Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 43

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Eine Stunde später, die Glocke hatte zweimal geschlagen, beruhigte sich die Fahrt. Zimenes hatte Recht gehabt, unter Land lief die Negrona ruhiger. Sidonia wurde munter und betrachtete ihre Kabuse. In einem Bord mit Geländer hatte Zimenes irdene Töpfchen aufgereiht. Sidonia schnupperte daran. Medikamente. Sie entzifferte einige der Beschriftungen: Opium stand da und Schwefelblüte und lateinische Namen, die für sie keinen Sinn ergaben. Was war Datura? Große getrocknete Samen und Blüten, die wie Trompetentrichter aussahen! Auf zwei oder drei Töpfchen war ein Totenkopf gemalt – es musste sich um Gift handeln. War Gabriel ein Alchimist? In ein Tuch waren chirurgische Messer eingeschlagen, an einem Haken hing sein Ledersack. Sidonia holte ihn aufs Bett und öffnete ihn.

Bücher purzelten heraus. Die meisten waren in Latein verfasst und behandelten medizinische Themen. Zimenes hatte auf den Deckblättern seinen Namen vermerkt und den Ort, an dem er sie erworben und studiert hatte: Die Universität zu Paris. Eine Spruchsammlung des Humanisten Erasmus von Rotterdam fiel ihr in die Hände, gewidmet war sie meinem geliebten Schüler Gabriel von Padre Fadrique, der in schöner Schrift den Psalm 121 zitierte: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von dort wird mir Hilfe kommen.

Sidonia biss sich auf die Lippen. Was nur war zwischen Zimenes und dem Padre vorgefallen, dass Zimenes ihn so hasste? Sie betrachtete einige Blätter, die mit Schriftzeichen beschrieben waren, die sie nicht kannte. Ketzerlektüre oder Ketzerschriften von Zimenes’ Hand?

Schließlich entdeckte sie ein in roten Saffian gebundenes Büchlein. Die Ränder waren mit Goldprägung versehen. Sidonia schlug es auf und hielt den Atem an. Das Deckblatt war mit Tinte beschrieben. El misterio del tarot – das Geheimnis des Tarot – lautete der Titel, und darunter stand der Name der Autorin: Mariflores Zimenes. Die Frau, die sie eine Hure genannt hatte, verfasste Bücher? Hatte Zimenes nicht gesagt, dass denkende Weiber dem Ritter von Löwenstein missfielen? Sidonia kniff die Augen schmal zusammen und begann zu übersetzen.

Der Tarot ist ein Spiegel deiner Seele, hieß es im ersten Satz. Verstehe, dass du eine zweite Welt im Kleinen bist und dass in dir die Sonne, der Mond und die Sterne sind. Genau wie der Teufel und der Erlöser, das Dunkel und das Licht, der Himmel und die Hölle. Das Tarot kann dir helfen, das Licht im Dunkel zu erkennen, genau wie die Schattenseiten der Sonne und den Samen des Guten im Bösen, denn alles ist in allem und eins, ein Universum, wie Padre Fadrique lehrt.

Sidonia ließ das Buch sinken, nicht um über das Gelesene nachzudenken, sondern über den Padre! Auch Zimenes’ Schwester kannte diesen Priester also. Ein Gelehrter, der den Schlüssel zu vielen Geheimnissen in der Hand halten musste. Seine kosmischen Betrachtungen langweilten sie allerdings eher. Im Schein der schaukelnden Laterne las sie weiter.

Wann immer dein Lebensweg unklar scheint, du dich mit Zweifeln plagst oder eine Entscheidung treffen musst, leg dir die Karten. Du kannst darin erkennen, welche inneren Dämonen deine Lage erschweren und welche Engel deine Seele beschirmen. Wer in der Welt nur das Licht sehen will, den werden ihre Schatten schmerzhaft einholen, wer nur das Dunkle sieht, verkennt das Glück, das greifbar ist.

Sidonia schüttelte den Kopf! So ein Unsinn. Ihr hatten die Karten vor allem Unglück gebracht, und wer könnte einen Dämon wie Aleander als Glücksfall betrachten?

Du wirst nicht dein Schicksal in den Karten finden, aber deine Möglichkeiten und deine Grenzen entdecken. Nutzt du Erstere richtig und kennst du Letztere, so kannst du deine Zukunft gestalten und die Fesseln deiner Vergangenheit abstreifen. Du hast ein Schicksal und zugleich die Freiheit, es zu gestalten.

Ungeduldig blätterte Sidonia weiter und entdeckte Zeichnungen. Es waren die Kartenbilder, die sie nach wie vor magisch anzogen. Sie sah den Tod, die Liebenden, den Teufel. Mehr noch: Mariflores hatte alle Karten mit knappen Deutungen versehen. Endlich versprach dieses Buch interessant zu werden!

Rasch zog sie Lunettas Spiel aus ihrem Wams und zog eine Karte. Sie stand auf dem Kopf. Sidonia drehte sie um und legte sie vor sich hin. La estrella.

Die Stern-Karte zeigte eine nackte Frau, die an einem See kniete und zwei Krüge mit Wasser entleerte, den einen in den See, den anderen auf die Erde. Es war ein Bild von Fülle und Überfluss, trostreich wie die Idee vom Jungbrunnen, der Alte in Junge verwandelte. Über der nackten Frau auf der Karte leuchtete ein großer Stern, der von einem Kranz kleinerer Sterne überwölbt war. Sterne! Das musste Hoffnung bedeuten. Sie überflog Mariflores’ Stichworte zu der Karte. Esperanza – ja, das hieß Hoffnung. Weiß Gott, um das zu begreifen, musste man kein Buch schreiben! Das wusste jedes Kind, das die Geschichte von Bethlehem gehört hatte.

Sie entzifferte weitere Stichworte: Nach der Karte vom zersprengten Turm folgt der Stern, und das heißt höhere Einsichten, neue Ziele, Reisen. Auch das war klar, jedes Schiff navigierte mithilfe der Himmelslichter. Weiter unten entdeckte sie die Worte: Schattenseiten des Sterns oder umgekehrt gezogene Karte. Pech, stand daneben, Illusionen, Verkennung der Wirklichkeit, gefährliche Ideen, Ungeduld, Tränen. Guter Rat: Es ist besser, abzuwarten, als voranzuschreiten. Alles kommt zu dem, der warten kann. Enttäuscht ließ Sidonia das Buch sinken. Wenn der Stern Hoffnung und zugleich das Gegenteil bedeuten konnte, worin lag dann der Nutzen dieser Karten, außer, das sie hübsch anzusehen waren? Sie wollte das Buch zuklappen, als ein Briefchen herausfiel. Sie entfaltete es und las.

Santiago de Compostela, April 1526

Meine liebste Lunetta,

ich bete zu Gott, dass dieser Brief dich erreichen wird. Auch wenn ich keinen Weg kenne, ihn an dich zu senden, so glaube ich doch, dass er dich eines Tages erreichen wird! Mein Tod ist nun beschlossene Sache, das Blutgerüst der Inquisition ist gebaut. Bitte verzweifle nicht, denn ich gehe mit erhobenem Haupt meinem Schöpfer entgegen, der mich reich gesegnet hat. Ich durfte lieben. Dich und deinen Vater. Niemand wird mir diese Augenblicke nehmen, sie sind ein Teil der Ewigkeit. Ich bereue weder meine Heirat noch meinen Untergang, nur dass ich dich bei Padre Fadrique zurücklassen musste. Doch nun weiß ich, dass dir damit das Leben gerettet ist. Kehre niemals nach Santiago zurück!

Vertraue auf die Heimkehr deines Vaters! Ich weiß, er wird leben, und er wird dich finden, wo immer du bist.

Ich habe dir nicht viel zu hinterlassen außer diesem Buch und der Hoffnung, dass du dich geliebt weißt auf immer

von deiner Mutter Mariflores Zimenes, Gräfin von Löwenstein

Sidonia schnappte nach Luft. Ihre Gedanken jagten sich in tollen Kreisen. Mariflores war tot? Gestorben im April 1526 durch einen Henker? Verurteilt durch die Inquisition? Waren die frevlerischen Karten daran schuld? Sie schob die Bilder zusammen. Eine neue Gedankenkette reihte sich vor ihr auf. Wenn Mariflores nicht mehr lebte, dann war Adrian von Löwenstein auch nicht mehr verheiratet! Sie rieb sich die Stirn, unsicher darüber, was das für sie bedeutete. Nun: Er war frei! Er konnte sie heiraten! Oder besser: Ihre Heiratsurkunde mochte eine Fälschung sein, aber sie war kein Zeugnis für Bigamie. Wenn sie Adrian fand, konnte sie ihr Schicksal wenden, und sei es, indem sie ihn mit dem Ehedokument unter Druck setzte.

Zimenes, schoss es ihr durch den Kopf, hatte gewusst, dass seine Schwester tot war. Weshalb hatte er trotzdem behauptet, der Ritter könne sie nie zur Frau nehmen, da er verheiratet sei? Warum interessierte diesen Kerl ihre mögliche Ehe? Hing er so sehr an seiner Schwester, dass er den Gedanken einer erneuten Heirat des Ritters nicht ertrug? Nein, dachte sie. Nein, an Mariflores hing er nicht, aber an dem Vermögen, das Adrian von Löwenstein in der Neuen Welt gemacht und das Zimenes gestohlen hatte! Geld, das sie als Ehefrau und sogar als Witwe des Grafen für sich beanspruchen könnte. Ihr Herz setzte mitten in seinem jagenden Takt aus. Was für ein Heuchler dieser Mann war. Redete von unverbrüchlicher Liebe, behauptete, dass Geld nicht wichtig sei, und dachte in Wahrheit nur an das Vermögen, um das ihn eine zweite Heirat des Ritters bringen könnte. Aus diesem Grund behauptete er auch, Löwenstein sei wahrscheinlich tot. Wie Recht sie gehabt hatte, Zimenes zu misstrauen!

Es gab nur Gier in dieser Welt. Nichts als schäbigste Gier – genau wie ihr Vater immer gepredigt hatte: »Geld, mein Kind. Geld, darum dreht sich alles. Ohne Geld bist du ein Nichts auf dieser Welt, und alle deine Träume sind Staub!«

Allerdings ... der Brief von Mariflores las sich anders. Darin war von Gefühl die Rede. Von der Liebe zu einem Mann und einem Kind. Lunetta. Sidonia schluckte. Auch sie hatte in den letzten Minuten über nichts als Geld nachgedacht und dabei das Elend des Mädchens vergessen, dessen Wohl Doña Rosalia ihr ans Herz gelegt hatte. Ihrer Liebe zu Lunetta wegen hatte Rosalia ihre Sicherheit riskiert, Sidonia zur Flucht verholfen und ihr letztes Geld hergegeben. Oh ja, es gab Beispiele von Liebe auf dieser Welt, die nichts mit Gier zu tun hatten.

Scham überflutete Sidonia. Reue, weil sie aus Eifersucht so abfällig von der Mutter des Kindes gedacht hatte. Eines Kindes mit todtraurigen Augen.

»Ich werde mich um dich kümmern, Lunetta«, flüsterte sie. »Du wirst geliebt, deine Mutter hat sich nicht geirrt. Und auch Lambert werde ich retten. Ich schwöre es.«

Noch einmal – wie zur Läuterung und Buße – wollte sie die Zeilen von Mariflores überfliegen. Doch dabei begann ihr Magen zu rebellieren, so wie Zimenes es prophezeit hatte. Verfluchter Zimenes. Schnell steckte sie Brief und Buch in ihr Wams. Sie packte die restlichen Bücher zurück in den Lederbeutel und entdeckte dabei eine Börse mit Geld. Schwere, goldene Maravedis und ein geometrisch geformtes Amulett mit einer Götzenfratze, deren Augen Rubine waren. Gabriel hatte sich also schon am Vermögen seines Dienstherrn bedient.

Schnell füllte sie eine Hand voll Münzen in ihre eigene Börse, griff sich auch das Amulett, das aus massivem Gold geschmiedet war. Sie brauchte Geld. Sie, ihre Familie und Lunetta brauchten Geld! Die Maravedis stammten von Adrian, beruhigte sie ihr Gewissen. Das heidnische Amulett bewies es. Es musste aus der Neuen Welt stammen. Sie hatte ein Anrecht darauf. Und Lunetta erst recht. Mehr Anrecht als der Heuchler Gabriel. Dieser Lügner, der sie in diese Kabuse gesteckt hatte, der ... Warum hatte er das getan? Wollte er verhindern, dass sie Adrian von Löwenstein fand? In jedem Fall war sie seine Gefangene. Und er war ganz sicher nicht ihr Retter!

Sidonia überlegte kurz, dann stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich ein anderes Quartier suchen. Auf diesem Schiff musste es ein Versteck geben, und wenn sie in die tiefsten Tiefen seines Rumpfes hinabsteigen würde. Besser allein sein als in der Höhle des Löwen. Warum Löwe? So nannte sich ein anderer Mann, der weit grausamer zu ihr gewesen war als Gabriel Zimenes und weit weniger faszinierend. Zumindest seit sie sein wahres Gesicht kannte. Was, wenn er an Bord war? Sie wischte den Gedanken beiseite. Sie würde sich auch vor ihm verstecken.

Keinen Mann würde sie jemals wieder so nah an sich heranlassen, dass er sie täuschen oder verführen könnte. Ein Gedanke, der ihr seltsamerweise Tränen in die Augen trieb.

Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band

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