie getraut sind.« Lachend setzte er hinzu: »Und während ihr das erledigt, soll Dezi mich hier unten umherfahren, damit ich mich wieder an den Anblick meines Hauses gewöhne. Habe ich dir dafür schon gedankt, Damon?«

Im oberen Geschoss suchten Damon und Andrew Leonie auf. Damon sagte: »Ich wollte dich außer Hörweite etwas fragen. So viel weiß ich, Dom Esteban wird niemals mehr gehen können. Aber wie ist sein Zustand sonst, Leonie?«

»Außer Hörweite?« Die Bewahrerin lachte leise. »Er hat Laran, Damon; er weiß alles, obwohl er sich vielleicht weise zu begreifen weigert, was es für ihn bedeutet. Die Fleischwunde ist natürlich lange verheilt, und die Nieren sind nicht verletzt, aber das Gehirn steht nicht mehr mit Beinen und Füßen in Verbindung. Er hat noch einigermaßen Kontrolle über seine Körperfunktionen, aber zweifellos wird er sie mit der Zeit, wenn der untere Teil seines Körpers dahinschwindet, verlieren. Die größte Gefahr besteht im Wundliegen. Du musst dich vergewissern, dass seine Leibdiener ihn alle paar Stunden auf die andere Seite legen, denn da er kein Gefühl hat, empfindet er auch keinen Schmerz, und deshalb merkt er es nicht, wenn eine Falte in seiner Kleidung oder etwas der Art Druck auf seinen Körper ausübt. Die meisten Gelähmten sterben, wenn sich solche Wunden infizieren. Der Prozess kann mit großer Sorgfalt aufgehalten werden, wenn man seine Glieder durch Massage geschmeidig hält, aber früher oder später werden die Muskeln schrumpfen und absterben.«

Damon schüttelte bekümmert den Kopf. »Das weiß er alles?«

»Er weiß es. Aber sein Lebenswille ist stark, und solange das so bleibt, kannst du dafür sorgen, dass sein Leben gut ist. Eine Zeit lang. Vielleicht für Jahre. Danach ...« Ein leichtes, resigniertes Schulterzucken. »Vielleicht gewinnt er neuen Lebenswillen, wenn er Enkelkinder um sich hat. Nur ist er immer ein aktiver Mann gewesen, und ein stolzer Mann. Er wird sich mit Untätigkeit und Hilflosigkeit nicht leicht abfinden.«

Andrew sagte: »Ich werde seine Hilfe und seinen Rat dringend brauchen, wenn ich das Gut bewirtschaften soll. Ich habe versucht zurechtzukommen, ohne ihn zu belästigen –«

»Mit Eurer Erlaubnis, das ist falsch«, warf Leonie sanft ein. »Er muss die Versicherung haben, dass sein Wissen immer noch gebraucht wird, wenn auch seine Hände und sein Geschick nichts mehr nütze sind. Fragt ihn um Rat, sooft Ihr könnt, Andrew.«

Es war das erste Mal, dass sie ihn direkt anredete, und der Terraner sandte der Frau einen überraschten Blick zu. Er besaß genug telepathische Veranlagung, um zu erkennen, dass Leonie über ihn nicht glücklich war, und zu seinem Kummer spürte er, dass für sie jetzt eine neue Sorge dazukam. Als sie Leonie verlassen hatten, sagte er zu Damon: »Sie mag mich nicht, habe ich Recht?«

»Ich glaube nicht, dass man es so nennen kann«, antwortete Damon. »Sie würde bei jedem Mann, dem sie Callista zur Ehe geben muss, Unbehagen empfinden.«

»Nun, ich kann ihr nicht verübeln, dass sie denkt, ich sei nicht gut genug für Callista. Ich finde, das ist kein Mann. Aber solange Callista nicht diese Auffassung vertritt...«

Damon lachte. »Ich nehme an, kein Mann fühlt sich an seinem Hochzeitstag seiner Braut würdig. Ich muss mich ständig selbst daran erinnern, dass Ellemir dieser Hochzeit zugestimmt hat. Komm, wir müssen die Zimmer für unsere Frauen aussuchen!«

»Sollten wir nicht ihnen die Wahl überlassen?«

Damon erinnerte sich daran, dass Andrew ihre Sitten nicht kannte. »Nein, es ist Brauch, dass der Mann ein Heim für seine Frau vorbereitet. Aus Höflichkeit ermöglicht Dom Esteban es uns, das vor der Trauung zu tun.«

»Aber sie kennen das Haus doch!«

Damon erwiderte: »Ich auch. Als Junge habe ich hier viel Zeit verbracht. Dom Estebans ältester Sohn und ich waren Bredin, geschworene Freunde. Aber du – hast du in der Terranischen Zone keine Verwandten, keine Diener, die sich dir angelobt haben und deine Rückkehr erwarten?«

»Niemanden. Diener sind eine Erinnerung aus unserer Vergangenheit; kein Mann sollte einem anderen dienen.«

»Trotzdem müssen wir dir ein paar zuweisen. Wenn du das Gut für unsern Verwandten bewirtschaften willst...« – Damon benutzte das Wort, das üblicherweise mit »Onkel« übersetzt wird ...»-hast du keine Muße, die Kleinigkeiten des täglichen Lebens selbst zu erledigen, und wir können von den Frauen nicht erwarten, dass sie selber putzen und flicken. Und wir haben keine Maschinen wie ihr in der Terranischen Zone.«

»Warum nicht?«

»Wir sind nicht reich an Metallen. Außerdem, warum sollten wir das Leben von Leuten sinnlos machen, weil sie ihren Haferbrei und ihr Fleisch nicht durch ehrliche Arbeit verdienen können? Oder glaubst du im Ernst, wir wären alle glücklicher, wenn wir Maschinen bauen und sie uns gegenseitig verkaufen würden, wie ihr es tut?« Damon öffnete eine vom Korridor abgehende Tür. »Diese Zimmer sind nicht mehr benutzt worden, seit Ellemirs Mutter starb und Dorian heiratete. Sie scheinen in gutem Zustand zu sein.«

Andrew folgte ihm in das geräumige, in der Mitte gelegene Wohnzimmer der Suite.

In Gedanken war er noch bei Damons Frage. »Ich habe gelernt, es sei entwürdigend, wenn ein Mann einem anderen dient – entwürdigend für den Diener und für den Herrn.«

»Ich würde es entwürdigender finden, mein Leben als Diener irgendeiner Maschine zu verbringen. Und wenn du eine Maschine besitzt, wirst du wiederum von ihr besessen und verbringst deine Zeit damit, dich um sie zu kümmern.« Er dachte an seine eigene Beziehung zur Matrix und die jedes Technikers auf Darkover, von der der Bewahrerinnen ganz zu schweigen.

Doch statt davon zu sprechen, öffnete er alle Türen in der Suite. »Sieh mal, zu beiden Seiten des mittleren Wohnzimmers liegt eine vollständige Wohnung mit Schlafzimmer, Wohnzimmer und Bad und dahinter Kammern für die Mädchen der Frauen, Ankleidezimmer und so weiter. Die Frauen werden gern nahe beieinander sein, und doch haben wir hier auch Zurückgezogenheit, wenn wir sie wünschen, und weitere kleine Räume in der Nähe, die wir eines Tages für unsere Kinder brauchen werden. Gefällt dir das?«

Es war weit mehr Platz, als einem jungen Paar im Hauptquartier zugewiesen worden wäre. Andrew drückte seine Zustimmung aus, und Damon fragte: »Willst du die Wohnung zur Linken oder zur Rechten haben?«

»Das ist mir ganz gleich. Sollen wir eine Münze werfen?«

Damon lachte herzlich. »Gibt es diesen Brauch bei euch auch? Aber wenn es dir gleich ist, lass uns die linke Wohnung. Ich habe bemerkt, dass Ellemir immer schon bei Sonnenaufgang wach und aufgestanden ist, während Callista es liebt, lange zu schlafen, wenn sie kann. Vielleicht wäre es besser, wenn euch die Morgensonne nicht in das Schlafzimmerfenster schiene.«

Andrew errötete in angenehmer Verlegenheit. Er wusste von Callistas Vorliebe, hatte den Gedanken aber nicht so weit ausgesponnen, dass er dabei schon die Zeit berührt hätte, wenn er morgens im gleichen Zimmer mit ihr aufwachte. Damon grinste kameradschaftlich.

»Du weißt, es sind nur noch Stunden bis zur Trauung. Und wir werden Brüder sein, du und ich – auch das ist schön. Doch mir kommt es traurig vor, dass kein einziger Verwandter oder Freund von dir an deiner Hochzeit teilnimmt.«

»Ich habe auf diesem Planeten sowieso keine Freunde. Und lebende Verwandte habe ich nirgendwo.«

Damon blinzelte überrascht. »Du bist ohne Familie, ohne Freunde hierher gekommen?«

Andrew zuckte die Schultern. »Ich bin auf Terra aufgewachsen – auf einer Pferderanch in einem Land, das man Arizona nennt. Als ich etwa achtzehn war, starb mein Vater, und die Ranch war so verschuldet, dass sie verkauft werden musste. Meine Mutter lebte danach nicht mehr lange, und ich ging als Angestellter des Zivildienstes in den Raum. Im Zivildienst muss man aber mehr oder weniger dahin gehen, wohin man geschickt wird. Ich landete schließlich hier.«

»Ich dachte, bei euch gäbe es keine Diener«, meinte Damon, und Andrew geriet ganz durcheinander, als er dem anderen Mann den Unterschied zwischen einem Angestellten des Zivildienstes und einem Diener klarmachen wollte. Damon hörte skeptisch zu, und schließlich erklärte er: »Also ein Diener von Computern und Schreibtischarbeit! Ich glaube, dann wäre ich lieber ein ehrlicher Stallknecht oder Koch!«

»Gibt es keine grausamen Herren, die ihre Diener ausbeuten?«

Damon zuckte die Schultern. »Zweifellos, genau wie manche Männer ihre Reitpferde schlecht behandeln und zu Tode peitschen. Aber ein vernünftiger Mann mag eines Tages einsehen, dass er falsch handelt, und im schlimmsten Fall können andere ihn zurückhalten. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, eine Maschine Weisheit nach Torheit zu lehren.«

Andrew grinste. »Weißt du was? Du hast Recht. Wir haben ein Sprichwort: Mit einem Computer kann man nicht streiten, er hat Recht, auch wenn er Unrecht hat.«

»Frage Dom Estebans Haushofmeister oder Ferrika, die Hebamme des Gutes, ob sie sich schlecht behandelt oder ausgebeutet fühlen«, schlug Damon vor. »Du bist genug Telepath, um zu erkennen, ob sie dir die Wahrheit sagen. Und dann wirst du vielleicht zu dem Schluss kommen, dass du einen Mann als deinen Leibdiener oder deinen Reitknecht auf ehrenhafte Weise sein Brot verdienen lassen kannst.«

»Das werde ich wohl«, lächelte Andrew. »Wir haben noch ein Sprichwort: Wenn du in Rom bist, verhalte dich wie ein Römer. Rom war, wie ich annehme, eine Stadt auf Terra. Sie wurde vor Jahrhunderten von einem Krieg oder Erdbeben zerstört. Nur das Sprichwort ist übrig geblieben ...«

»Wir haben ein ähnliches Sprichwort; es lautet: Versuche nicht, in den Trockenstädten Fisch zu kaufen«, sagte Damon. Er ging in dem Zimmer umher, das er als Schlafzimmer für sich und Ellemir ausgesucht hatte. »Diese Vorhänge sind seit den Tagen Regis des Vierten nicht mehr gelüftet worden! Ich werde die Diener beauftragen, sie zu wechseln.« Er zog an einem Klingelzug, und als der Diener erschien, gab er seine Anweisungen.

»Wir werden bis heute Abend damit fertig sein, mein Lord, so dass ihr und Eure Damen einziehen könnt, wann es Euch gefällt. Und, Lord Damon, ich soll Euch mitteilen, dass Lord Serrais, Euer Bruder, eingetroffen ist, um an Eurer Hochzeit teilzunehmen.«

»Sehr gut, danke. Wenn du Lady Ellemir finden kannst, bitte sie, herzukommen und sich anzusehen, welche Übereinkunft wir getroffen haben.« Als der Diener sich entfernt hatte, verzog Damon das Gesicht.

»Mein Bruder Lorenz! Das Wohlwollen, das er meiner Heirat entgegenbringt, könnte mir in die Augen geworfen werden, ohne mir Schmerz zu bereiten! Ich hatte zumindest auf meinen Bruder Kieran, vielleicht auch auf meine Schwester Marisela gehofft, aber ich glaube, ich muss mich geehrt fühlen und Lorenz ein Wort des Dankes sagen.«

»Hast du viele Brüder?«

»Fünf«, antwortete Damon, »und drei Schwestern. Ich bin der jüngste Sohn, und mein Vater und meine Mutter hatten bereits zu viele Kinder, als ich geboren wurde. Lorenz ...« Er zuckte die Schultern. »Er ist sicher erleichtert, dass ich mir eine Frau aus guter Familie nehme, denn nun braucht er nicht wegen des Erbes und des Anteils eines jüngeren Sohns zu feilschen. Ich bin nicht reich, aber ich habe nie nach großem Besitz gestrebt, und Ellemir und ich werden für unsern Bedarf genug haben. Mein Bruder Lorenz und ich sind nie besonders gute Freunde gewesen. Kieran – er ist nur drei Jahre älter als ich – Kieran und ich sind Bredin; zwischen Marisela und mir ist nur ein Jahr Unterschied, und wir hatten die gleiche Pflegemutter. Was meine anderen Brüder und Schwestern betrifft, so sind wir sehr höflich zueinander, wenn wir uns beim Ratstreffen begegnen, aber ich vermute, keiner von uns würde übermäßig trauern, wenn wir uns niemals wieder sähen. Meine Heimat ist immer hier gewesen. Meine Mutter war eine Alton, und ich war hier in der Nähe in Pflege gegeben, und Dom Estebans ältester Sohn trat mit mir bei den Kadetten ein. Wir hatten den Eid der Bredin geschworen.« Zum zweiten Mal benutzte er dies Wort, das die vertrauliche oder Familienform von »Bruder« war. Damon seufzte und blickte in die Feme.

»Du warst Kadett?«

»Ein sehr kläglicher«, gestand Damon, »aber kein Comyn-Sohn kann dem entrinnen, wenn er zwei gesunde Beine hat und sehen kann. Comyn war wie alle Altons der geborene Soldat und Offizier. Mit mir war es etwas ganz anderes.« Er lachte. »Es gibt im Kadettenkorps einen stehenden Witz über den Kadetten mit den zwei rechten Füßen und den zehn Daumen. Das war ich.«

»Immer zum Strafdienst eingeteilt, wie?«

Damon nickte. »In zehn Tagen wurde ich elf Mal bestraft. Ich bin Rechtshänder, siehst du. Meine Pflegemutter – sie war Hebamme bei meiner Mutter – pflegte zu sagen, ich sei verkehrt herum und mit dem Hintern nach vom geboren worden, und seit diesem Augenblick habe ich alles auf diese Art getan.«

Andrew, der als Linkshänder in eine rechtshändige Gesellschaft hineingeboren war und nur auf Darkover die Dinge vom Essbesteck bis zum Gartenwerkzeug so gestaltet gefunden hatte, dass er sie ohne Schwierigkeit benutzen konnte, versicherte: »Das kann ich sehr gut verstehen.«

»Ich bin auch ein bisschen kurzsichtig, was es nicht besser machte, obwohl es mir von Vorteil war, als ich lesen lernte. Keiner meiner Brüder ist wissenschaftlich begabt, und sie bringen wenig mehr zu Stande, als einen Anschlagzettel auszubuchstabieren oder ihren Namen unter ein Dokument zu krakeln. Aber ich fühlte mich beim Unterricht so wohl wie ein Schneekaninchen im Winter. Deshalb ging ich, als ich aus dem Kadettenkorps entlassen wurde, nach Nevarsin und lernte dort ein oder zwei Jahre lang Lesen, Schreiben, Kartenzeichnen und dergleichen. Zu diesem Zeitpunkt entschied Lorenz, aus mir werde nie ein Mann werden. Als man mich in Arilinn annahm, bestätigte ihn das nur in seiner Meinung. Halb Mönch, halb Eunuche, pflegte er zu sagen.« Damon verstummte. Auf seinem Gesicht spiegelte sich seine Abneigung wider. Schließlich meinte er: »Aber trotzdem war er auch wieder nicht zufrieden, als man mich vor ein paar Jahren aus dem Turm wegschickte. Coryns wegen – Comyn war damals schon tot, der arme Kerl, bei einem Sturz von den Klippen verunglückt –, also, Coryns wegen nahm Dom Esteban mich in die Garde auf. Ein richtiger Soldat war ich jedoch nie, ich war ein oder zwei Jahre lang Lazarettoffizier und Kadettenmeister.« Er zuckte die Schultern. »Und das ist mein Leben, und ich habe genug darüber gesprochen. Hörst du, die Frauen kommen. Wir können ihnen die Wohnungen zeigen, bevor ich hinuntergehe und versuche, höflich zu Lorenz zu sein.«

Andrew sah zu seiner Erleichterung, dass die durch die Erinnerungen heraufbeschworene Traurigkeit von Damon abfiel, als Ellemir und Callista eintraten.

»Komm, Ellemir, sieh dir die Räume an, die ich für uns gewählt habe.«

Er führte sie durch eine Tür an der Rückseite, und Andrew konnte mehr spüren als hören, dass er sie küsste. Callista folgte ihnen mit den Augen und lächelte. »Ich freue mich, sie so glücklich zu sehen.«

»Bist du denn auch glücklich, mein Liebes?«

Sie sagte: »Ich liebe dich, Andrew. Ich finde das nicht so leicht, dass ich darüber jubeln könnte. Vielleicht bin ich von Natur ein bisschen schwerfälliger im Gemüt. Komm, zeig mir die Zimmer, die wir bewohnen werden.«

Sie war mit fast allem einverstanden, doch wies sie auf ein halbes Dutzend Sitzgelegenheiten, die, wie sie meinte, so alt seien, dass man sich nicht mehr ungefährdet darauf niederlassen könne, und beauftragte einen Diener, sie wegzubringen. Sie rief die Mädchen und gab ihnen Anweisungen, was an Leinen für Schlafzimmer und Bad aus den Schrankzimmern des Haushalts herbeigeschafft werden solle, und schickte eine der Dienerinnen, ihre Kleider zu holen und sie in dem ungeheuer großen Schrank ihres Ankleidezimmers zu verstauen. Andrew hörte schweigend zu, und schließlich rief er aus: »Du verstehst es, ein Heim einzurichten, Callista!«

Ihr Lachen entzückte ihn. »Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen. Ich habe Ellemir zugehört, das ist alles, weil ich vor ihren Dienstboten nicht unwissend scheinen will. Ich weiß sehr wenig von diesen Dingen. Ich habe nähen gelernt, weil mir nie erlaubt wurde, mit müßigen Händen dazusitzen, aber wenn ich Ellemir in der Küche beobachte, wird mir klar, dass ich vom Haushalt weniger verstehe als ein zehnjähriges Mädchen.«

»Mir geht es genauso«, gestand Andrew. »Alles, was ich in der Terranischen Zone gelernt habe, ist mir jetzt nichts mehr nütze.«

»Aber du verstehst etwas von Pferden ...«

Andrew lachte. »Ja, und in der Terranischen Zone wurde das als Anachronismus, als brotlose Kunst betrachtet. Ich habe früher immer die Reitpferde meines Vaters eingebrochen, aber als ich Arizona verließ, dachte ich, ich würde nie wieder reiten.«

»Dann gehen auf Terra alle Leute zu Fuß?«

Er schüttelte den Kopf. »Der Verkehr ist motorisiert, und es gibt Gleitbürgersteige. Pferde waren ein Luxus für reiche Exzentriker.« Er trat ans Fenster und blickte auf die sonnenbeschienene Landschaft hinaus. »Merkwürdig, dass ich unter allen bekannten Welten des Terranischen Imperiums diese hier gefunden habe.« Ein leichter Schauer überlief ihn, als er daran dachte, wie leicht er an dem hätte vorbeigehen können, was ihm nun als sein Schicksal, sein Leben, die wahre Bestimmung, für die er geboren wurde, vorkam. Er wünschte sich verzweifelt, die Arme auszustrecken und Callista an sich zu ziehen, aber als habe sein Gedanke sie irgendwie erreicht, wurde sie blass und verkrampfte sich. Er seufzte und trat einen Schritt von ihr zurück.

Sie sagte, als wolle sie einen Gedankengang abschließen, der sie nicht mehr besonders interessierte: »Unser Pferdetrainer ist schon ein alter Mann, und da Vater nichts mehr tun kann, wird wohl dir die Aufgabe zufallen, die jüngeren zu schulen.« Dann verstummte sie und sah zu ihm auf.

»Ich möchte mit dir reden«, erklärte sie abrupt.

Andrew war sich nie schlüssig geworden, ob ihre Augen blau oder grau waren; anscheinend veränderten sie sich mit dem Licht, und jetzt waren sie beinahe farblos. »Andrew, wird es zu schwer für dich werden? Ein Zimmer mit mir zu teilen, wenn wir – vorerst – das Bett noch nicht teilen können?«

Er war schon gewarnt worden, als sie das erste Mal über eine Heirat sprachen. Callistas Konditionierung ging so tief, dass es lange Zeit dauern mochte, bis sie ihre Ehe vollziehen konnten. Er hatte ihr damals aus eigenem Antrieb versprochen, er werde sie niemals drängen oder unter Druck setzen, er werde so lange warten wie notwendig. Jetzt berührte er leicht ihre Fingerspitzen. »Mach dir keine Sorgen darüber, Callista. Ich habe dir doch bereits mein Versprechen gegeben.«

Langsam stieg ein schwaches Rosa in ihre bleichen Wangen. »Ich habe gelernt, es sei... schändlich, ein Begehren zu erwecken, das ich nicht befriedigen will. Aber wenn ich mich von dir fern halte und es nicht erwecke und wir nur in Gedanken verbunden sind, dann wird sich nie etwas ändern. Doch das wird vielleicht langsam geschehen, wenn wir zusammen sind. Nur für dich wird es so hart sein, Andrew.« Ihr Gesicht zuckte. »Ich möchte nicht, dass du unglücklich bist.«

Einmal, nur einmal – und mit großer Zurückhaltung – und kurz – hatte er darüber mit Leonie gesprochen. Jetzt, als er auf Callista niederblickte, kehrte die Erinnerung an die kurze Begegnung, die für beide Seiten schwierig gewesen war, zurück, als stehe er wieder vor der Comyn Leronis. Sie war zu ihm in den Hof gekommen und hatte ruhig verlangt: »Sieh mich an, Terraner.« Er hatte die Augen gehoben, unfähig, sich zu widersetzen. Leonie war so groß, dass ihre Augen auf einer Höhe waren. Mit leiser Stimme sagte sie: »Ich will sehen, welcher Art von Mann ich das Kind gebe, das ich liebe.« Ihre Blicke trafen sich, und während eines langen Augenblicks hatte Andrew Carr das Gefühl, jeder Gedanke seines ganzen Lebens werde von dieser Frau umgewendet und gelesen, es werde mit diesem einen Blick, der nicht einmal lange dauerte, sein Innerstes aus ihm herausgezogen und in der Luft hängen gelassen, dass es kalt werde und verdorre. Schließlich – es war nicht mehr als eine Sekunde vergangen, oder zwei, aber es schien ein Jahrhundert gewesen zu sein – seufzte Leonie und sagte: »Es sei. Du bist ehrlich und freundlich, und du meinst es gut. Aber hast du die geringste Ahnung, was die Ausbildung einer Bewahrerin zu bedeuten hat und wie schwer es für Callista sein wird, diese Konditionierung zu durchbrechen?«

Er wollte widersprechen, schüttelte aber stattdessen nur den Kopf und antwortete demütig: »Wie kann ich es wissen? Aber ich will versuchen, es ihr leicht zu machen.«

Leonies Seufzer stieg aus den untersten Tiefen ihres Seins hervor. »Nichts, was du in dieser oder der nächsten Welt tun könntest, würde es für sie leicht machen. Wenn du geduldig und vorsichtig bist – und Glück hast – machst du es vielleicht möglich. Ich will nicht, dass Callista leidet. Und doch bringt ihr die Wahl, die sie getroffen hat, viel Leid. Sie ist jung, doch nicht mehr so jung, dass sie ihre Ausbildung ohne Schmerzen abschütteln kann. Es dauert lange Zeit, bis eine Bewahrerin herangebildet ist, und man kann das nicht in kurzer Frist rückgängig machen.«

Andrew protestierte: »Ich weiß ...«, und Leonie seufzte von neuem. »Wirklich? Das frage ich mich. Es geht nicht nur darum, den Vollzug eurer Ehe um Tage oder vielleicht Monate zu verschieben. Das wird nur der Anfang sein. Sie liebt dich und sehnt sich nach deiner Liebe ...«

»Ich kann Geduld haben, bis sie bereit ist«, schwor Andrew. Leonie schüttelte den Kopf. »Geduld wird nicht genug sein. Was Callista gelernt hat, kann man nicht ungelernt machen. Du wünschst nicht, darüber Bescheid zu wissen. Vielleicht ist es besser, wenn du nicht zu viel weißt.«

Von neuem beteuerte er: »Ich werde versuchen, es ihr leicht zu machen«, und wieder schüttelte Leonie den Kopf und seufzte. Noch einmal sagte sie: »Nichts, was du tun könntest, wird es leicht machen. Küken können nicht zurück in die Eier schlüpfen. Callista wird leiden, und ich fürchte, du wirst mit ihr leiden. Aber wenn du Glück hast – wenn ihr beide Glück habt, kannst du es ihr möglich machen, den Weg, den sie gegangen ist, zurückzugehen. Nicht leicht. Aber möglich.«

Da gewann seine Entrüstung die Oberhand. »Wie könnt ihr jungen Mädchen so etwas antun? Wie könnt ihr ihr Leben auf diese Weise zerstören?« Leonie antwortete nicht. Sie senkte den Kopf und bewegte sich geräuschlos von ihm fort. Nach seinem nächsten Lidschlag war sie verschwunden, schnell wie ein Schatten, so dass er an seinem Verstand zu zweifeln begann. Er fragte sich, ob sie überhaupt da gewesen sei oder ob seine eigenen Zweifel und Ängste eine Halluzination erzeugt hätten.

Jetzt stand Callista vor ihm in dem Zimmer, das sie ab morgen teilen würden. Sie hob langsam die Augen zu ihm auf und flüsterte: »Ich wusste nicht, dass Leonie diese Begegnung mit dir herbeigeführt hatte«, und er sah, dass sie die Hände zu Fäusten ballte, bis die kleinen Knöchel weiß hervortraten. Sie wandte den Blick von ihm ab. »Andrew, versprich mir eins.«

»Alles, meine Liebe.«

»Versprich mir, wenn du jemals ... irgendeine Frau begehrst, versprich mir, dass du sie nehmen und nicht unnötig leiden wirst...«

Er explodierte. »Für welche Art von Mann hältst du mich? Ich liebe dich! Warum sollte ich irgendeine andere Frau wollen?«

»Ich kann nicht erwarten... Es ist nicht richtig, nicht natürlich ...«

»Sieh mal, Callista.« Er sprach wieder ruhig. »Ich habe lange Zeit ohne Frauen gelebt. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass mir das schadete. Es hat ein paar gegeben, hier und da, während ich im Imperium umherzog. Nichts Ernsthaftes.«

Sie blickte auf die Spitzen ihrer kleinen farbigen Ledersandalen nieder. »Das ist etwas anderes, Männer unter sich, die ohne Frauen leben. Aber hier, wenn du mit mir lebst, mit mir im gleichen Zimmer schläfst, mir die ganze Zeit nahe bist und dabei weißt...« Sie fand die richtigen Worte nicht. Er hätte sie gern in die Arme genommen und geküsst, bis der erstarrte, verlorene Blick verging. Schon legte er die Hände auf ihre Schultern, fühlte, wie sie sich unter der Berührung verkrampfte, und ließ die Hände fallen. Verdammt seien die, die auf diese Weise in einem jungen Mädchen pathologische Reflexe erzeugten! Aber auch ohne Berührung spürte er Kummer in ihr, Kummer und Schuldbewusstsein. Sie sagte leise: »Du hast mit deiner Frau kein gutes Geschäft gemacht, Andrew.«

Er erwiderte sanft: »Ich habe die Frau, die ich will.«

Damon und Ellemir traten ein. Ellemirs Haar war zerzaust, ihre Augen leuchteten; sie hatte den glasigen Blick, den Andrew mit erregten Frauen assoziierte. Zum ersten Mal, seit er die Zwillinge kannte, sah er Ellemir als Frau, nicht nur als Callistas Schwester, und er fand sie sexuell anziehend. Oder sah er in ihr für einen Augenblick die Callista, die sie eines Tages werden mochte? Er hatte ein flüchtiges Gefühl von Schuld. Ellemir war die Schwester seiner Braut. In wenigen Stunden würde sie die Frau seines besten Freundes sein, und deshalb war sie die Einzige unter allen Frauen, auf die er nicht mit Begehren blicken sollte. Er wandte sich ab.

Sie sagte: »Callie, wir müssen neue Vorhänge anbringen lassen, die hier sind weder gelüftet noch gewaschen worden, seit... seit...« – sie suchte nach einem bildhaften Ausdruck – »... seit den Tagen von Regis dem Vierten.« Andrew erkannte, dass sie in engem Kontakt mit Damon gewesen war, und lächelte vor sich hin.

Kurz vor Mittag hörte man Hufklappern im Hof, einen Aufruhr wie von einem kleinen Hurrikan, Reiter, Geräusche, Rufe, Lärm. Callista lachte: »Das ist Domenic! Niemand sonst trifft mit solcher Heftigkeit ein!« Sie zog Andrew in den Hof hinunter.

Domenic Lanart, Erbe der Domäne von Alton, war ein schmaler, rothaariger Junge, hoch aufgeschossen und sommersprossig, und er saß auf einem gewaltigen grauen Hengst. Er warf die Zügel einem Reitknecht zu, sprang aus dem Sattel, packte Ellemir und drückte sie begeistert an sich. Dann schlang er seine Arme um Damon.

»Zwei Hochzeiten auf einmal!«, rief er aus und zog sie mit sich die Treppe hoch. »Du hast dir für deine Werbung reichlich Zeit gelassen, Damon. Schon letztes Jahr wusste ich, dass du sie haben wolltest. Warum musste erst ein Krieg kommen, um dich zu dem Entschluss zu bringen, ihre Hand zu erbitten? Elli, willst du einen so zaudernden Mann überhaupt haben?« Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und küsste beide, und dann riss er sich los und wandte sich Callista zu.

»Und du hast einen Liebhaber, der hartnäckig genug ist, dich dem Turm abzuringen! Ich brenne darauf, dies Wunder kennen zu lernen, Breda« Aber seine Stimme war plötzlich sanft geworden, und als Callista ihn Andrew vorstellte, verbeugte er sich. Trotz allen überschäumenden Lärmens und jungenhaften Gelächters hatte er die Manieren eines Prinzen. Seine Hände waren klein und breit und mit Schwielen bedeckt wie die eines Schwertkämpfers.

»Also du wirst Callista heiraten? Ich vermute, all die alten Damen und Grauköpfe im Rat werden es nicht billigen, aber es ist Zeit, dass wir frisches Blut in die Familie bekommen.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen – Callista war eine hoch gewachsene Frau, und Domenic war zwar lang, aber, so dachte Andrew, doch noch nicht ganz erwachsen – und streifte ihre Wange leicht mit den Lippen. »Sei glücklich, Schwester; Avarra sei dir gnädig! Du verdienst es, wenn du es wagst, so zu heiraten, ohne Erlaubnis des Rates oder die Catenas.«

»Die Catenas!«, antwortete sie verächtlich. »Ebenso gut könnte ich einen Trockenstädter heiraten und in Ketten gehen!«

»Gut für dich, Schwester.« Er sprach zu Andrew, während sie in die Halle gingen. »Vater teilte mir in seiner Botschaft mit, dass du Terraner bist. Ich habe in Thendara mit Terranern gesprochen. Sie scheinen recht gute Leute zu sein, aber sie sind faul. Gute Götter, für alles haben sie Maschinen, um darauf zu gehen, um sich eine Treppe hinauftragen zu lassen, um das Essen auf den Tisch zu bringen. Sag mir, Andrew, haben sie auch Maschinen, die sie abputzen?« Er brüllte vor angeberischem, jungenhaftem Gelächter, und die Mädchen kicherten.

Er drehte sich zu Damon um. »Du kommst also nicht zur Garde zurück, Cousin? Du warst der einzige anständige Kadettenmeister, den wir in Jahrhunderten gehabt haben. Der junge Danvan Hastur versucht sich jetzt in dieser Rolle, aber es klappt nicht. Die Jungen vergehen zu sehr in Ehrfurcht vor ihm, und auf jeden Fall ist er zu jung. Dazu braucht es einen Mann mit einigen Jahren mehr. Hast du irgendwelche Vorschläge?«

»Versucht es mit meinem Bruder Kieran«, lächelte Damon. »Er spielt lieber Soldat, als ich es je getan habe.«

»Aber du warst ein verdammt guter Kadettenmeister«, versicherte Domenic. »Mir wäre es lieb, wenn du zurückkämst, wenn ich auch der Meinung bin, das ist keine Aufgabe für einen Mann – so eine Art Gouvernante über eine Bande halbwüchsiger Jungen zu sein.«

Damon zuckte die Schultern. »Ich war sehr froh, dass sie mich mochten, aber ich bin kein Soldat, und ein Kadettenmeister sollte seine Kadetten mit der Liebe zum Soldatenberuf erfüllen können.«

»Nicht mit zu viel Liebe«, warf Dom Esteban ein, der bei ihrem Näherkommen mit Interesse zugehört hatte, »denn dann verhärtet er sie und macht sie zu Bestien statt zu Männern. Bist du denn nun endlich da, Domenic, mein Junge?«

Der Junge lachte. »Nein, Vater, ich zeche immer noch in einer Kneipe in Thendara. Was du hier siehst, ist mein Geist.« Dann glitt die Fröhlichkeit von seinem Gesicht, als er seinen Vater daliegen sah, dünn, ergrauend, die nutzlosen Beine mit einem Wolfsfellmantel bedeckt. Er ließ sich neben dem Rollstuhl auf die Knie fallen. Er stammelte: »Vater, oh, Vater, ich wäre sofort gekommen, wenn du nach mir geschickt hättest, ehrlich ...«

Der Lord von Alton legte seine Hände auf Domenics Schultern. »Das weiß ich, lieber Junge, aber dein Platz war in Thendara, da ich nicht selbst dort sein konnte. Doch dein Anblick macht mein Herz froher, als ich sagen kann.«

»Mich auch.« Domenic stand auf und blickte auf seinen Vater hinab. »Ich bin erleichtert, dich so wohlauf und kräftig zu sehen. In Thendara wurde schon erzählt, du seist dem Tode nahe oder gar schon tot und begraben!«

»So schlimm ist es nicht«, lachte Dom Esteban. »Komm, setz dich neben mich, erzähl mir alles, was bei der Garde und im Rat vor sich geht.« Man konnte leicht sehen, dachte Andrew, dass dieser fröhliche Junge das Augenlicht seines Vaters war.

»Das tue ich gern, Vater, aber heute ist ein Hochzeitstag, und wir sind hier, um mitzufeiern, und an dem, was ich zu erzählen habe, ist so wenig Lustiges! Prinz Aran Elhalyn hält mich für zu jung, um den Befehl über die Garde zu übernehmen, und sei es nur für die Zeit, die du hier krank in Armida liegst, und das wispert er Hastur Tag und Nacht in die Ohren. Und Lorenz von Serrais – verzeih mir, wenn ich schlecht von deinem Bruder spreche, Damon ...«

Damon schüttelte den Kopf. »Mein Bruder und ich stehen nicht auf bestem Fuß miteinander, Domenic. Sag also, was du willst.«

»Also, Lorenz soll verdammt sein, weil er ein Ränke schmiedender Fuchs ist, und der alte Gabriel von Ardais, der den Posten für sein Großmaul von Sohn haben will, stimmt eifrig mit in den Chor ein, ich sei zu jung, um die Garde zu kommandieren. Sie bedrängen Aran Tag und Nacht mit Schmeicheleien und Geschenken, die beinahe schon Bestechungen sind, um ihn zu überreden, einen von ihnen zum Befehlshaber zu machen, solange du hier in Armida bist. Wirst du noch vor dem Mittsommerfest zurückkommen, Vater?«

Ein Schatten flog über das Gesicht des verkrüppelten Mannes. »Es wird sein, wie die Götter es wollen, mein Sohn. Meinst du, die Garde könne von einem Mann befehligt werden, der an einen Rollstuhl gefesselt ist und dessen Beine ihm nicht mehr nützen als Fischflossen?«

»Besser ein lahmer Kommandant als einer, der kein Alton ist«, erklärte Domenic mit heftigem Stolz. »Ich könnte die Befehle in deinem Namen geben und alles für dich tun, wenn du nur da wärst und das Amt innehättest, das die Altons seit so vielen Generationen ausgeübt haben!«

Sein Vater ergriff mit festem Druck seine Hände. »Wir werden sehen, mein Sohn. Wir werden sehen, was kommt.« Aber schon dieser Gedanke, erkannte Damon, hatte den Lord von Alton mit einer plötzlichen Hoffnung erfüllt und ihm ein Ziel gegeben. Würde er tatsächlich im Stande sein, von seinem Rollstuhl aus mit Domenic an seiner Seite die Garde zu kommandieren?

»Wie schade, dass wir jetzt keine Lady Bruna in unserer Familie haben«, meinte Domenic fröhlich. »Sag, Callista, willst du nicht das Schwert nehmen, wie es Lady Bruna tat, und die Garde befehligen?«

Lachend schüttelte sie den Kopf. Damon sagte: »Diese Geschichte kenne ich nicht«, und Domenic erzählte sie lächelnd. »Es ist Generationen her – wie viele, weiß ich nicht –, aber ihr Name ist in die Rolle der Befehlshaber eingetragen. Lady Bruna von Leyniers Bruder, der damals Lord Alton war, fiel im Kampf und hinterließ einen erst neun Jahre alten Sohn. Da nahm sie die Mutter des Knaben, wie Frauen es dürfen, in einer Freipartner-Ehe unter ihren Schutz und regierte selbst die Garde, bis er alt genug war, das Kommando zu übernehmen. In den Annalen der Garde heißt es, sie sei dazu noch eine gute Kommandantin gewesen. Möchtest du nicht auch so berühmt werden, Callista? Nein? Und du, Ellemir?« Mit gespielter Traurigkeit schüttelte er den Kopf, als beide ablehnten. »O weh, was ist aus den Frauen unseres Clans geworden? Sie sind nicht mehr das, was sie in jenen Tagen waren!«

Die Familienähnlichkeit der Leute, die um Dom Estebans Stuhl standen, war überwältigend. Domenic glich Callista und Ellemir, obwohl sein Haar röter, seine Locken wilder, seine Sommersprossen dicke goldene Flecken statt schwacher Pünktchen waren. Und Dezi, der still und unbeachtet hinter dem Rollstuhl stand, war wie ein blasseres Spiegelbild von Domenic. Domenic blickte auf und sah ihn dort und schlug ihm freundlich auf die Schulter.

»Du bist also hier, Cousin? Ich hörte, du habest den Turm verlassen. Daraus mache ich dir keinen Vorwurf. Vor ein paar Jahren habe ich vierzig Tage dort verbracht und wurde auf Laran getestet, und ich konnte nicht schnell genug wieder wegkommen! Hattest du auch die Nase voll, oder hat man dich hinausgeschmissen?«

Dezi zögerte und blickte zur Seite, und Callista griff ein. »Du hast dort nichts über unsere Formen der Höflichkeit gelernt, Domenic. Das ist eine Frage, die niemals gestellt werden darf. Sie geht nur den Telepathen und seine Bewahrerin an, und wenn Dezi nicht darüber sprechen mag, ist es eine unentschuldbare Grobheit, ihn zu fragen.«

»Oh, tut mir Leid«, entschuldigte Domenic sich gutmütig, und allein Damon bemerkte die Erleichterung in Dezis Gesicht. »Es ist nur so, dass ich darauf brannte, den Ort zu verlassen, und ich hätte gern gewusst, ob es dir ebenso gegangen ist. Manchen Leuten gefällt es dort. Sieh Callista an, sie hat es beinahe zehn Jahre ausgehalten.«

Damon, der die beiden Jungen beobachtete, dachte mit Schmerz an Coryn, der in diesem Alter Domenic so ähnlich gewesen war. Er fühlte sich zurückversetzt in die halb vergessenen Tage seiner eigenen Jugend, als er, der unbeholfenste aller Kadetten, wegen seiner beschworenen Freundschaft mit Coryn von den Übrigen akzeptiert worden war. Wie Domenic war Coryn der beliebteste, der tatkräftigste und lebhafteste Kadett gewesen.

Das war in der Zeit vor seinem Versagen und seiner hoffnungslosen Liebe gewesen, und die Demütigung hatte sich ihm tief eingebrannt... aber, dachte er, es war auch gewesen, bevor er Ellemir kennen lernte. Er seufzte und umschloss ihre Hand mit seiner. Domenic, der Damons Augen auf sich fühlte, sah auf und lächelte, und Damon fühlte, wie die Bürde der Einsamkeit von ihm wich. Er hatte Ellemir, und er hatte Andrew und Domenic als Brüder. Isolierung und Einsamkeit waren für immer überwunden.

Domenic nahm in kameradschaftlicher Art Dezis Arm. »Hör zu, Cousin, wenn du es satt hast, hier um meines Vaters Fußschemel herumzuhängen, komm nach Thendara. Ich verschaffe dir einen Platz im Kadettenkorps – das kann ich tun, nicht wahr, Vater?«, fragte er. Als Dom Esteban nachsichtig nickte, setzte er hinzu: »Sie brauchen immer Jungen aus guter Familie, und jeder, der dich ansieht, erkennt, dass du Alton-Blut hast. So ist es doch?«

Dezi antwortete ruhig: »So hat man mir immer gesagt. Ohne es hätte ich den Schleier in Arilinn nie durchschreiten können.«

»Nun, bei den Kadetten kommt es nicht darauf an. Die Hälfte von uns sind Bastarde irgendeines Edelmanns ...« – wieder lachte er schallend – «... und die Übrigen von uns armen Teufeln sind die legitimen Söhne irgendeines Edelmanns, die viel leiden und schwitzen müssen, um sich ihrer Eltern würdig zu erweisen. Aber ich habe es drei Jahre lang ausgehalten, und das wirst du auch. Also komm nach Thendara, und ich finde etwas für dich. Bloß ist der Rücken dessen, der keinen Bruder hat, sagt man, und da Valdir bei den Mönchen in Nevarsin ist, werde ich froh sein, dich bei mir zu haben, Verwandter.«

Dezi errötete leicht. Er sagte mit leiser Stimme: »Ich danke dir, Cousin. Ich werde hier bleiben, solange dein Vater mich braucht. Danach wird es mir ein Vergnügen sein.« Er wandte sich schnell und beflissen Dom Esteban zu. »Onkel, was fehlt dir?« Denn der alte Mann war bleich geworden und in seinem Stuhl zurückgesunken.

»Nichts.« Dom Esteban erholte sich wieder. »Nur ein Augenblick der Schwäche. Vielleicht hat, wie man in den Bergen sagt, ein wildes Tier auf den Boden für mein Grab gepisst. Oder vielleicht liegt es nur daran, dass ich heute zum ersten Mal aufrecht sitze, nachdem ich so lange flach gelegen habe.«

»Dann lass mich dir ins Bett zurückhelfen, Onkel, damit du dich bis zur Trauung ausruhen kannst«, sagte Dezi, und Domenic fiel ein: »Ich helfe dir.« Während sie sich um ihn bemühten, fiel Damon auf, dass Ellemir sie mit seltsam beunruhigtem Blick beobachtete.

»Was ist, Preciosa?«

»Nichts, eine Vorahnung, ich weiß nicht.« Ellemir zitterte. »Als er sprach, sah ich ihn wie tot hier an diesem Tisch liegen ...«

Damon erinnerte sich, dass die Gabe des Laran bei den Altons hin und wieder von einem Anflug der Zukunftsschau begleitet war. Er hatte immer vermutet, dass Ellemir davon mehr besaß, als man ihr je erlaubt hatte zu glauben. Aber er verdrängte sein Unbehagen und sagte liebevoll: »Er ist ja kein junger Mann mehr, mein Liebling, und wir werden hier leben. So müssen wir damit rechnen, dass wir eines Tages sehen, wie er zur Ruhe gelegt wird. Lass es dir keinen Kummer machen, meine Geliebte. Und jetzt muss ich wohl meinem Bruder Lorenz meinen Respekt erweisen, da er sich entschlossen hat, meine Hochzeit mit seiner Anwesenheit zu ehren. Glaubst du, wir können ihn und Domenic daran hindern, sich zu schlagen?«

Und als Ellemir von neuem an die Gäste und die bevorstehende Feier dachte, verging ihre Blässe.

Damon wünschte, er hätte ihre Vorahnung geteilt. Was hatte Ellemir gesehen?

Andrew hatte, je näher die Trauung rückte, immer mehr ein Gefühl der Unwirklichkeit. Eine Freipartner-Heirat war eine einfache Erklärung vor Zeugen, und sie sollte am Ende des Festessens für die Gäste und die Nachbarn von den nahe gelegenen Gütern, die dazu eingeladen waren, stattfinden. Andrew hatte hier keine Verwandten oder Freunde, und obwohl er bisher diesen Mangel als unwesentlich betrachtet hatte, beneidete er, als der Augenblick kam, Damon sogar um die Anwesenheit des säuerlich dreinblickenden Lorenz, der an seiner Seite stand und auf die feierliche Erklärung wartete, die Ellemir nach Gesetz und Sitte zu Damons Frau machte. Wie lautete das Sprichwort, das Domenic zitiert hatte? »Bloß ist der Rücken dessen, der keinen Bruder hat.« In der Tat, sein Rücken war bloß.

Rund um den langen Tisch der Großen Halle von Armida, gedeckt mit dem feinsten Leinen und dem Feiertagsgeschirr, hatten sich alle Landwirte, Kleinbauern und Adligen versammelt, die in einem Umkreis von einem Tagesritt wohnten. Damon sah blass und angespannt aus, doch eindrucksvoller als sonst in einem Anzug aus weichem Leder. Er war reich bestickt in Farben, von denen Andrew gehört hatte, dass sie die seiner Domäne waren. Das Orange und Grün wirkte für Andrews Augen knallig. Damon streckte seine Hand Ellemir entgegen, und sie kam um den Tisch und gesellte sich zu ihm. Sie sah blass und ernst aus. Sie trug ein grünes Kleid, und ihr Haar war in einem Silbernetz zusammengerollt. Zwei junge Mädchen – sie hatte Andrew erzählt, dass es ihre und Callistas frühere Spielgefährten waren, eine Edelfrau aus einer nahe gelegenen Feste und ein Dorfmädchen von ihrem eigenen Gut – traten näher und stellten sich hinter sie.

Damon sprach mit fester Stimme: »Meine Freunde, edle Damen und Herren, wir haben euch zusammengerufen, um Zeugen unseres Gelöbnisses zu sein. So seid nun alle Zeugen, dass ich, Damon Ridenow von Serrais, der ich frei geboren und an keine Frau gebunden bin, diese Frau, Ellemir Lanart-Alton, mit der Zustimmung ihrer Verwandtschaft zur Freipartnerin nehme. Und ich verspreche, dass ihre Kinder zu legitimen Erben meines Körpers erklärt werden und mein Gut und Erbe, sei es klein oder groß, teilen sollen.«

Ellemir ergriff seine Hand. Ihre Stimme klang in dem riesigen Raum wie die eines Kindes. »Seid alle Zeugen, dass ich, Ellemir Lanart, Damon Ridenow mit der Zustimmung unserer Verwandtschaft zum Freipartner nehme.«

Applaus und Gelächter brandeten auf, es hagelte Glückwünsche, Umarmungen und Küsse für die Braut und den Bräutigam. Andrew fasste Damons Hände, doch Damon legte die Arme um Andrew und zog ihn, wie es hier der Brauch zwischen Verwandten war, an sich. Seine Wange berührte kurz die seines Freundes. Dann drückte sich Ellemir leicht gegen ihn, stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Lippen einen Augenblick auf seine. Andrew schwindelte es. Ihm war, als habe er den Kuss empfangen, den Callista ihm noch nicht gegeben hatte, und seine Gedanken verwirrten sich. Eine Sekunde lang war er sich nicht sicher, welche der Schwestern ihn tatsächlich geküsst hatte. Dann lachte Ellemir ihn an und sagte leise: »Es ist noch zu früh, um betrunken zu sein, Andrew!«

Das frisch verheiratete Paar ging weiter und nahm neue Küsse, Umarmungen und gute Wünsche entgegen. Andrew wusste, gleich war er an der Reihe, seine Erklärung abzugeben, aber er musste allein dastehen.

Domenic beugte sich nahe zu ihm und flüsterte: »Wenn du willst, stelle ich mich als dein Verwandter zu dir, Andrew. Damit nehmen wir eine Tatsache nur ein paar Augenblicke voraus.«

Das Anerbieten rührte Andrew, doch er zögerte, es anzunehmen. »Du weißt nichts von mir, Domenic ...«

»Oh, Callista hat dich gewählt, und das ist Zeugnis genug für deinen Charakter«, meinte Domenic leichthin. »Schließlich kenne ich meine Schwester.« Er erhob sich mit ihm, als halte er die Sache für geregelt. »Hast du das saure Gesicht von Dom Lorenz bemerkt? Man kann sich kaum vorstellen, dass er Damons Bruder ist, nicht wahr? Die Frau, die er geheiratet hat, hast du sicher noch nicht gesehen. Ich denke, er beneidet Damon um meine hübsche Schwester!« Während sie um den Tisch gingen, murmelte er: »Du kannst die gleichen Worte wie Damon benutzen oder irgendwelche anderen, die dir einfallen – es gibt keine feststehende Formel. Aber überlasse es Callista, eure Kinder für legitim zu erklären. Nichts für ungut, aber es steht dem Elternteil von höherem Rang zu, es zu tun oder zu unterlassen.«

Andrew flüsterte ihm seinen Dank für den Rat zu. Jetzt stand er am Kopf des langen Tisches vor den Gästen. Vage war er sich bewusst, dass Domenic hinter ihm stand, dass Dezi ihn vom unteren Ende her ansah, dass Callistas Augen mit festem Blick auf ihm ruhten. Er schluckte und hörte seine eigene raue, heisere Stimme.

»Ich, Ann’dra...« – ein Doppelname zeigte auf Darkover zumindest einen der niedrigeren Adelstitel an; Andrew hatte keine Abstammung, die irgendeinem Anwesenden etwas bedeutet hätte – »... erkläre in eurer Gegenwart als Zeugen, dass ich Callista Lanart-Alton mit der Zustimmung ihrer Verwandtschaft zur Freipartnerin nehme ...« Ihm war, als müsse nun noch etwas kommen. Eine Sekte auf Terra fiel ihm ein, die auch auf diese Weise, vor Zeugen, ihre Ehen geschlossen hatte, und aus dieser undeutlichen Erinnerung heraus übersetzte er das Echo in seinen Gedanken:

»Ich gelobe, sie zu lieben und zu ehren, in guten und schlechten Tagen, in Armut und Reichtum, in Gesundheit und Krankheit, solange dies Leben währt. Das gelobe ich vor euch allen.«

Langsam kam sie um den Tisch zu ihm.

Sie trug ein Gewand aus leichtem, karminrotem Stoff, mit Gold bestickt. Andrew hatte gehört, dass Farbe und Kleid einer Bewahrerin vorbehalten waren.

Leonie hinter ihr war ähnlich gekleidet. Ihr Gesicht war feierlich und ohne Lächeln.

Trotzdem war Callistas Stimme die einer ausgebildeten Sängerin. So leise sie war, sie konnte im ganzen Raum gehört werden. »Ich, Callista von Arilinn ...« – und ihre Hand schloss sich beinahe krampfhaft um seine, als sie den rituellen Titel zum letzten Mal laut aussprach – »... die ich mit Zustimmung meiner Bewahrerin mein heiliges Amt für immer niedergelegt habe, nehme diesen Mann Ann’dra zum Freipartner. Weiter erkläre ich ...« – ihre Stimme zitterte – »... dass, sollte ich ihm Kinder gebären, sie vor Clan und Rat, nach Kaste und Erbberechtigung als legitim gelten sollen.« Sie setzte hinzu, und Andrew spürte den Trotz in ihren Worten: »Die Götter bezeugen es, und ebenso die heiligen Dinge zu Hali.«

In diesem Augenblick sah er Leonies Augen auf sich gerichtet. Sie waren voll unergründlicher Traurigkeit, aber er hatte keine Zeit, sich über den Grund Gedanken zu machen. Er beugte den Kopf, nahm Callistas Hände in seine und küsste sie leicht auf den Mund. Sie wich vor der Berührung nicht zurück, aber er wusste, dass sie sich dagegen abgeschirmt hatte, dass sie sie nicht wirklich erreichte. Irgendwie hatte sie es fertig gebracht, diesen zeremoniellen Kuss hier vor den Zeugen zu ertragen, nur weil sie wusste, eine Weigerung wäre als Skandal betrachtet worden. Der Jammer in ihren Augen war ihm eine Qual, doch sie lächelte und murmelte: »Deine Worte waren schön, Andrew. Sind sie terranisch?«

Er nickte, hatte jedoch keine Zeit für weitere Erklärungen, denn sie wurden in einen Wirbel von Umarmungen und Gratulationen gerissen wie Damon und Ellemir vor ihnen. Dann knieten sie alle für Dom Estebans und Leonies Segen nieder.

Sobald das Feiern begann, wurde es nur zu offensichtlich, dass für die Nachbarn der eigentliche Sinn des Festes war, Dom Estebans Schwiegersöhne kennen zu lernen und zu beurteilen. Damon war ihnen allen natürlich dem Namen und dem Ruf nach bekannt: ein Ridenow von Serrais, ein Offizier der Garde. Andrew war angenehm überrascht, wie selbstverständlich aber auch er akzeptiert wurde und wie wenig Aufmerksamkeit er auf sich zog. Er vermutete – und später erfuhr er, dass er Recht hatte –, dass im Allgemeinen alles, was ein Comyn-Lord tat, für unanfechtbar richtig gehalten wurde.

Es wurde eine Menge getrunken, und bald fand er sich auch unter den Tanzenden. Alle nahmen am Tanz teil, sogar die gesetzte Leonie nahm für ein paar Takte den Arm von Lord Serrais. Man vergnügte sich mit lärmenden Spielen. Auch hier musste Andrew bei einem mitmachen, das unter unverständlichen Regeln eine große Küsserei vorsah. In einem ruhigen Augenblick am Rand der Runde gestand er Ellemir seine Verwirrung. Ihr Gesicht war gerötet; er argwöhnte, dass sie ziemlich viel von dem süßen, schweren Wein getrunken hatte. Sie kicherte. »Oh, es ist ein Kompliment für Callista, dass diese Mädchen zeigen, sie finden ihren Gatten begehrenswert. Und außerdem sehen sie von Mittwinter bis Mittsommer niemanden als ihre eigenen Brüder und Verwandten. Du bist ein neues Gesicht, und das ist aufregend für sie.«

Das war ganz einleuchtend, aber trotzdem, er kam sich einfach zu alt vor für Kussspiele mit betrunkenen kleinen Mädchen, von denen viele kaum über zehn waren. Er hatte sich sowieso nie viel aus dem Trinken gemacht, selbst unter seinen eigenen Landsleuten nicht, wo er alle gängigen Scherze kannte. Sehnsüchtig blickte er nach Callista, aber eins der ungeschriebenen Gesetze schien zu lauten, dass der Mann nicht mit seiner eigenen Frau tanzen durfte. Jedes Mal, wenn er in ihre Nähe kam, drängten sich andere zwischen sie und hielten sie auseinander.

Schließlich wurde das so auffällig, dass er Damon aufspürte und ihn darüber befragte. Damon lachte. »Ich hatte vergessen, dass du in den Kilghardbergen ein Fremder bist, Bruder. Du willst ihnen den Spaß doch nicht verderben? Es ist Sport bei Hochzeiten, Mann und Frau getrennt zu halten, damit sie nicht fortschlüpfen und ihre Ehe vollziehen können, bevor sie von der ganzen Gesellschaft zu Bett gebracht worden sind. Wenn das geschieht, kann sich jeder mit den Scherzen vergnügen, die hier bei Hochzeiten Tradition sind.« Er lachte vor sich hin, und in Andrew stieg plötzlich die Frage auf, was ihm noch bevorstehen mochte.

Damon folgte seinen Gedanken genau und erklärte: »Wenn die Hochzeiten in Thendara abgehalten worden wären – ja, dort ist man aufgeklärter und zivilisierter. Aber hier hält man sich an die ländlichen Sitten, und ich fürchte, sie sind von sehr derber Natürlichkeit. Mir selbst macht das nichts aus, aber ich bin auch hier aufgewachsen. Mich wird man meines Alters wegen noch ein bisschen extra aufziehen. Die meisten Männer heiraten, wenn sie etwa in Domenics Alter sind. Und Ellemir stammt auch aus den Bergen, und sie hat die Braut bei so vielen Hochzeiten geneckt, dass ich glaube, sie wird ebenso viel Spaß haben wie die Gäste. Aber ich wünschte, ich könnte es Callista ersparen. Sie war immer ... abgeschirmt. Und eine Bewahrerin, die ihr Amt niederlegt, ist eine zu gute Zielscheibe für schmutzige Witze. Ich fürchte, für sie hat man einen besonders handfesten Spaß bereit.«

Andrew sah zu Ellemir hinüber, die lachend und errötend unter den Mädchen stand. Auch Callista wurde umringt, aber sie sah in sich gekehrt und elend aus. Mit Erleichterung stellte Andrew jedoch fest, dass zwar viele Frauen mit roten Köpfen kicherten, lachten und kreischten, eine nicht unbeträchtliche Zahl von ihnen jedoch – hauptsächlich die jüngsten – wie Callista verschämt und schüchtern waren.

»Trink!« Domenic drückte Andrew ein Glas in die Hand. »Du kannst bei einer Hochzeit nicht nüchtern bleiben, das ist unhöflich. Wenn du dich nämlich nicht betrinkst, könntest du zu leidenschaftlich werden und deine Braut misshandeln, wie, Damon?« Er schloss seinen Witz über den Mondschein an, den Andrew nicht verstand, Damon jedoch vor verlegenem Lachen schnauben ließ.

»Ich sehe, du holst dir bei Andrew Rat für heute Nacht. Sag mir, Andrew, haben deine Leute auch dafür eine Maschine? Was, nicht?« Pantomimisch stellte er übertriebene Erleichterung dar. »Das ist ja immerhin etwas! Ich fürchtete schon, wir müssten eine spezielle Demonstration arrangieren.«

Dezi starrte Damon mit konzentrierter Aufmerksamkeit an. War der Junge bereits betrunken? Dezi sagte: »Ich freue mich, dass du die Absicht ausgesprochen hast, deine Söhne zu legitimieren. Oder willst du in deinem Alter mir erzählen, dass du noch keine Söhne hast, Damon?«

Bei einer Hochzeit durfte man indiskrete Fragen nicht übel nehmen, und so antwortete Damon mit gutmütigem Lächeln: »Ich bin weder ein Mönch noch ein Ombredin, Dezi, deshalb ist das nicht unmöglich, aber sollte es so sein, dann haben ihre Mütter versäumt, mich über ihre Existenz zu informieren. Aber ich hätte mich über einen Sohn gefreut, ob Bastard oder nicht.« Plötzlich berührten seine Gedanken die Dezis. In seiner Betrunkenheit hatte der Junge sich nicht abgeschirmt, und in der Flut von Verbitterung erfasste Damon den einen wesentlichen Punkt. Zum ersten Mal erkannte er, was der Grund für Dezis Verbitterung war.

Der Junge glaubte, Dom Estebans eigener, nie anerkannter Sohn zu sein. Hätte Esteban das wirklich irgendeinem seiner Söhne, ganz gleich, wie er gezeugt worden war, angetan?, fragte sich Damon. Er erinnerte sich daran, dass Dezi Laran hatte.

Später, als er es Domenic gegenüber erwähnte, erklärte dieser: »Das glaube ich nicht. Mein Vater ist ein gerechter Mann. Er hat seine Nedestro-Söhne, die er von Larissa d’Asturien hat, anerkannt und sie versorgt. Er ist zu Dezi so freundlich gewesen wie zu jedem beliebigen Verwandten, aber wenn Dezi sein Sohn wäre, hätte er es bestimmt gesagt.«

»Er hat ihn nach Arilinn geschickt«, wandte Damon ein, »und du weißt, dass dort niemand aufgenommen wird, der nicht von reinem Comyn-Blut ist. In den anderen Türmen ist es nicht so, aber in Arilinn ...«

Domenic zögerte. »Ich möchte über das Verhalten meines Vaters nicht hinter seinem Rücken sprechen«, erklärte er dann fest. »Komm mit und frag ihn selbst.«

»Ist das die richtige Zeit für eine solche Frage?«

»Eine Hochzeit ist die richtige Zeit, Fragen der Legitimität zu klären«, betonte Domenic, und Damon folgte ihm. Das sah Domenic ähnlich, dachte er, eine Frage zu klären, sobald sie sich erhob.

Dom Esteban saß am Rand des festlichen Treibens und sprach mit einem peinlich höflichen jungen Paar, das sich zum Tanzen entfernte, als sein Sohn herantrat.

Domenic fragte geradeheraus: »Vater, ist Dezi unser Bruder oder nicht?«

Esteban Lanart blickte auf das Wolfsfell nieder, das seine Knie bedeckte. »Das könnte durchaus sein, mein Junge.«

»Warum ist er dann nicht anerkannt worden?«, verlangte Domenic heftig zu wissen.

»Domenic, du verstehst diese Dinge nicht, Junge. Seine Mutter...«

»Eine gewöhnliche Hure?«, fragte Domenic entsetzt und angeekelt.

»Was hältst du von mir? Nein, natürlich nicht. Sie war eine meiner Verwandten. Aber sie ...« Merkwürdig, der raue alte Mann wurde vor Verlegenheit rot. Endlich sagte er: »Nun, das arme Ding ist jetzt tot und kann nicht mehr beschämt werden. Es war ein Mittwinterfest, und wir waren alle betrunken, und sie schlief diese Nacht mit mir – und nicht mit mir allein, sondern auch mit vier oder fünf meiner Cousins. Als es sich dann erwies, dass sie ein Kind erwartete, war keiner von uns willens, den Jungen anzuerkennen. Ich habe für ihn getan, was ich konnte, und es lässt sich nicht leugnen, dass er Comyn-Blut hat. Aber er könnte meins haben oder Gabriels oder Gwynns ...«

Domenics Gesicht war rot, doch er ließ nicht locker. »Trotzdem hätte ein Comyn-Sohn anerkannt werden sollen.«

Esteban fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Gwynn sagte immer, er wolle es tun, aber er starb, ehe er sich dazu aufraffen konnte. Ich habe gezögert, Dezi diese Geschichte zu erzählen, weil ich glaube, sie würde seinen Stolz schlimmer verletzen als die einfache Tatsache seiner Illegitimität. Und schlecht behandelt ist er schließlich nicht worden«, verteidigte er sich. »Ich habe ihn hergeholt, ich habe ihn nach Arilinn gesandt. Er hat alles, was einem Nedestro-Erben zusteht, ausgenommen die offizielle Anerkennung.«

Damon dachte darüber nach, als er zum Tanz zurückging. Kein Wunder, dass Dezi empfindlich und beunruhigt war. Offenbar spürte er, dass ein Schandmal auf ihm ruhte, das mit illegitimer Abstammung nichts zu tun hatte. Für ein Mädchen aus guter Familie war Promiskuität dieser Art entehrend. Er wusste, Ellemir hatte Liebhaber gehabt, aber sie war diskret dabei vorgegangen, und wenigstens einer war der Gatte ihrer Schwester gewesen, und das war ein alter Brauch. Es hatte nie einen Skandal gegeben. Auch hatte sie es nicht riskiert, ein Kind zu gebären, das kein Mann anerkennen würde.

Als Damon und Domenic ihn verlassen hatten, versorgte sich Andrew in düsterer Stimmung mit Wein. Mit einer gewissen Erbitterung dachte er, dass er in Anbetracht dessen, was heute Abend noch vor ihm lag, vielleicht gut daran tat, sich so schwer wie möglich zu betrinken. Auf der einen Seite die ländlichen Sitten, die Damon so lustig fand, und auf der anderen das Wissen, dass er und Callista ihre Ehe vorerst nicht vollziehen konnten – das würde eine Hölle von Hochzeitsnacht werden!

Doch bei genauerem Überlegen fand er, er müsse eine haarfeine Grenzlinie einhalten, betrunken genug sein, dass ihm die Peinlichkeit der Situation nicht so recht zu Bewusstsein kam, aber nüchtern genug, um sein Callista gegebenes Versprechen, sie nie unter Druck zu setzen oder zu drängen, nicht zu vergessen. Er begehrte sie – er hatte in seinem ganzen Leben nie eine Frau so begehrt –, aber er wünschte sie sich willig und sein eigenes Verlangen teilend. Er wusste ganz genau, dass er an einer Vereinigung, die auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit einer Vergewaltigung hatte, keine Freude haben würde. Und bei Callistas augenblicklicher Verfassung war etwas anderes nicht möglich.

»Wenn du dich nicht betrinkst, könntest du zu leidenschaftlich werden und deine Braut misshandeln.« Dieser verdammte Domenic und seine dummen Witze! Glücklicherweise wusste niemand außer Damon, der das Problem verstand, was er durchmachte.

Wenn sie es wüssten, würden sie es wahrscheinlich für komisch halten!, überlegte Andrew. Noch ein schmutziger Witz mehr auf Kosten des Brautpaars!

Plötzlich spürte er Unruhe, Verzweiflung ... Das war Callista! Callista war irgendwo in Schwierigkeiten! Er eilte in ihre Richtung, ließ sich von seiner telepathischen Empfänglichkeit leiten.

Er fand sie am einen Ende der Halle, von Dezi an die Wand gedrängt. Er hatte seine Arme links und rechts von ihr aufgestemmt, so dass sie sich nicht ducken und ihm entfliehen konnte. Er beugte sich vor, um sie zu küssen.

Sie wand sich zur einen Seite und zur anderen, versuchte, seinen Lippen zu entgehen, und flehte: »Tu’s nicht, Dezi, ich möchte mich nicht gegen einen Verwandten verteidigen müssen ...«

»Wir sind hier nicht im Turm, Domna. Komm jetzt, nur ein richtiger Kuss ...«

Andrew fasste den Jungen an einer Schulter und riss ihn weg. Dezi verlor den Boden unter den Füßen.

»Verdammt noch mal, lass sie in Ruhe!«

Dezi sah ihn verdrießlich an. »Das war doch nur ein Spaß zwischen Verwandten.«

»Ein Spaß, den Callista nicht zu würdigen scheint«, fuhr Andrew ihn an. »Verzieh dich! Oder ich werde ...«

»Was wirst du?«, höhnte Dezi. »Mich zu einem Duell fordern?«

Andrew blickte auf den schmächtigen Jungen hinab. Dezi war rot im Gesicht, wütend, offensichtlich betrunken. Sofort verflog sein Zorn. Die terranische Sitte, Unmündigen das Trinken von Alkohol zu verbieten, hatte schon etwas für sich, dachte er. »Dich herausfordern? Teufel!«, lachte er. »Ich werde dich übers Knie legen und durchhauen. Jetzt geh und werde wieder nüchtern und hör auf, die Erwachsenen zu belästigen!«

Dezi sandte Andrew einen mörderischen Blick zu, aber er ging, und Andrew kam zu Bewusstsein, dass er mit Callista zum ersten Mal seit der Erklärung allein war.

»Zum Teufel, was hatte er vor?«

Callista war so rot wie ihr leichtes Gewand, aber sie versuchte, den Vorfall als Scherz abzutun. »Oh, er sagte, jetzt sei ich keine Bewahrerin mehr, und da stehe es mir frei, der unwiderstehlichen Leidenschaft nachzugeben, die er, wie er überzeugt sei, in jeder weiblichen Brust erregen müsse.«

»Ich hätte den Fußboden mit ihm aufwischen sollen«, sagte Andrew.

Sie schüttelte den Kopf. »O nein. Ich denke, er ist einfach ein bisschen mehr betrunken, als er vertragen kann. Und schließlich ist er ein Verwandter. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er meines Vaters Sohn ist.«

Das hatte Andrew schon halb und halb erraten, als er Domenic und Dezi Seite an Seite sah. »Aber würde er ein Mädchen so behandeln, das er für seine Schwester hält?«

»Halbschwester«, berichtigte Callista, »und in den Bergen dürfen Halbbruder und Halbschwester miteinander schlafen, wenn sie wollen, und sogar heiraten, wenn es auch bei so naher Verwandtschaft für besser gehalten wird, wenn sie keine Kinder haben. Und schmutzige Witze und dumme Streiche sind Brauch bei einer Hochzeit, so dass Dezi nur grob und nicht schockierend war. Ich bin zu empfindlich, und dann ist er auch noch sehr jung.«

Sie war immer noch zitterig und aufgeregt, und Andrew dachte immer noch, er hätte mit dem Jungen den Fußboden aufwischen sollen. Dann, verspätet, fragte er sich, ob er zu hart gegen Dezi gewesen sei. Dezi war weder der erste noch der letzte Bengel, der mehr trank, als er vertragen konnte, und sich zum Narren machte.

Er sah in ihr müdes, angestrengtes Gesicht und sagte leise: »Es wird bald vorüber sein. Liebes.«

»Ich weiß.« Sie zögerte »Weißt du Bescheid ... der Brauch ...?«

»Damon hat es mir erzählt«, nickte er. »Wie ich es verstanden habe, stecken sie uns unter vielen rüden Witzen zusammen ins Bett.«

Sie nickte errötend. »Man nimmt an, dass es das Zeugen von Kindern fördert, und in diesem Teil der Welt ist das für eine junge Familie sehr wichtig, wie du dir vorstellen kannst. Deshalb müssen wir einfach ... das Beste daraus machen.« Sie streifte ihn tief errötend mit einem Blick. »Es tut mir Leid. Ich weiß, das wird es noch verschlimmern.«

Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, lächelte er. »Wenn dieser Brauch auf mich überhaupt eine Wirkung haben kann, dann die, mich zu ernüchtern.« Wieder sah er Schuldbewusstsein über ihr Gesicht huschen, und er sehnte sich sehr danach, sie zu trösten.

»Sieh mal«, fuhr er liebevoll fort, »du kannst es doch so betrachten: Lass sie ihren Spaß haben, wir können trotzdem tun, was wir wollen, und das wird unser Geheimnis sein, wie es gut und richtig ist. Wir warten den richtigen Zeitpunkt ab. Also können wir den ganzen Unsinn ruhig über uns ergehen lassen.«

Sie seufzte und lächelte ihn an. Leise sagte sie: »Wenn du wirklich so darüber denkst ...«

»Das tue ich, Liebste.«

»Ich bin so froh«, hauchte sie. »Sieh, Ellemir wird von allen Mädchen weggezerrt.«

Sie gewahrte seine Bestürzung und setzte schnell hinzu: »Nein, sie tun ihr nicht weh. Es ist nur Brauch, dass eine Braut sich ein bisschen zur Wehr setzt. Es geht auf die Zeit zurück, als Mädchen ohne ihre Zustimmung verheiratet wurden. Heute ist es nur noch ein Spiel. Vater ist schon von seinen Leibdienern fortgebracht worden, und Leonie wird sich auch bald zurückziehen, so dass das junge Volk so viel Lärm machen kann, wie es ihm gefällt.«

Aber Leonie zog sich nicht zurück. Sie kam zu ihnen und stand still und ernst in ihrem karminroten Gewand neben ihnen.

»Callista, Kind, möchtest du, dass ich bleibe? Vielleicht werden die Witze in meiner Gegenwart ein bisschen zurückhaltender und schicklicher ausfallen.«

Andrew spürte, wie sehr Callista sich das wünschte, aber sie lächelte und streifte Leonies Hand mit der unter Telepathen üblichen federleichten Berührung. »Ich danke dir, Verwandte. Aber ich ... ich darf meine Ehe nicht damit anfangen, dass ich allen den Spaß verderbe. Es ist noch keine Braut an ihrer Verlegenheit gestorben, und ich bin sicher, ich werde nicht die Erste sein, der es passiert.« Und Andrew nahm sich bei diesen Worten vor, alles tapfer und ohne Klage hinzunehmen, was die Gesellschaft auch an obszönen Witzen für eine Bewahrerin, die ihre rituelle Jungfräulichkeit aufgab, in Bereitschaft halten mochte. Er dachte an das mutige Mädchen, das selbst in der Gefangenschaft der Katzenwesen, allein und verängstigt in den Höhlen von Corresanti, unerschrocken kleine Scherze gemacht hatte.

Deshalb liebe ich sie so sehr, sagte er zu sich selbst.

Leonie sagte sehr sanft: »Dann sei es, wie du willst, Liebling. Nimm meinen Segen.« Sie verbeugte sich feierlich vor ihnen beiden und ging.

Als habe ihr Weggang alle Schleusen geöffnet, brandete eine Flut von jungen Männern und Mädchen auf sie ein.

»Callista, Ann’dra, ihr verschwendet hier eure Zeit, die Nacht ist bald vorbei. Habt ihr nichts Besseres zu tun als zu reden?«

Gerade wurde Damon von Dezi fortgezerrt. Domenic ergriff Andrews Hand und riss ihn von Callista weg. Andrew sah, wie die ganze Bande junger Mädchen sich um Callista drängte und sie vor ihm verbarg. Jemand rief laut: »Wir werden dafür sorgen, dass sie für dich bereit ist, Ann’dra, damit du ihre heilige Robe nicht selbst zu entweihen brauchst!«

»Kommt, ihr beiden!«, rief Domenic in bester Laune. »Diese Burschen würden sicher lieber die ganze Nacht hier bleiben und weitertrinken, aber jetzt müssen sie ihre Pflicht tun, eine Braut darf man nicht warten lassen.«

Andrew und Damon wurden die Treppe hinaufgezogen und in das Wohnzimmer der Suite geschubst, das sie heute Vormittag vorbereitet hatten. »Verwechselt die beiden jetzt bloß nicht!«, brüllte der Gardist Caradoc in seiner Trunkenheit. »Wenn die Bräute Zwillinge sind, wie soll da ein Gatte, noch dazu ein betrunkener, wissen, ob er in den Armen der richtigen Frau liegt?«

»Was wäre da der Unterschied?«, wollte ein fremder junger Mann wissen. »Das müssen sie unter sich ausmachen, meint ihr nicht? Und wenn die Lampe aus ist, ist eine Frau wie die andere. Wenn sie das Zimmer links und das rechts durcheinander bringen, wäre das denn weiter schlimm?«

»Wir müssen mit Damon anfangen. Er hat so viel Zeit verloren, dass er sich beeilen muss, seine Pflicht gegenüber seinem Clan zu erfüllen«, erklärte Domenic vergnügt. Schnell riss man Damon die Kleider ab und hüllte ihn in ein langes Gewand. Die Schlafzimmertür wurde mit aller Feierlichkeit geöffnet. Andrew konnte Ellemir sehen. Sie war in spinnenfeine Seide gekleidet, ihr kupferfarbenes Haar war gelöst und flutete über ihre Brüste. Ihr Gesicht war rot, und sie kicherte unbeherrscht, aber Andrew spürte, dass sie am Rand eines hysterischen Schluchzens stand. Es war genug, dachte er. Es war zu viel. Alle sollten gehen und sie allein lassen.

»Damon«, erklärte Domenic feierlich, »ich habe ein Geschenk für dich.«

Erleichtert stellte Andrew fest, dass Damon gerade genug betrunken war, um alles gutmütig hinzunehmen. »Das ist freundlich von dir, Schwager. Was ist es für ein Geschenk?«

»Ich habe dir einen Kalender gemacht, in dem die Tage und die Monde eingetragen sind. Wenn du heute Nacht deine Pflicht tust, siehst du wohl, dann habe ich in Rot das Datum eingetragen, an dem dein erster Sohn geboren werden wird!«

Damon war rot vor ersticktem Gelächter. Andrew dachte, dass er Domenic den Kalender wahrscheinlich an den Kopf geworfen hätte, aber Damon nahm ihn entgegen und ließ sich mit allen Zeremonien zu Ellemir ins Bett helfen. Domenic sagte etwas zu Ellemir, woraufhin sie ihr Gesicht unter der Decke verbarg.

Dann führte Domenic die Zuschauer mit übertriebener Feierlichkeit zur Tür.

»Und jetzt, auf dass wir die Nacht in friedlichem Trinken verbringen können, ungestört durch alles, was jenseits dieser Türen vorgehen mag, habe ich noch ein weiteres Geschenk für das glückliche Paar. Ich werde einen telepathischen Dämpfer gleich innerhalb eurer Türen anbringen ...«

Damon setzte sich im Bett hoch und warf, schließlich doch die Geduld verlierend, ein Kissen nach ihm. »Genug ist genug!«, rief er. »Zum Teufel, macht, dass ihr hinauskommt, und lasst uns in Frieden!«

Als wäre es das, worauf sie gewartet hatten – vielleicht war es das auch –, zog sich die ganze Schar von Männern und Frauen schnell zu den Türen zurück. »Wirklich, Damon ...« – Domenic legte sein Gesicht in vorwurfsvolle Falten – »... kannst du deine Ungeduld nicht noch ein bisschen länger beherrschen? Meine arme kleine Schwester, gnadenlos dieser unschicklichen Hast ausgeliefert!« Aber er schloss die Tür, und Andrew hörte, wie Damon sie von innen verriegelte. Endlich war den als Brauchtum geltenden Witzen ein Ende gemacht, und Damon und Ellemir waren allein.

Aber jetzt kam er an die Reihe. Es war, dachte er finster, nur etwas Gutes an dieser Sache. Bis die betrunkenen Männer mit ihrer Alberei fertig waren, würde er für alles außer dem Schlafen zu verdammt wütend sein.

Sie stießen ihn in das Zimmer, wo Callista wartete, umringt von den jungen Mädchen, Freundinnen Ellemirs, ihren eigenen Dienerinnen, jungen Edelfrauen aus der Nachbarschaft. Sie hatten ihr ihr feierliches karminrotes Gewand ausgezogen und sie in ein dünnes Hemd wie das Ellemirs gesteckt, ihr das Haar gelöst und es ihr über die bloßen Schultern gelegt. Sie blickte schnell zu ihm auf, und Andrew kam es einen Moment so vor, als wirke sie irgendwie viel jünger als Ellemir: jung, verloren und verwundbar.

Er spürte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Schüchternheit und Widerstreben waren Teil des Spiels, aber wenn sie im Ernst zusammenbrach und weinte, dann würde man ihr übel nehmen, dass sie den Spaß verdorben hatte. Man würde sie für ihre Unfähigkeit, an dem Spiel teilzunehmen, verachten.

Kinder konnten grausam sein, sagte Andrew zu sich selbst, und so viele dieser Mädchen waren noch Kinder. So jung sie aussah, war Callista eine Frau. Sie war vielleicht nie ein Kind gewesen; der Turm hatte ihr ihre Kindheit gestohlen ... Er wappnete sich gegen das, was kommen würde, und er wusste, sosehr es ihm gegen den Strich gehen mochte, für Callista war es schlimmer.

Ob ich die Meute aus dem Zimmer bekommen kann, bevor sie anfängt zu weinen und sich dafür hasst?, fragte er sich. Warum muss sie diesen Unsinn über sich ergehen lassen?

Domenic fasste ihn derb an den Schultern und drehte ihn um, weg von Callista.

»Paß auf!«, ermahnte er ihn. »Wir sind noch nicht fertig mit dir, und die Frauen haben Callista noch nicht ganz für dich vorbereitet. Kannst du nicht noch ein paar Minuten warten?« Und Andrew ließ Domenic seinen Willen, fest entschlossen, den Witzen, die er nicht verstand, höfliche Aufmerksamkeit zu zollen. Aber er sehnte den Zeitpunkt herbei, zu dem er und Callista allein sein würden.

Oder würde das noch schlimmer sein? Wie dem auch sein mochte, zuerst musste er das hier irgendwie durchstehen. Er ließ es zu, dass Domenic und die anderen Männer ihn ins Nebenzimmer führten.

Der verbotene Turm

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