Читать книгу Hasturs Erbe - Marion Zimmer Bradley - Страница 8
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Оглавление(Lew Altons Erzählung)
Helles Tageslicht beschien den Raum. Ich hatte stundenlang auf dem Steinsitz am Feuer geschlafen und war kalt und steif. Marius, barfuß und in seinem Nachtgewand, rüttelte mich wach. Er sagte: »Ich habe etwas auf der Treppe gehört, hör doch!«
Er rannte zur Tür. Ich folgte ihm langsamer, als die Tür aufgestoßen wurde und zwei Wachen meinen Vater hereinschleppten. Einer der beiden erblickte mich und sagte: »Wo können wir ihn hinbringen, Kapitän?«
Ich sagte: »Bringt ihn hierher.« Dann half ich Andres, ihn auf sein Bett zu legen. »Was ist passiert?«, fragte ich und starrte schmerzerfüllt in sein bleiches, bewusstloses Gesicht.
»Er ist die Steintreppe neben der Wachhalle herabgefallen«, sagte einer der Männer. »Ich habe mich bemüht, dass die Treppe diesen Winter repariert wird. Euer Vater hätte sich den Hals brechen können. Wie jeder von uns.«
Marius trat mit bleichem, verschrecktem Gesicht an das Bett. »Ist er tot?«
»Aber nein, mein Kleiner«, sagte der Wachmann. »Ich denke, der Kommandeur hat sich ein paar Rippen gebrochen und sich an Arm und Schulter verletzt, doch wenn er nicht später anfängt, Blut zu spucken, ist er in Ordnung. Ich wollte, dass Master Raimon unten nach ihm sieht, doch er hieß uns, ihn hierher zu tragen.«
Ich beugte mich mit einem Gefühl aus Wut und Erleichterung über ihn. Was für ein Zeitpunkt für einen Unfall! Der allererste Tag der Ratssitzungen! Als wenn ihn meine verwirrten Gedanken erreicht hätten – und vielleicht taten sie das auch –, stöhnte er auf und öffnete die Augen. Sein Mund zuckte krampfhaft unter Schmerzen zusammen.
»Lew?«
»Vater?«
»Du musst den Appell an meiner Stelle übernehmen …«
»Vater, nein, es gibt ein Dutzend andere, denen dies eher zusteht.«
Sein Gesicht wurde hart. Ich sah und fühlte, dass er gegen ungeheure Schmerzen ankämpfte. »Verdammt, du wirst gehen! Ich habe gekämpft … gegen den ganzen Rat … jahrelang. Du wirst mir nicht alle meine Arbeit zunichte machen … nur weil ich Esel gefallen bin. Du hast ein Recht, mich zu vertreten, und du wirst es, verdammt noch mal, tun!«
Seine Schmerzen zerrissen mich. Ich war ganz auf ihn eingestellt. Durch die peinigenden Schmerzen hindurch fühlte ich seine Emotionen, Wut und den wilden Entschluss, der mir seinen Willen aufzwang. »Du wirst es tun!«
Ich bin nicht umsonst ein Alton. Schnell zog ich mich zurück und kämpfte gegen seinen Versuch, einen Kontakt zu erzwingen. »Das ist nicht nötig, Vater. Ich bin nicht deine Marionette!«
»Aber du bist mein Sohn«, sagte er heftig. Es klang wie ein Sturm, und sein Wille bedrängte mich hart. »Mein Sohn und mein Stellvertreter, und niemand, niemand wird das in Frage stellen!«
Seine Aufregung wurde so stark, dass ich merkte, ich konnte nicht weiter mit ihm streiten, ohne ihn ernsthaft zu verletzen.
Irgendwie musste ich ihn beruhigen. Ich blickte direkt in seine wütenden Augen und sagte: »Es gibt keinen Grund, mich anzubrüllen. Ich werde tun, was du willst, zumindest im Moment. Streiten werden wir später darüber.«
Seine Augen schlossen sich, ob aus Erschöpfung oder vor Schmerz, konnte ich nicht sagen. Master Raimon, der Krankenoffizier der Wachen, betrat das Zimmer und schritt rasch zum Bett. Ich machte ihm Platz. Wut, Erschöpfung und Schlafmangel ließen mir den Kopf schwindlig werden. Verdammt! Vater wusste ganz genau, wie ich mich fühlte! Und er scherte sich einen Dreck darum!
Marius stand immer noch erstarrt und entsetzt da, als Master Raimon das Hemd meines Vaters aufzuschneiden begann. Ich sah große lila, blutdunkle Verletzungen, bevor ich Marius mit fester Hand wegzog. »Es wird alles wieder gut mit ihm«, sagte ich. »Er hätte nicht so laut schreien können, wenn er im Sterben läge. Zieh dich an und bleib hier weg.«
Gehorsam entfernte sich das Kind, und ich stand im Vorzimmer und rieb mir in Wut und Verwirrung mit den Fäusten durch das Gesicht. Wie viel Uhr war es? Wie lange hatte ich geschlafen? Wo war Regis? Wohin war er gegangen? In dem Zustand, als er mich verließ, war er zu verzweifelten Handlungen fähig gewesen. Der Konflikt zwischen Loyalität und Verpflichtung hielt mich wie gelähmt. Andres kam aus dem Zimmer meines Vaters und sagte: »Lew, wenn Ihr gehen wollt, um den Appell abzunehmen, dann macht Euch besser auf den Weg.« Und ich merkte, dass ich dort gestanden hatte, als seien meine Füße am Boden angewurzelt.
Mein Vater hatte mir eine Aufgabe übertragen. Doch wenn Regis fortgelaufen war in seiner selbstmörderischen Verzweiflung, müsste ich nicht auch nach ihm suchen? Ich hätte in jedem Fall heute Morgen Dienst gehabt. Jetzt schien es, als müsse ich alles selbst entscheiden. Es gab gewiss einige, die dies in Frage stellen würden. Es war immerhin Vaters Recht, seinen Stellvertreter selbst auszusuchen, doch ich war derjenige, der sich ihrer Feindseligkeit stellen musste.
Ich wandte mich Andres zu. »Schick irgendjemanden, mir etwas zu essen zu bringen«, sagte ich, »und sieh nach, wo Vater die Stabsliste und den Appell hat, aber störe ihn nicht. Ich sollte baden und mich umziehen. Habe ich dazu noch Zeit?«
Andres blickte mich ruhig an. »Verliert nicht den Kopf. Ihr habt alle Zeit, die Ihr benötigt. Wenn Ihr das Kommando habt, können sie nicht anfangen, ehe Ihr dort seid. Nehmt Euch die Zeit, Euch zurechtzumachen. Ihr müsst aussehen, als hättet Ihr das Kommando, selbst wenn Euch nicht danach ist.«
Er hatte natürlich Recht. Ich wusste es, wenn ich auch seinen Tonfall ablehnte. Andres scheint immer Recht zu haben. Er war der Coridom, der Hauptverwalter auf Armida, seit ich denken konnte. Er war ein Terraner und einmal bei der Raumarmee gewesen. Ich habe nie erfahren, wo er meinen Vater traf oder warum er das Imperium verlassen hatte. Die Diener meines Vaters hatten mir die Geschichte erzählt, dass er eines Tages nach Armida gekommen sei und gesagt habe, er habe die Raumarmee satt, und mein Vater hatte gesagt: »Wirf deine Waffe fort und versprich mir, das Abkommen zu halten, dann habe ich Arbeit auf Armida für dich, so lange du willst.« Zuerst war er Vaters Privatsekretär gewesen, dann sein persönlicher Assistent, und schließlich stand er dem gesamten Haushalt vor, von den Pferden und Hunden angefangen bis zu den Söhnen und der Pflegetochter. Er gab Zeiten, da hatte ich das Gefühl, Andres sei der Einzige, der mich so wie ich war akzeptierte. Bastard. Halbblut – Andres war das gleichgültig.
Jetzt fügte er hinzu: »Für die Disziplin ist es besser, zu spät zu kommen als pünktlich, aber unordentlich und ohne zu wissen, was zu tun ist. Bring dich in Ordnung, Lew, und ich meine nicht nur deine Uniform. Man gewinnt nichts, wenn man in mehrere Richtungen gleichzeitig loszurennen versucht.«
Ich ging ins Bad, nahm ein schnelles Frühstück ein und kleidete mich angemessen an, um den Blick von hundert und mehr Offizieren aushalten zu können, von denen jeder auf der Suche nach Fehlern war. Nun, sollten sie doch.
Andres fand die Stabslisten und die Dienstliste der Wache unter der Habe meines Vaters. Ich nahm sie und ging zur Wachhalle.
Die Haupthalle der Wache auf Schloss Comyn liegt auf der untersten Ebene. Dahinter liegen die Kasernen, Ställe, Waffenkammern und Paradeplätze. Davor führt ein verbarrikadiertes Tor hinab nach Thendara. Der Rest von Schloss Comyn lässt mich kalt, doch die großen Bogenfenster der Halle habe ich niemals ohne einen merkwürdigen Kloß im Hals ansehen können.
Als mein Vater mich zuerst hierher brachte, war ich vierzehn Jahre alt und mir schon damals dessen bewusst, dass mein Leben auf Grund meiner Herkunft unsicher und zerrissen sein würde. Bevor er mich zu meinen Verwandten schickte oder jedenfalls zu denen, die er sich als meine Verwandten erhoffte – sie dachten darüber anders –, hatte er mir von einigen der Altons erzählt, die vor uns hierher gekommen waren. Zum ersten und fast zum letzten Mal hatte ich ein Zugehörigkeitsgefühl zu jenen alten Altons gespürt, deren Name einen gewichtigen Part in der Geschichte Darkovers gespielt hatte: Mein Großvater Valdir, der das erste Feuerlöschsystem in den Kilghardbergen organisiert hatte. Dom Esteban Lanart, der vor hundert Jahren die Katzenmenschen aus den Höhlen von Corresanti vertrieben hatte. Rafael Lanart-Alton, der als Regent eingesetzt wurde, als Stefan Hastur der Neunte in der Wiege gekrönt wurde, in jenen Tagen, bevor die Elhalyn Könige in Thendara waren.
Die Wachhalle war ein riesiger gemauerter Raum mit Bogengängen und Steinboden, Rundsteine, die im Lauf der Jahrhunderte von den Füßen der Wachen abgewetzt worden waren. Das Licht drang merkwürdig gebrochen und in vielen Farben durch die Fenster, die von der Art und Weise waren, wie man sie baute, bevor man Glasscheiben kannte.
Ich zog die Liste, die Andres mir gegeben hatte, aus der Tasche und studierte sie. Auf dem obersten Blatt standen die Namen der Kadetten des ersten Jahrgangs. Der Name Regis Hastur stand als unterster darauf; offensichtlich war er später hinzugefügt worden. Verdammt, wo war Regis? Dann ging ich die Liste der Kadetten im zweiten Jahr durch. Man hatte den Namen von Oktavien Vallonde gestrichen. Ich hatte seinen Namen auch nicht erwartet, doch seine Anwesenheit hätte mich erleichtert.
Auf der Stabsliste hatte Vater seinen eigenen Namen als Kommandeur ausgestrichen und meinen eingesetzt, offensichtlich mit der rechten Hand und unter großen Schwierigkeiten.
Ich wünschte, er hätte sich die Mühe erspart. Gabriel Lanart-Hastur, Javannes Mann und mein Cousin, hatte meine Stelle als zweiter Mann eingenommen. Er hätte den Kommandeursposten haben sollen. Ich war kein Soldat, nur ein Matrix-Techniker, und ich war entschlossen, am Ende dieses Dreijahresturnus, der nun vom Gesetz vorgeschrieben war, nach Arilinn zurückzukehren. Gabriel jedoch war der geborene Offizier. Er mochte den Dienst und war fähig. Auch war er ein Alton und hatte einen Sitz im Rat. Die meisten Comyn meinten, man hätte ihn als Kennards Erben einsetzen sollen. Doch wir waren auf irgendeine Weise Freunde, und ich wünschte, er wäre heute hier gewesen anstatt auf Edelweiß, wo er die Geburt von Javannes Kind erwartete.
Vater sah darin offensichtlich kein Problem. Er war in den alten Tagen über zehn Jahre lang Psi-Techniker in Arilinn gewesen, und doch war es ihm hinterher möglich, ohne irgendein schreckliches Gefühl von Dissonanz zurückzukehren und das Kommando der Wache zu übernehmen. Meine eigenen inneren Konflikte waren ihm offensichtlich nicht wichtig oder auch nur verständlich.
Waffenmeister war wieder der alte Domenic di Asturien, damals Kapitän, als mein Vater ein Kadett von vierzehn Jahren war. In meinem ersten Jahr war er Kadettenmeister gewesen und fast der einzige Offizier der Wache, der mich fair behandelt hat.
Kadettenmeister – ich rieb mir die Augen und starrte auf die Liste. Das musste ich falsch gelesen haben. Doch hartnäckig blieben die Worte dieselben. Kadettenmeister: Dyan-Gabriel, Lord Ardais.
Laut stöhnte ich auf. Hölle, das musste einer von Vaters perversen Späßen gewesen sein. Er ist kein Dummkopf, und nur ein Idiot würde einem Mann wie Dyan eine Gruppe halb erwachsener Jungen unterstellen. Nicht nach dem Skandal im letzten Jahr. Uns war es gelungen, den Konflikt vor Lord Hastur geheim zu halten, und ich hatte geglaubt, selbst Dyan habe gemerkt, er sei zu weit gegangen.
Lassen wir uns über eines im Klaren sein: Ich mag Dyan nicht und er schätzt mich ebenfalls nicht, doch er ist ein tapferer Mann und ein guter Soldat, vielleicht der beste und fähigste Offizier in der Wache. Was sein Privatleben angeht – niemand wagt einen Kommentar zu den privaten Vergnügungen eines Comyn-Lords.
Ich hatte vor langer Zeit gelernt, nicht auf Geschwätz zu hören. Meine eigene Geburt war über Jahre hinweg ein Skandal gewesen. Aber dies war mehr als Geschwätz gewesen. Ich persönlich bin der Meinung, Vater hätte den Vallonde-Jungen nicht einfach ohne Fragen und Untersuchungen heimschicken sollen. Ein Teil von dem, was er sagte, entsprach der Wahrheit. Ocatavien war verstört, instabil. Er hätte nie zu den Wachen gehört, und es war ein Fehler gewesen, ihn überhaupt dort zu akzeptieren. Doch Vater hatte gemeint, je schneller alles unter den Teppich gekehrt würde, desto rascher würde die unappetitliche Geschichte aus dem Tagesgespräch verschwinden. Die Gerüchte waren natürlich nicht verschwunden und würden es wahrscheinlich auch nicht so bald.
Der Raum begann sich mit Uniformierten zu füllen. Dyan kam zum Podium, wo sich die Offiziere versammelten, und schenkte mir einen unfreundlichen Blick. Ohne Zweifel hatte er erwartet, als Vaters Stellvertreter benannt zu werden. Selbst das wäre noch besser gewesen, als ihn zum Kadettenmeister zu machen.
Verdammt. Das konnte ich nicht auf mich nehmen, ob es nun Vaters Wahl war oder nicht.
Dyans Privatleben war seine Sache, und mir war es egal, ob er Männer liebte, Frauen oder Ziegen. Er konnte so viele Geliebte haben wie einer aus der Trockenstadt, und die meisten Leute würden nicht weniger und nicht mehr darüber reden. Aber weitere Skandale in der Wache? Verdammt, nein! Das berührte die Ehre der Wache und der Altons, denen sie unterstellt war.
Vater hatte mir das Kommando übergeben. Also würde dies meine erste Kommandeursentscheidung sein.
Ich gab das Zeichen für die Versammlung. Ein oder zwei Zuspätkommende rannten auf ihre Plätze. Die älteren Männer nahmen ihre Plätze ein. Die Kadetten blieben, wie man ihnen gesagt hatte, in einer Ecke.
Regis war nicht unter ihnen. Ich bereute bitterlich, hier angebunden zu sein, doch ich konnte nichts tun.
Ich sah sie alle der Reihe nach an und spürte, wie sie mir ihre Zuneigung zurückgaben. Ich verbarg meine telepathische Sensibilität so gut ich konnte – bei dieser Menge war das nicht einfach –, doch ich nahm ihre Überraschung und Neugier, Ablehnung und Verärgerung wahr. Alles zusammen ergab mehr oder minder die Frage: Wo, zum Teufel, ist der Kommandeur? Oder noch schlimmer: Was tut der Bastard von dem alten Kennard dort oben beim Stab?
Schließlich erlangte ich ihre Aufmerksamkeit und berichtete von Kennards Unglück. Dies verursachte einiges Scharren, Flüstern, Gemurmel und Kommentare, von denen man die meisten klugerweise überhörte. Ich ließ sie gewähren, rief sie dann wieder zur Ordnung und begann die traditionelle Zeremonie des ersten Tages mit dem Appell und Aufruf.
Der Reihe nach las ich den Namen eines jeden Wachsoldaten vor. Jeder trat nach vorn, wiederholte eine kurze Formel der Loyalitätsbezeugung gegenüber den Comyn und informierte mich – ein strenger Brauch vor dreihundert Jahren, nun bloß noch eine Formalität –, wie viele Männer, ausgebildet und bewaffnet, wie es sich gehörte, er im Kriegsfalle ins Feld führen konnte. Nach etwa der Hälfte gab es Unruhe, und Regis, in Begleitung von einem halben Dutzend Diener in Hastur-Livree, trat ein. Einer der Diener gab mir eine Nachricht von Hastur selbst, mit einer Art Entschuldigung oder Erklärung für das Zuspätkommen.
Ich merkte, dass ich kreuzwütend war. Ich hatte Regis verzweifelt, mit Selbstmordgedanken, krank, hingestreckt unter irgendeinem unvorhergesehenen Effekt des Kirian, ja sogar tot vor meinen Augen gesehen, und er kam gleichmütig herein und störte die Appellzeremonie und die Disziplin. »Nimm deinen Platz ein, Kadett«, sagte ich scharf und schickte die Diener fort.
Er hätte dem Jungen, der letzte Nacht an meinem Feuer eine heiße Brühe gegessen und mir das Herz in Bitterkeit ausgeschüttet hatte, nicht unähnlicher sein können. Er trug die vollen Comyn-Abzeichen, Orden, Bänder, hohe Stiefel und eine himmelblaue Tunika von auserlesenem Schnitt. Er ging zu seinem Platz unter den Kadetten und hielt den Kopf steif emporgereckt. Ich spürte seine Furcht und Scheu, doch ich wusste, die anderen Kadetten würden es für die typische Comyn-Arroganz halten, und dafür würde er büßen müssen. Hinter seiner Fassade arroganter Kontrolle sah er müde aus, fast krank. Was war ihm letzte Nacht zugestoßen? Verdammt, erinnerte ich mich plötzlich, was ging mich der Erbe der Hasturs eigentlich an? Er hatte sich schließlich um mich auch kein Sorgen gemacht, ebenso wenig um die Tatsache, dass ich die Schwierigkeiten bekommen hätte, wäre ihm etwas Schlimmes zugestoßen.
Ich beendete das Defilee der Loyalitätsschwüre. Dyan beugte sich zu mir herüber und sagte: »Ich war letzte Nacht mit dem Rat in der Stadt. Hastur hat mich gebeten, der Garde die Lage zu erklären. Habe ich Eure Erlaubnis, das Wort zu ergreifen, Kapitän Montray-Alton?«
Dyan hatte mich noch niemals mit meinem eigentlichen Titel angeredet, weder in noch außerhalb der Wachhalle. Ich sagte mir wütend, das Letzte, was ich mir wünschte, sei seine Anerkennung. Ich nickte, und er ging zur Mitte des Podiums. Er sieht ebenso wenig wie ein typischer Comyn-Lord aus wie ich. Sein Haar ist dunkel, hat nicht das traditionelle Rot der Comyns, und er ist groß und schlank. Er besitzt die sechsfingrige Hand, die bei den Ardais und Aillard-Clans häufig auftaucht. Man sagt, es sei nichtmenschliches Blut bei den Ardais. Dyan sieht so aus.
»Stadtwache von Thendara«, bellte er. »Euer Komandeur, Lord Alton, hat mich gebeten, euch die Situation zu erläutern.« Sein verächtlicher Blick sagte nur zu deutlich, dass ich ja den Kommandeur spielen könne, während er derjenige war, der erklären konnte, was sich abspielte.
In der Stadt schien sich, wie ich ungefähr aus Dyans Worten entnehmen konnte, eine Spannung aufzubauen, hauptsächlich zwischen der Terranischen Raumtruppe und der Stadtgarde. Er bat jeden Wachsoldaten, Zwischenfälle zu vermeiden und die Sperrstunde einzuhalten, daran zu denken, dass das Gebiet um die Handelsstadt durch einen diplomatischen Vertrag zum Imperium gehörte. Er erinnerte uns an unsere Pflicht, uns der Gesetzesbrecher von Darkover anzunehmen und die Terraner sogleich den Behörden des Imperiums zu unterstellen. Nun, das war wohl so recht. Zwei Polizeikräfte in einer Stadt mussten irgendwelche Vereinbarungen treffen und Kompromisse schließen, wenn sie friedlich nebeneinander existieren wollten.
Ich musste zugestehen, Dyan war ein guter Redner. Es gelang ihm jedoch, den Eindruck zu vermitteln, dass die Terraner uns natürlicherweise unterlegen seien und weder das Abkommen noch die Regeln des persönlichen Anstandes einhielten, so dass wir für sie die Verantwortung übernehmen müssten, wie es alle Überlegenen tun, dass, während wir natürlicherweise dazu neigten, sie mit Verachtung zu behandeln, wir jedoch Lord Hastur einen persönlichen Gefallen täten, wenn wir Frieden hielten, selbst wenn wir anderer Meinung wären. Ich hatte meine Zweifel, ob diese kleine Rede wirklich die Reibungen zwischen Terranern und Wache vermindern würde.
Ich fragte mich, ob unsere Pendants in der Handelsstadt, der Legat und seine Stellvertreter, an diesem Morgen ebenfalls der Raumtruppe die Gesetze darlegten. Irgendwie glaubte ich nicht daran.
Dyan kehrte an seinen Platz zurück, und ich rief die Kadetten auf, nach vom zu treten. Ich rief das Dutzend Kadetten des dritten Jahrgangs der Reihe nach auf, dann die elf aus dem zweiten Jahr und fragte mich, was der Rat wohl unternehmen würde, um Octaviens leeren Platz auszufüllen. Dann wandte ich mich den Neulingen zu und rief sie in die Mitte des Raumes. Ich beschloss, die gewöhnliche Rede über die stolze, alte Organisation, in die wir das Vergnügen hatten, sie willkommen zu heißen, fortzulassen. Ich bin nicht ein so guter Redner wie Dyan und wollte nicht mit ihm konkurrieren. Vater könnte sie ihnen halten, wenn es ihm wieder besser ginge, oder der Kadettenmeister, wer immer es sein würde. Nur nicht Dyan. Nur über meine Leiche.
Ich beschränkte mich darauf, ihnen Grundfakten mitzuteilen. Von heute an würde es jeden Morgen nach dem Frühstück eine vollständige Versammlung und einen Appell geben. Man würde die Kadetten abgetrennt in ihren eigenen Kasernen halten, wo man sie unterwies und ihnen eine Grundausbildung im harten Drill zuteil werden ließ, bis sie forsch genug waren, ihren Platz in Formationen und im Dienst zu versehen. Die Schlosswache war Tag und Nacht besetzt, und sie würden sie der Reihe nach, vom Ältesten bis zum Jüngsten, in dem Bewusstsein ableisten, dass die Bewachung des Schlosses nicht lediglich eine niedere Pflicht, sondern ein Privileg sei, das die Edlen seit Urzeiten für sich beanspruchten, um die Söhne Hasturs zu bewachen. Und so weiter.
Die letzte Formalität – und ich war froh, so weit gekommen zu sein, denn der Raum wurde nun stickig, und die Kadetten begannen unruhig hin und her zu rutschen – war der offizielle Aufruf der Kadetten des ersten Jahrgangs. Persönlich kannte ich nur Regis und Vaters jungen Protegé Danilo, doch einige darunter waren die Söhne von Männern, die ich von der Wache kannte. Der letzte Name, den ich aufrief, war Regis-Rafael, Kadett Hastur.
Es herrschte verwirrte Stille, etwas zu lang. Dann machte ein kleiner Stups seinen Weg durch die Reihe der Kadetten, und man hörte es flüstern: »Das bist du, Dummkopf!« Regis’ erstaunte Stimme sagte: »Oh …« Eine weitere Pause: »Hier.«
Verdammt, Regis. Ich hatte zu hoffen begonnen, dass wir in diesem Jahr beim Aufruf ohne jenes besonders demütigende Spiel davonkämen. Irgendein Kadett, nicht immer ein Neuling, vergaß jedes Mal, auf den Aufruf zu antworten. Für solche Vorkommnisse gab es eine bestimmte Prozedur, die möglicherweise bereits seit drei Generationen existierte. Aus der Art und Weise, wie die anderen Wachsoldaten, von den Veteranen bis zu den älteren Kadetten, warteten, wie erwartungsvolle Seufzer ausgestoßen wurden, erkannte ich, dass sie alle – ja, verdammt, alle – auf den rituellen Anpfiff gewartet hatten.
Wenn es auf mich allein angekommen wäre, hätte ich brüsk gesagt: »Beim nächsten Mal, Kadett, antworte bitte auf den Aufruf deines Namens!« Später hätte ich dann allein mit ihm geredet. Doch wenn ich sie hier alle um ihren Spaß brächte, würde es Regis sowieso später zu spüren bekommen. Er hatte sich ohnehin schon durch sein Zuspätkommen und seinen Aufzug wie ein Prinz auffällig benommen. Ich konnte es also ruhig durchziehen. Regis würde sich in den nächsten Wochen an schlimmere Dinge gewöhnen müssen.
»Kadett Hastur«, sagte ich mit einem Seufzer, »ich schlage vor, du trittst vor, damit wir dich alle ansehen können. Und wenn du dann deinen Namen wieder vergisst, erkennen wir dich auch so.«
Regis trat nach vorn und starrte leer vor sich hin. »Du kennst doch meinen Namen.«
Gelächter antwortete ihm. Zandrus Hölle, war er so verwirrt, alles noch schlimmer zu machen? Ich ließ meine Stimme kalt und gleichgültig klingen. »Es ist meine Pflicht, ihn zu kennen, Kadett, und die deine ist es, jede Frage zu beantworten, die dir ein Offizier stellt. Wie ist dein Name, Kadett?«
Rasch und aufgebracht sagte er: »Regis-Rafael Felix Alar Hastur-y-Elhalyn!«
»Nun, Regis-Rafael Gottweißwie. Dein Name in der Wache lautet Kadett Hastur, und ich schlage vor, du lernst ihn auswendig, ebenso wie die angemessene Antwort auf einen Aufruf, es sei denn, du möchtest lieber als ›Das bist du, Dummkopf‹ angeredet werden.« Danilo kicherte. Ich blickte ihn an, und er verstummte. »Kadett Hastur, niemand wird dich hier Lord Regis nennen. Wie alt bist du, Kadett Hastur?«
»Fünfzehn«, sagte Regis. Innerlich fluchte ich wieder. Wenn er dieses Mal richtig geantwortet hätte – aber wie konnte er es, niemand hatte ihn gewarnt –, hätte ich ihn entlassen können. Jetzt musste ich diese Farce bis zum Ende durchspielen. Die belustigte Erwartung auf den Gesichtern um mich her machte mich wütend. Doch dahinter lagen zweihundert Jahre Tradition. »Fünfzehn was, Kadett?«
»Fünfzehn Jahre«, sagte Regis und schnappte unvorsichtig den alten Köder. Ich seufzte. Nun, die anderen Kadetten hatten ein Recht auf ihren Spaß. Generationen hatten sie so konditioniert, ihn zu fordern, und ich ließ ihnen ihren Willen. »Männer, vielleicht sagt Ihr alle dem Kadetten Hastur, wie alt er ist?«
»Fünfzehn, Sir!«, riefen alle zusammen so laut sie konnten. Der erwartete Lachsturm brach endlich los. Ich bedeutete Regis, auf seinen Platz zurückzutreten. Der mörderische Blick, den er mir zuwarf, hätte töten können. Ich nahm es ihm nicht übel. Für die nächsten Tage, bis jemand anderes etwas ungeheuer Dummes anstellte, würde er der Narr der Kaserne sein. Ich wusste es. Ich erinnerte mich an einen Tag vor einigen Jahren, als der Name des unglücklichen Kadetten Lewis Kennard, Kadett Montray gelautet hatte, und ich hatte vielleicht eine bessere Entschuldigung, denn noch nie zuvor hatte ich meinen Namen in dieser Form gehört. Auch seitdem habe ich ihn nie mehr so gehört, weil mein Vater gefordert hatte, dass ich seinen Namen tragen dürfe, Montray-Alton. Wie immer bekam er, was er wollte. Das war zu der Zeit, als man noch um meine Legitimität stritt. Doch er führte das Argument an, es sei unziemlich für einen Kadetten, in der Wache einen terranischen Namen zu tragen, wenn auch ein Bastard rechtmäßigerweise den Namen seiner Mutter trägt.
Schließlich war die Zeremonie vorüber. Ich müsste nun die Kadetten ihrem Kadettenmeister überantworten und ihn das Kommando übernehmen lassen. Nein, verdammt, ich konnte es nicht tun. Nicht, ehe ich Vater gedrängt hatte, es sich noch einmal zu überlegen. Ich hatte das Kommando der Wache nicht übernehmen wollen, doch er hatte darauf bestanden, und nun waren, ob gut oder schlecht, alle Soldaten, von dem jüngsten Kadetten bis zum ältesten Veteranen unter meiner Obhut. Ich war verpflichtet, mein Bestes für sie zu geben, und, verdammt, mein Bestes schloss nicht Dyan Ardais als Kadettenmeister ein!
Ich wandte mich Domenic di Asturien zu. Er war ein erfahrener Offizier, absolut vertrauenswürdig und genau der Richtige, um sich der Jungen anzunehmen. Er hatte sich schon vor Jahren aus dem aktiven Dienst zurückgezogen – sicher stand er schon in den Achtzigern –, doch niemand könnte sich über ihn beklagen. Seine Familie war so alt, dass die Comyn selbst für ihn Emporkömmlinge waren. Es gab einen Scherz, den man sich zuflüsterte, dass er die Hasturs einmal als »den neuen Adel« bezeichnet hatte.
»Meister, den Kommandanten hat heute Morgen ein Unfall ereilt, und er hat mich noch nicht über seine Wahl informiert, wer Kadettenmeister werden soll.« Ich zerknüllte die Stabsliste, als könne der Alte Dyans Namen darauf sehen und mich der Lüge bezichtigen. »Ich bitte Euch mit allem Respekt, die Jungen zu übernehmen, bis er seinen Wunsch bekannt gibt.«
Als ich auf meinen Platz zurückkehrte, sprang Dyan auf die Füße. »Du verdammter Junge, hat Kennard denn nicht …« Er sah die neugierigen Blicke auf uns gerichtet und senkte die Stimme. »Warum habt Ihr nicht allein mit mir darüber geredet?«
Verdammt. Er wusste es. Und ich erinnerte mich, dass er als starker Telepath galt, wenn man ihm auch aus unbekannten Gründen den Zugang zum Turm verwehrt hatte. Also wusste er, was ich wusste. Ich verbarrikadierte meine Gedanken gegen ihn. Es gibt nur wenige, die die Gedanken eines Alton lesen können, wenn er gewarnt ist. Es war ein ernster Bruch der Etikette und der Ethik der Comyn, dass Dyan dies uneingeladen getan hatte. Oder wollte er mir mitteilen, er glaube, ich verdiene die Comyn-Immunität nicht? Ich sagte kalt, wobei ich versuchte, höflich zu sein: »Wenn ich mich mit dem Kommandanten beraten habe, Kapitän Ardais, werde ich Euch seine Wünsche bekannt machen.«
»Verdammt, der Kommandant hat seinen Wunsch kundgetan, und Ihr wisst es!«, sagte Dyan, wobei er die Lippen aufeinander presste. Es war noch Zeit. Ich konnte so tun, als entdecke ich seinen Namen auf der Liste. Aber sich in den Staub werfen vor diesem schmutzigen Strichjungen von den Hellers? Ich wandte mich ab und sagte zu di Asturien: »Wenn Ihr bitte Eure Untergebenen entlassen wollt?«
»Du unverschämter Bastard! Ich werde dich dafür prügeln lassen!«
»Vielleicht bin ich ein Bastard«, sagte ich, wobei ich weiterhin leise sprach, »aber wahrscheinlich ist es kein sonderlich erhebender Anblick, wenn sich zwei Kapitäne der Wache vor den Augen der Kadetten streiten, Kapitän Ardais!«
Das schluckte er. Er war Soldat genug, um zu wissen, dass dies zutraf. Als ich die Männer entließ, dachte ich über den mächtigen Feind nach, den ich mir zugezogen hatte. Vorher hatte er mich nicht leiden können, doch er war ein Freund meines Vaters und würde alles dulden, was mit dem Freund zu tun hatte, solange es im Rahmen blieb. Jetzt war ich ein gutes Stück über das hinausgegangen, was nach seiner begrenzten Vorstellung diesen Rahmen ausmachte, und er würde es mir niemals vergeben.
Nun, ich konnte auch ohne seine Wertschätzung leben. Aber ich sollte keine Zeit verlieren, mit Vater zu reden. Dyan würde es auch nicht tun.
Ich fand Vater wach und schwach vor, in Bandagen gewickelt. Sein lahmes Bein hatte man hochgehängt. Er sah eingefallen und gerötet aus, und ich wünschte, ich müsste ihm keinen Kummer bereiten.
»Ging der Aufruf gut vonstatten?«
»Ganz gut. Danilo hat einen guten Eindruck hinterlassen«, sagte ich, weil ich wusste, was er hören wollte.
»Regis wurde im letzten Augenblick dazugenommen. War er dort?«
Ich nickte, und Vater fragte: »War auch Dyan da, um das Kommando zu übernehmen? Auch er hat eine schlaflose Nacht gehabt, doch er hatte versprochen zu erscheinen.«
Ich blickte ihn wütend an, und schließlich brach es aus mir heraus: »Vater! Das kannst du doch nicht ernst gemeint haben. Ich habe es für einen Scherz gehalten! Dyan als Kadettenmeister?«
»Ich mache keine Scherze mit der Wache«, sagte Vater mit hartem Gesicht, »und warum nicht Dyan?«
Ich zögerte und sagte dann: »Muss ich es in aller Länge ausbreiten? Hast du das letzte Jahr und den Vallonde-Jungen vergessen?«
»Hysterie«, meinte Vater mit einem Achselzucken. »Du hast es ernster als notwendig genommen. Als es sich zuspitzte, hat sich Octavien geweigert, sich einer Befragung seines Laran zu unterziehen.«
»Das beweist nur, dass er Angst vor dir hatte«, ereiferte ich mich, »sonst nichts! Ich kenne erwachsene Männer, harte Veteranen, die zusammenbrechen und jede Strafe akzeptieren, nur um dieser Prozedur zu entgehen! Wie viele reife Erwachsene können die telepathische Überprüfung eines Alton ertragen? Octavien war fünfzehn!«
»Du siehst nicht den Punkt, Lew. Tatsache ist, dass, da er die Anklage nicht erhärtete, ich offiziell nicht gezwungen bin, mich der Sache anzunehmen.«
»Ist dir zufällig aufgefallen, dass Dyan es niemals bestritten hat? Er hatte nicht den Mut, einen Alton anzulügen, oder?«
Kennard seufzte und versuchte, sich aufzurichten. Ich sagte: »Komm, ich helfe dir«, doch er winkte ab. »Setz dich, Lew. Steh nicht wie ein rächender Gott über mir. Wieso, glaubst du, sollte er sich zu einer Lüge bequemen? Habe ich irgendein Recht, ihn nach Einzelheiten aus seinem Privatleben zu befragen? Ist dein eigenes Leben so rein und makellos?«
»Vater, was auch immer ich für Vergnügungen nachlief, bevor ich erwachsen wurde, tut nichts zur Sache«, sagte ich. »Ich habe niemals die Autorität verletzt …«
Kalt sagte er: »Mir scheint, du hast sie verletzt, als du meinem schriftlichen Befehl nicht gefolgt bist.« Seine Stimme wurde hart. »Ich habe gesagt, du sollst dich setzen. Lew. Ich schulde dir keine Erklärung, doch da du dich so darüber aufregst, werde ich es klarstellen. Die Welt ist nun einmal so, wie sie ist, nicht so, wie du sie gern hättest. Dyan mag vielleicht nicht der ideale Kadettenmeister sein, doch er hat mich um diesen Posten gebeten, und ich werde ihm die Erfüllung dieser Bitte nicht verweigern.«
»Warum nicht?« Ich wurde immer aufgebrachter. »Nur weil er Lord Ardais ist, muss man ihm freie Hand bei allen Arten von Verderbtheiten, Korruption, allem, was ihm gefällt, gewähren? Mir ist es gleich, was er tut, aber benötigt er die Genehmigung, es in der Wache zu treiben?«, fragte ich. »Warum?«
»Lew, hör mir zu! Es ist leicht, über jemanden, der nicht perfekt ist, harte Worte zu verlieren. Sie haben etwas gegen dich, oder hast du das vergessen? Ich habe mir das fünfzehn Jahre lang angehört, weil ich dich brauchte. Wir brauchen Lord Ardais im Rat, denn er ist ein mächtiger Mann und starker Verbündeter von Hastur. Bist du in Arilinn so mit deiner eigenen Welt beschäftigt gewesen, dass du dich nicht mehr an die reale politische Situation erinnern kannst?« Ich zog eine Grimasse, doch er sagte, jetzt sehr geduldig: »Eine Fraktion im Rat will uns in einen Krieg mit den Terranern stürzen. Das ist so undenkbar, dass ich es nicht ernst zu nehmen brauchte, es sei denn, diese kleine Fraktion gewinnt an Boden. Eine andere Fraktion will, dass wir uns mit den Terranern verbünden, uns vollständig unterwerfen, unsere alten Lebensgewohnheiten und Traditionen aufgeben und eine Kolonie des Imperiums werden. Diese Fraktion ist größer und weitaus gefährlicher für die Comyn. Ich habe das Gefühl, Hasturs Lösung – langsame Veränderungen, Kompromisse, und vor allem Zeit – ist die einzig vernünftige Antwort. Dyan ist einer der wenigen, die gewillt sind, ihr Gewicht auf die Hastur-Seite zu legen. Warum sollten wir wiederum ihm eine Position verweigern, die er gern hätte?«
»Dann sind wir schmierig und korrupt«, wütete ich. »Nur wegen der Unterstützung deines politischen Ehrgeizes bist du bereit, einen Mann wie Dyan zu bestechen, indem du ihm kleine Jungen anvertraust?«
Rasch brach die Wut aus Vater heraus. Noch niemals zuvor hatte sie mich so voll getroffen. »Glaubst du wirklich, dass es mein persönlicher Ehrgeiz ist, den ich befriedige? Ich frage dich, was ist wichtiger – die persönliche Moral eines Kadettenmeisters oder die Zukunft von Darkover und das bloße Überleben der Comyn? Nein, verdammt, bleib sitzen und hör mir zu! Wenn wir Dyans Unterstützung im Rat so dringend brauchen – glaubst du, dann streite ich mich mit ihm über sein Privatleben?«
Ebenso wütend schleuderte ich zurück: »Es wäre mir so verdammt egal, wenn es um sein Privatleben ginge! Aber wenn es noch einen Skandal in der Wache gibt – glaubst du nicht, dass das die Comyn schwächen wird? Ich habe nicht um das Kommando der Wache gebeten. Ich habe gesagt, dass ich es lieber nicht will. Aber du hast nicht auf meine Weigerung gehört, und nun weigerst du dich, auf mein Urteil zu hören! Ich sage dir, ich werde Dyan nie als Kadettenmeister akzeptieren! Nicht, wenn ich das Kommando habe!«
»O doch, das wirst du«, sagte Vater langsam und drohend. »Glaubst du, ich lasse mich von dir unterkriegen?«
»Dann – verdammt, Vater – such dir jemand anders, der die Wache kommandiert! Biete Dyan das Kommando an – würde das nicht seinen Ehrgeiz befriedigen?«
»Aber es würde mich nicht befriedigen«, antwortete er erregt. »Ich habe Jahre dafür gearbeitet, dich in diese Position zu bekommen. Wenn du glaubst, ich lasse dich auf Grund von kindischen Skrupeln die Domäne der Altons zerstören, dann irrst du. Ich bin immer noch der Herr der Domäne, und du bist durch Eid gebunden, meinen Befehlen zu gehorchen. Der Posten des Kadettenmeisters ist hoch genug, um Dyan zu befriedigen, aber ich werde nicht die Rechte der Altons auf das Kommando aufs Spiel setzen. Ich tue das für dich, Lew.«
»Ich wollte, du hättest dir diese Mühe erspart! Ich will es nicht!«
»Du bist nicht in der Lage zu wissen, was du willst. Und nun tu, was ich dir sage: Geh zu Dyan und teile ihm seine Ernennung als Kadettenmeister mit. Oder …« – wieder versuchte er unter Missachtung der Schmerzen sich aufzurichten – »ich steige aus dem Bett und erledige es selbst.«
Seine Wut konnte ich aushalten, doch sein Schmerz war etwas anderes. Ich schwankte zwischen Zorn und Betroffenheit. »Vater, ich habe noch niemals einem Befehl von dir widersprochen. Aber ich bitte dich … ich flehe dich an, überlege es dir noch einmal. Du weißt, dass daraus kein guter Wille kommen kann.«
Er war besänftigt. »Lew, du bist noch sehr jung. Eines Tages wirst du lernen, dass wir alle Kompromisse schließen müssen, und wir schließen sie mit so viel Anstand wie möglich. Du musst in einer bestimmten Situation das Beste leisten, was du kannst. Du kannst nicht Nüsse essen, ohne die Schalen zu knacken.« Er reichte mir die Hand. »Du bist meine größte Stütze, Lew. Zwinge mich nicht, gegen dich zu kämpfen. Ich brauche dich an meiner Seite.«
Ich ergriff seine Hand mit beiden Händen. Sie fühlte sich angeschwollen und fiebrig an. Wie konnte ich ihm zusätzliche Sorgen bereiten? Er vertraute mir. Welches Recht hatte ich, mein Urteil gegen seines zu setzen? Er war mein Vater, mein Kommandant, der Lord meiner Domäne. Meine einzige Pflicht hieß gehorchen.
Doch als ich ihn verließ, flammte die Wut erneut in mir auf. Wer hätte geglaubt, Vater würde die Ehre der Wache kompromittieren? Und wie schnell hatte er mich überzeugt, mich – wie ein Puppenspieler, der an den Fäden von Liebe, Loyalität, Ehrgeiz, meinem eigenen Bedürfnis nach Anerkennung zieht!
Die Unterhaltung mit Dyan Ardais werde ich wahrscheinlich niemals vergessen. Oh, er war durchaus höflich. Er lobte sogar meine Vorsicht. Ich hielt mich von ihm abgeschirmt und war ungeheuer förmlich, doch ich war sicher, er wusste, dass ich mich fühlte wie ein Bauer, der gerade einem Fuchs sein Hühnerhaus anvertraut hat.
Es lag nur ein winziger Trost in dieser Situation: Ich war kein Kadett mehr!