Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 44

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Hornlaternen beleuchteten notdürftig das Deck, als Lunetta aus dem Laderaum im Schiffsrumpf entlassen wurde. Den ganzen Abend hatte sie Lebensmittel umgeschichtet. Säcke mit Mehl, kleine Fässer mit Pökelschwein und Käselaibe. Die Bewegung der Nahrung sollte verhindern, dass Ratten und Kakerlaken sie verdarben. Danach hatte sie mit den Schiffsjungen den Holzboden mit Essigwasser geschrubbt und Wacholder verbrannt, um das Ungeziefer zu vertreiben. Der Proviantmeister hatte ihr zur Belohnung einen Ausflug an Deck gestattet. Morgen würde sie die Bilge schrubben und bis zu den Knöcheln in stinkender Teerbrühe stehen. Lunetta war dankbar für die harte Arbeit, die Aleander ihr als Bußübung auferlegt hatte. Beim Arbeiten kam sie nicht zum Denken, und der Dominikaner, dessen Geruchssinn empfindlich war, hielt sich vom Unterdeck fern. Er hatte sein Zelt, das auf dem Achterkastell aufgeschlagen war, seit Ablegen der Negrona nicht verlassen. Ihn ekelte die Gesellschaft an Bord.

Er hatte nicht versucht, sie zu töten. Lunetta ahnte, dass er sie noch für nützlich hielt. Aleander von Nutzen zu sein konnte nichts Gutes bedeuten. Sie wusste, dass er der Richter ihrer Mutter gewesen war. Er hatte neben dem Kreuz gestanden, an dem sie festgebunden auf das Entzünden des Scheiterhaufens gewartet hatte. Man hatte sie in ihrem Brautkleid aus weißem Bombasin zur Richtstatt geführt, um sie und ihre Liebe zu Adrian von Löwenstein zu verhöhnen.

Lunetta hatte alles von einem Versteck aus beobachtet. Hatte gesehen, wie der Kopf der Mutter zur Seite gesunken war, bevor das Feuer sie erreichte, die Flammen ihre Haare in eine Fackel verwandelten, ihre Haut aufplatzen ließen. Es war ein so schrecklicher Anblick gewesen, dass sie nicht hatte schreien können. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich zu der Hinrichtung zu schleichen. Fadrique hatte es verboten. Doch dieses eine Mal hatte sie nicht gehorcht.

Seither wusste sie mehr vom Leben und vom Sterben, als ihr lieb war. Die Welt war kein gerechter Ort, das Leben keine Heimat. Seit dem Tod der Mutter hatten ihre Träume und Ahnungen an Klarheit gewonnen. So wie sich bei Tieren die Instinkte schärften, wenn sie Gefahr witterten, so waren ihre Traumgesichte zu ihrer zweiten Natur geworden.

Ihre Mutter hatte sie stets ermahnt, ihre Hellsichtigkeit gleichermaßen als Gabe und als Fluch zu betrachten. »Überlege dir genau, wem du welche Erkenntnisse preisgibst, mein Kind. Die Wahrheit zu kennen heißt Verantwortung zu übernehmen, auch dafür, wem du sie offenbarst und wem nicht.« Gott hatte ihr diese schreckliche Verantwortung genommen. Er hatte ihr das Schweigen geschenkt, als ihre Mutter starb.

Lunetta erklomm die letzte Sprosse des Niedergangs, steckte den Kopf in den Nachthimmel und betrachtete die Sterne über sich. Der Himmel war tröstlich wie der Mantel Marias, ein besticktes Tuch aus nachtblauem Samt.

»Falmouth a la vista«, schrie von oben ein Späher auf Spanisch. An zwei der drei Schiffsmasten klebten Ausguckkörbe, in denen Seeleute die englische Küstenlinie nach Leuchtfeuern absuchten.

»Der Wind dreht«, schallte es über Deck. Matrosen schossen an Lunetta vorbei. Ihre Unterhaltung war eine einzige Abfolge von Flüchen, während sie über schnarchende Passagiere sprangen, um in die Wanten zu steigen und die Besegelung der Brise anzupassen. Ablandiger Nordostwind, ein Segen für jeden Spaniensegler. Ein Wendemanöver stand bevor.

Lunetta sprang an Deck, tauchte unter Hängematten ab und lief zur Reling. Sie stolperte über einen Pilger, der auf einer Taurolle nächtigte, und wich seinem schlaftrunkenen Tritt aus. »Untersteh dich, hier dein Geschäft zu verrichten«, knurrte der Mann.

Endlich erreichte sie eine Stelle am Bug, wo sich das 30 Meter lange Schiff so verjüngte, dass niemand dort Platz zum Schlafen gefunden hatte. In ihrem Rücken erhoben sich die Bugaufbauten und Galerien, die mit Kanonen bestückt waren. Ein Soldat hielt Wache bei den Geschützen. Er schien eingenickt zu sein. Wind strich durch ihr Leinenhemd und kühlte ihre Haut. Links von ihr löste ein Matrose eine der Wanten vom Block, während das Langruder umgelegt wurde. Segel begannen zu flattern. Der Navigator stieß den Mann zur Seite, um mit dem Quadranten einen Stern anzuvisieren.

Lunetta war für die konzentriert arbeitende Besatzung unsichtbar. Ein Zustand, den sie ebenso genoss wie ihr Stummsein. Dabei zu sein und doch nicht dazuzugehören schenkte ihr ein seltenes Gefühl von Geborgenheit. Sie fühlte sich auf diese Weise jener Welt zwischen Leben und Tod nahe, aus der sie gelegentlich Fingerzeige empfing.

Für einen Moment wurde es stiller, der Wind pfiff nicht mehr in der Takelage, die Bugwelle zischte nicht mehr an der Bordwand. Als die Negrona die Wende vollzogen hatte, knallte der Wind wieder in die Segel, Wanten wurden festgezurrt, und das Schiff nahm neuen Kurs auf, pflügte mit gebauschten Segeln durchs schwarze Wasser. Einige Pilger waren von ihren Taurollen herabgerollt und schimpften. Dann beruhigte sich alles. In der Ferne sprangen die Leuchtfeuer der Karacke. Sie verschwanden, wenn das altersschwache Schiff in ein Wellental sank, dann tauchten sie wieder auf.

Lunetta sog den Wind ein. Sie drehte ihren Kopf zum Heck und sah die weißen Stoffbahnen von Aleanders Zelt leuchten. Der Zauber des Augenblicks war dahin. Es half nichts, sie musste sich dem Mann fügen, denn er hatte der Mannschaft aufgetragen, sie – das Ketzerkind – genau im Auge zu behalten.

Es gab genug grobe Gesellen an Bord, die sich einen Spaß daraus gemacht hätten, sie an den Pfahl zu bringen, um sie auszupeitschen oder sie kielholen zu lassen. Ein umgetretener Eimer konnte genügen, um den Zorn der Seeleute auf sich zu ziehen, und zornig waren sie immer, denn ihre Arbeit war hart, das Essen schlecht, die Behandlung durch die Kommandanten grob und die Gefahren zahllos.

Sie wandte ihren Kopf wieder zum Meer und sah nicht, wie sich die Zeltbahnen auf dem Achterkastell teilten und der Dominikaner hinkend an Deck trat. Stattdessen lauschte sie einem leisen Tappen, das vom Niedergang der Bugskajüten zu ihr drang. Ein Passagier schien wie sie auf der Suche nach frischer Luft zu sein. Der Moment des Friedens außerhalb menschlicher Gesellschaft war vorbei.

Widerwillig lenkte Lunetta ihre Blicke in Richtung der Geräusche. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Lunetta erkannte Sidonias Gestalt selbst in Männertracht sofort. Es war wie bei ihrer ersten Begegnung. Sidonia umgab jenes sanfte Leuchten, das Lunetta stets bei den Menschen wahrnahm, die ihr gewogen waren.

Sidonia hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den wiegenden Gang zu üben, mit dem man sich auf einem schwankenden Deck sicher bewegen kann. Sie tastete sich wie eine Betrunkene auf die Reling zu und beachtete das gestikulierende Mädchen am Bug nicht. Das Meer fesselte ihre Aufmerksamkeit. Der Geruch von Salz und Teer, das Flackern der Laternen und die undurchdringliche Schwärze, in die das Schiff hineinfuhr. Das Licht der Sterne zog sie magisch an. Was zählte die vergangene Seekrankheit gegen dieses Erlebnis von Weite und Unendlichkeit. Nie hatte sie sich dem Himmel so nah gefühlt, so klein und groß zugleich. Das Meer, die Nacht, die Sterne – alles war wie ein Wunder und ein Versprechen für einen neuen Anfang.

Was zählte dagegen das Gezänk um die rechte Religion? Sidonia war sich sicher, dass jeder fühlende Mensch, der etwas so Gewaltiges wie dieses Meer unter ausgestirntem Nachthimmel zum ersten Mal sah, keinen Zweifel an der Existenz des Herrn haben konnte. Gabriel Zimenes irrte, er irrte sich gewaltig – sie war alles andere als unberührbar!

Erst als sie sich satt gesehen und Halt gefunden hatte, schaute sie sich auf dem Schiff um. Da war Lunetta! Sie löste die Hände von der Reling und streckte sie dem Kind entgegen. Das Mädchen lief flink zu ihr hin. Beide versanken in einer Umarmung. Für Sidonia war diese Umarmung wie eine Abbitte für ihre Gedanken über die Mutter des Kindes.

Endlich sagte sie: »Was für ein Glück, dass wir uns so wiedertreffen! Oh, Lunetta. Doña Rosalia bat mich, dich zu suchen. Nie hätte ich geglaubt, dass es so einfach sein würde, dich zu finden. Zum ersten Mal enttäuschen mich deine Karten nicht. Stell dir vor, ich habe den Stern gezogen und mich darum entschlossen, an Deck zu gehen und ...«

Weiter kam sie nicht. Eine Hand riss sie herum. Hinter ihr stand Aleander. Das Skapulier seiner Kutte blähte sich im Wind wie die Schwingen eines Raubvogels. Das Licht einer Laterne hob die Konturen seines Gesichts hervor. Sidonia schrie auf und versuchte sich vor Lunetta zu stellen, um sie zu verbergen. Der Mönch lachte.

»Du siehst reizvoll aus, geliebtes Weib. Beinkleider zieren dich.«

Sidonia holte aus, um ihm einen Schlag zu versetzen, doch die Bewegungen des Schiffes ließen sie wieder schwanken. Der Mönch fing ihren Arm ab und zog sie jäh an sich.

Er näherte seinen Mund ihrem Ohr: »Spar dir deine ungestüme Art für unsere Nächte, du weißt, wie sehr du mich damit erleichterst.«

Sidonia atmete heftig, Wut und Tränen stiegen in ihr auf. Das konnte und durfte nicht wahr sein. Sie war ihrem schlimmsten Feind ins Netz gegangen! Hatte sie nicht geahnt, dass er an Bord sein würde? Hatten nicht alle Umstände dafür gesprochen? Rosalias Brief! Ihre langsame Reise mit dem Kaufmannstreck nach Antwerpen. Selbst der Faktor im Kontor des Vaters hatte sie gewarnt und davon abgeraten, die Negrona zu betreten. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Oder auf den Rat der umgekehrten Sternkarte: abwarten! Sie wollte sich aus Aleanders Umarmung freikämpfen. Doch der Mönch zog sie dichter an sich heran.

»Man entkommt mir nicht. Du nicht und dieses Kind auch nicht. Wolltest du sie wieder einmal retten? So wie auf dem Kölner Markt? Lunetta, komm her.«

Mit herunterhängenden Schultern trat das Mädchen hervor. Sidonia sah mit Entsetzen, wie gleichmütig sich Lunetta in ihr Schicksal fügte.

»Scher dich nach unten, bevor ich der Mannschaft Befehl gebe, dich an den Pfahl zu bringen«, sagte der Mönch. »Und lass dich nie mehr an Deck blicken.«

Lunetta lief zum Niedergang im Mittschiff, kletterte hinab. Aleander beobachtete es mit Befriedigung. Dann legte er seine Hand in Sidonias Nacken und drückte zu.

»Deine Flucht aus Köln hat mich verärgert! Im Fernkontor deines Vaters erfuhr ich, dass du die Fahrt nach Spanien machen wolltest. Was hast du dort vor? Mich anklagen?«

Sidonia konnte ihren Kopf nicht bewegen, Aleanders Hand war wie ein Schraubstock. Ihre Wut besiegte die Tränen. Sie spuckte dem Dominikaner ins Gesicht.

Aleander beantwortete die Beleidigung mit einer Ohrfeige. »Wage das nie wieder!«

»Du machst mir keine Angst mehr. Du hast mir bereits das Schrecklichste angetan. Ich fürchte dich nicht«, erwiderte Sidonia voll Hass.

»Ach nein? Lunetta ist meiner Zucht zugänglicher. Sie gehorcht, weil sie weiß, dass ich sie mit einem Wort oder einer Geste vernichten kann. Du unterschätzt meine Macht, und ich bin noch nicht fertig mit dir.«

Sidonia kämpfte sich mit Tritten und Püffen frei, legte beide Hände auf die Reling und schwang sich hinauf. »Ich brauche nur loszulassen«, sagte sie, »dann hast du alle Macht über mich verloren.«

Aleander bewegte sich nicht. »Wenn dir Lunettas Leben und das deines Bruders lieb sind, dann steig herab. Ihr Schicksal hängt von dir ab! Willst du sie sterben lassen?«

Sidonia klammerte sich an das Schanzkleid, ein kurzes Wellental ließ das Schiff in die Tiefe sausen und drückte ihr den Magen nach oben. Schlimmer als alle Übelkeit und die Angst über Bord zu gehen war die Erkenntnis, dass der Dominikaner sie in der Hand hatte. Mit ihrem unbedachten Ausflug an Deck hatte sie alle Möglichkeiten, Lunetta und ihrem Bruder zu helfen, verspielt. Keinen Moment zweifelte sie daran, dass er das Kind töten und Lambert verderben würde, wenn sie ihm nicht zu Willen war. Auch Aleander zweifelte nicht an seiner Macht. Seelenruhig wartete er ab, bis Sidonia sich von der Reling hinabgleiten ließ.

Der Dominikaner streckte seine Hand vor. »Brav, und nun folge mir.«

Sidonia versteckte ihre Hände im Rücken. Es war eine alberne Geste, die Geste eines verstockten Kindes. Aleander hob eine Braue, krümmte die Finger seiner ausgestreckten Hand. Sidonia verstand die Geste. Widerwillig legte sie ihre Hand in die seine.

»He, was treibt ihr beiden da«, rollte eine Stimme zu ihnen herab. Der Kanonenwächter war erwacht. Hoffnungsvoll riss Sidonia ihren Kopf hoch, kniff die Augen zusammen und wollte etwas sagen. Doch das Gesicht, das sie über sich entdeckte, ließ sie den Blick senken. Es war das Gesicht des Kölner Stadtsoldaten Goswin. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten, sondern nur noch mehr Schwierigkeiten.

»Kenne ich dich nicht?«, fragte Goswin und hielt eine Laterne über die Galerie. Doch ihr Licht strahlte zu Sidonias Erleichterung nicht sie, sondern den Dominikaner an. Der nickte. »Wir trafen uns in Köln.«

»Und was machst du hier an Bord?«

»Na was schon! Ich bin auf der Rückreise nach Spanien«, erwiderte Aleander ruhig. »Meine Pflichten als Inquisitor rufen, nachdem in Köln die Verhaftung der üblen Ketzer Lambert van Berck und Peter Fliestedten vollzogen wurde. Der junge van Berck hat zudem den Reliquienhändler auf dem Gewissen. Ich habe Köln einen großen Dienst erwiesen.«

Sidonia wollte ihre Hand aus der seinen zerren, eine Welle der Übelkeit überfiel sie bei Aleanders letztem Satz! Der Mann, der ihren Bruder zu vernichten wünschte, schloss seine Hand nur umso fester um die ihre. Das fiel auch Goswin auf.

»Und auf dem Weg in die Heimat vergnügst du dich in Gesellschaft eines Pagen, dessen Hand in deiner liegt?« Goswins Verachtung war unüberhörbar. Aleander ignorierte sie.

»Deine Aufmerksamkeit ehrt dich, aber du solltest sie auf die Kanonen lenken. Der Schiffsführer hat deine Pflichten sicher genau umrissen, nicht wahr? Ich kenne ihn und schätze sein Urteilsvermögen sehr, so wie er das meine schätzt.«

Knurrend wandte Goswin sich ab. Verfluchter Mönch. Überhaupt diese verfluchte Reise als Pilgerwächter. Die Gruppe um Sebald Rieter genoss – auf Empfehlung des Rates – seinen Begleitschutz. Eine Belohnung sollte das sein. Für den Fund der Leiche im Rhein. Dafür, dass er Aussagen über eine Magd aus dem Haus van Berck hatte machen können, die in der Mordnacht im Hafen gewesen war. Das hatte Kölns hohen Herren gefallen, die es schon lange darauf angelegt hatten, dem Waffenhändler die Flügel zu stutzen. Dazu hatte er beitragen können. Aber die Belohnung! Pah, ihm lag nichts am Reisen. Zwar war ihm nicht mehr übel, wie zu Beginn, aber dem Meer traute er so wenig wie die Matrosen. Sie hatten ihm versichert, es sei besser, nicht schwimmen zu können, um im Fall einer Havarie nicht stundenlang gegen die Wellen anzukämpfen, die einen am Ende doch verschlangen. Und wer wusste schon, ob am Grund des Meeres nicht all die Schlangen und Ungeheuer warteten, die auf Seekarten abgebildet waren! Gegen die half weder Mannesmut noch Schwertkunst.

Aleander zog Sidonia über Deck. Geschickt schlängelte er sich durch die am Boden liegenden Schlafenden. Einige trat er zur Seite. Sidonia stieß gegen eine der Hängematten, die zwischen den Masten aufgespannt waren.

Aus einer blickte ein aufgestörter Schläfer dem Paar nach, bis es das Achterkastell erreichte. Er sah, wie der Mönch seine Hand lüstern auf den Po des Pagen legte, als er ihn in ein Zelt schob. Gabriel Zimenes’ Miene versteinerte. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Er hatte gelernt, den Menschen zu misstrauen. Doch im Falle Sidonias war er nicht misstrauisch genug gewesen. Für ein Kind hatte er sie gehalten. Halten wollen! Ein ungestümes Kind, dessen Lebendigkeit ihn gefesselt und dessen Leichtsinn ihn erheitert hatte. Die Schlange hatte er erahnt, aber übersehen. Falsch, gestand er sich nüchtern. Die Schlange in ihr hatte ihn fasziniert und dazu verleitet, eine Bindung mit ihr einzugehen, von der er wusste, dass sie ihm kaum Nutzen einbringen würde. Wie sehr sie ihm schaden konnte, erkannte er jetzt: Sidonias Vertrauter war Aleander, und ausgerechnet ihr hatte er vom Schatz Adrians von Löwenstein erzählt, um mit seiner Verachtung für das Geld zu prahlen, seine moralische Überlegenheit zu beweisen! Sein Hochmut hatte ihm einen bösen Streich gespielt. Gabriel ließ sich aus der Hängematte rollen, sprang in Haken über Deck und schoss den Niedergang zu seiner Kabuse hinab.

Eine Untersuchung seines Lederbeutels bestätigte seine Vermutungen: Sidonia hatte nach Hinweisen auf den Verbleib des Vermögens gesucht. Entdeckt hatte sie ein paar Maravedis und das indianische Amulett. So gierig war dieses Mädchen, dass sie sich sofort bedient hatte. So gewissenlos, dass sie gemeinsame Sache mit einem Mönch machte, der ein Mörder war, und so lüstern, dass sie sich ihm als Geliebte hingab. Hatte sie nicht ständig Anspielungen auf die Lust zwischen Mann und Weib gemacht? Hatte er nicht gespürt, dass sie keine unschuldige Jungfrau sein konnte? Hatte sie nicht gar versucht, ihn zu verführen, um ihn in ihre Hand zu bekommen? Und war er nicht sogar auf dieses Spiel eingegangen? Zorn würgte ihn. Die Welt ekelte ihn seit langem. Wieso hatte er seinen Seelenfrieden aufgegeben für so ein Geschöpf! Weil sie so leichtsinnig und vibrierend lebendig ist, wie du einst warst! Damals als Junge im Tal deiner Heimat, das dir so eng erschien und zu fern von den Abenteuern der Welt.

Ärgerlich schob Zimenes den Gedanken beiseite. Es war nicht an der Zeit, die eigene Seele zu erforschen. Sie bedeutete ihm ohnehin nicht viel, darin lag sein Frieden. Es blieb zu hoffen, dass Sidonia nicht wusste, wo Lunetta sich aufhielt. Einer goldhungrigen Schlange wie ihr war der Mord an einem Kind zuzutrauen. Und dem Mönch Aleander ohnehin! Entsetzen durchfuhr ihn. Was, wenn die beiden das Mädchen längst getötet hatten?

Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band

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