Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 37
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ОглавлениеEin Glockenspiel läutete den Nachmittag ein. Silbernes Hämmern rollte wie eine tönende Perlenkette herab und verklang. Die Dohlen im Turm der Liebfrauenkirche nahmen ihr Geschwätz wieder auf. Ganz Antwerpen schien ein Loblied auf das Dasein – aus Seide und aus Holz, aus Metall und aus Stein, aus Tönen und aus Zucker. In ungezählten Buden und Laubengängen lagen die Schätze der Scheldestadt zur Schau.
Dank neuer Seehandelswege schickte Antwerpen sich an, Venedig den Rang als reichste Handelsmetropole des Abendlandes abzulaufen. Händler, Pilger und Bummler aus aller Welt wünschten, sie hätten hundert Augen für die hundert Seligkeiten. Ihre verliebten Blicke hingen an Lüstern aus Muranoglas, Polsterkissen aus dem Orient, silberdurchwirkten Ledertapeten aus Cordoba und Edelsteinen aus der Neuen Welt. Doch das herrlichste Schmuckstück in diesem Schmuckkasten war die Stadt selbst. Wie ein aufgestellter Spitzenkragen säumten Zunfthäuser den Grote Markt. Auf Stufengiebeln spiegelten goldene Drachen und Engel das Sonnenlicht.
Obwohl auch Köln zu den ersten Handelsplätzen Europas zählte, staunte Sidonia über die Pracht, die sie in den spanischen Niederlanden empfing. Die meisten ihrer Mädchenträume hatten sich als gefährliche Trugbilder erwiesen, aber ihr Traum von einer helleren Welt jenseits von Kölns klammen Gassen schien nicht verkehrt gewesen zu sein. Trotz ihrer drückenden Erinnerungen regte sich ein Gefühl von Leichtigkeit in ihr, als sie den Markt erreichte. Antwerpen war das Tor zur Welt.
Mit bedächtigen Schritten und besonnen in der Rede überquerten Kaufleute den Platz. Hunderte Sprachen durchschwirrten die Luft. Sidonia führte ihren Rappen und wich zwei Niederländerinnen aus, die die unzüchtigste Mode trugen: Ihre Brüste waren mit durchsichtigen Tüchern bedeckt, die vorgaben zu verbergen, was sie zur Schau stellten. Sie zwinkerten Sidonia zu und erinnerten sie daran, dass sie als Jüngling unterwegs war.
Sidonia errötete, nicht weil die Avancen der Damen sie erschreckten, sondern weil sie sich schämte. Nach fünfzehn Tagen Reise musste sie erbärmlich aussehen und riechen. Bis Wesel hatte sie zu Pferd vier Tage gebraucht, es dann aber nicht gewagt, ein Rheinschiff bis Dordrecht zu besteigen. Zu groß war die Gefahr, auf einer der Aaken oder Marktsegler einem Bekannten zu begegnen. Die Lauredanne, an deren Mast neben der Zunftflagge der Kölner Brauer eine Pilgerfahne geflattert hatte, war Warnung genug gewesen: Kölner konnte man auf allen Schiffen treffen, die Richtung Niederlande fuhren.
Sie hatte sich einem Kaufmannszug angeschlossen, dessen Fracht zu umfangreich für die Flussfahrt war. Der Preis für die Reise in Gesellschaft waren ein langsames Fortkommen und Nächte unter freiem Himmel gewesen. Während die Kaufleute sich Mann an Mann und auch Weib an Mann auf dem Boden oder in Gemeinschaftsbetten der Gasthäuser zur Ruhe legten, hatte Sidonia sich zur Karrenwache gemeldet. Das Beieinander in einem Bett, wobei die meisten nackt schliefen, hätte zur Entdeckung ihrer wahren Natur geführt.
Was es bedeutete, unter falschem Vorwand zu reisen, hatten ihr die Galgen vor Antwerpens Toren gezeigt. Man fackelte nicht lange mit Herumtreibern, die unerlaubt oder mit windigen Geleitbriefen zum Seehafen wollten. Schon wer eine ungenehmigte Wallfahrt antrat, konnte zum Tode oder zu Galeerendienst verurteilt werden. Eine als Mann verkleidete Frau hätte man lebendig begraben. Des Anstands wegen. Kein flämischer Christ sollte einer gehenkten Frau unter den Rock schauen, so hatte es die spanische Regentin und Tante Kaiser Karls V. verfügt.
Ob die freizügigen Damen von eben das wussten? Sicher hatten sie genug Geld, um sich Schamlosigkeit erlauben zu können, so wie sie selbst, als sie noch Claas van Bercks Kätzchen war. Vorbei!
Sidonia trauerte ihrem Dasein als Schmuckstück des väterlichen Hauses nicht nach. Sie war entschlossen, den Ritter zu finden, und – allen Ängsten zum Trotz – begeistert von den Freiheiten ihrer Reise.
Es war, als entdecke sie mit der Welt einen unbekannten Teil ihrer selbst. Mit jeder Meile, die sie zwischen sich und Köln legte, näherte sie sich dem unerforschten Kontinent ihrer Seele. Die Herausforderungen und Erlebnisse verdrängten das beklemmende Gefühl, eine Gefangene des Schicksals zu sein. Was zählten dagegen der Luxus ihres Vaterhauses, die Kleider, die Privilegien. Ein Bad allerdings oder eine Schüssel warmen Wassers ...
»Junger Herr? Senor? Leeve Heer? Sir? Monsieur?«
Aufdringlich riss ein Wirtshausdiener Sidonia aus ihren Gedanken. »Wie?«
»Ah, Ihr seid Deutscher. Ich hatte es mir gedacht! Sucht Ihr eine Unterkunft, junger Mann?«
Sidonia musterte den Knecht. Er schien so sauber und ehrlich, wie man es von einem Gasthofwerber erwarten konnte, also nickte sie.
»Dann empfehle ich den Deutschen Adler gleich am Jordanskai! Der Wirt kommt aus Koblenz, die Betten sind anständig und das Essen reichlich. Auch für das Pferd wird gesorgt.«
Sidonia klopfte ihrem Rappen den Hals. »Ich reite einem Kaufmannszug von zehn Wagen voraus, um Quartier zu suchen. Habt ihr Platz für alle? Und auch eine Einzelkammer? Ich brauche Ruhe nach einem anstrengenden Ritt.«
Die Liebenswürdigkeit des Hausdieners steigerte sich ins Unermessliche. »Gewiss, gewiss. Ihr seht müde aus. Darf ich Euer Pferd führen? Möchtet Ihr ein Bier kosten? Vielleicht mit Kirscharoma? Oder einen grünen Hering? Ich kenne die besten Händler.«
Sidonia lehnte ab, konnte aber nicht verhindern, dass der Hausknecht auf dem Weg durch die Gassen der Käsehändler, Perückenmacher und Fleischhauer unablässig schwatzte. Überall wies er auf Köstlichkeiten und Kaufgelegenheiten hin, weil er an jedem Geschäft ein paar flandrische Groschen verdiente. Sidonia argwöhnte, dass er einen Umweg nahm.
Endlich gelangten sie zum Jordanskai. Auf dem großen Kanal lag Schiff an Schiff; ein Mastenwald, der immer wieder auseinanderschwamm und immer wieder nachwuchs. Begleitet von Möwengeschrei gelangten sie durch einen Torbogen in den Gasthof. Der Knecht gab dem Wirt Bescheid und führte das Pferd zum Stall.
Sidonia betrat die Schankstube. Seeleute, Pilger und wartende Schiffspassagiere hockten im Dämmerlicht über Bierhumpen. Der Wirt stand mit schmieriger Schürze hinter einem Holzbrett, das die Theke bildete.
»Willkommen, willkommen. Sehr vernünftig, dass man einen Quartiermacher vorgeschickt hat! Heute erwarten wir viele Gäste, denn in den nächsten Tagen werden zwei Großschiffe nach Spanien, vier nach England und eines nach Schottland in See stechen. So viel Verkehr hatten wir seit Monaten nicht. Der Wind stand schlecht, vor allem für die Route nach Spanien. Die Schiffe werden voll werden. Besser, man sichert sich direkt einen Platz. Habt Ihr vor, zu reisen? Soll ich Euch eine Passage buchen?«
Sidonia überging die Fragen und handelte Preise für die Unterkunft von zwölf Kaufleuten, ihren Faktoren und Fuhrknechten aus. Sie stellte fest, dass ihr das Feilschen große Freude machte. Das Vorbild ihres Vaters war ihr nützlich. Schließlich stellte sie noch die Frage nach einer Einzelkammer und traf nun auf einen unnachgiebigen Wirt.
»Eine Kammer ganz für Euch allein? Was habt Ihr vor?« Sidonia übersah sein Zwinkern.
»Nichts, außer ein Bad zu nehmen, falls Ihr einen Zuber habt.«
»Einen Zuber? Wer soll den ins Zimmer tragen und füllen? Ich betreibe hier kein Badehaus!«
»Euer Knecht ist kräftig.«
Der Wirt lehnte sich vertraulich über sein Holzbrett und setzte flüsternd hinzu: »Und meine Magd drall und hübsch! Ein Liebling der Seeleute, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
»Keine Magd!«
Der Wirt runzelte die Brauen. »Nun, das ist unüblich. Unterm Dach habe ich zwar verschwiegene Zimmer, doch gewöhnlich teilen sich zwei Gäste dort das Stroh.«
»Und wie viel zahlen Euch zwei Gäste?«
Der Wirt schob seine wulstigen Lippen vor wie ein Barsch. »Ein Silberstück muss ich mit dem Bad schon verlangen.«
»Ein halbes!«
»Und ein Viertel dazu, aber nennt niemandem diesen Preis, sonst ruiniere ich mich!«
Sidonia war des Handelns müde und nickte. Der Wirt streckte seine Pranke vor. »Ihr müsst für solchen Luxus im Voraus zahlen!« Sidonia griff in den Lederbeutel unter ihrem Wams und zählte die Münzen auf das Holzbrett. Als sie sah, wie gierig die Blicke des Wirtes auf ihrer Börse ruhten, ließ sie sie schnell verschwinden.
Während der Knecht ihr ein Bad bereitete, aß Sidonia in der Schankstube einen Teller Grütze mit salzigem Speck und Räucherfisch. Die Gespräche der anderen Gäste drehten sich um die Schiffe. Vor allem die endlich wieder fahrbare Spanienroute wurde diskutiert. Die Preise für die letzten Plätze an Bord waren enorm. Sidonia nahm sich vor, gleich morgen im Antwerpener Kontor des Vaters um weiteres Geld zu bitten. Sie musste das Land verlassen, bevor Aleander sie aufspüren konnte. Vielleicht hatte sie Glück und würde ihm entwischen, während er in Antwerpen wochenlang auf ein weiteres Schiff warten müsste.
Der Knecht ging auf den Markt, um den Kaufmannszug abzufangen, den Sidonia ihm beschrieben hatte. Er brachte ihre Reisegefährten glücklich mit. Sie luden Sidonia auf Bier und Käse ein und lobten ihr Verhandlungsgeschick bei den Preisen.
Es wurde sieben Uhr, bis Sidonia ihre Kammer beziehen konnte. Der Wirt hatte seinen Dachboden rings um den Rauchfang mit Holzwänden in eine zugige Zimmerflucht unterteilt. Tauben gurrten unter dem Dach.
Sidonia ließ Degen und Satteltaschen fallen und untersuchte das zum Bett aufgeschüttete Stroh auf Wanzen. Sie stellte erleichtert fest, dass alles sauber war. In einem Holzzuber, der nicht mehr als ein Hockbad erlaubte, dampfte Wasser.
Rasch entkleidete sich Sidonia, löste die Bandagen, mit denen sie ihre Brüste flach hielt, und stieg in den Zuber. Selten hatte sie mit so viel Wonne ihren Körper gereinigt, ihre Muskeln entspannten sich in der Wärme. Ein Luxus, den sie nicht gegen alle Schätze Antwerpens eingetauscht hätte. Müde ließ sie sich nach dem Bad auf das Strohlager fallen und deckte sich zu. Knarrender Nordwind wiegte sie in den Schlaf.
Das Gepolter und Seufzen anderer Gäste, die die Bretterverschläge bezogen, ihr Wasser über dem Nachtgeschirr abschlugen und sich grunzend aufs Stroh rollten, vernahm sie nicht mehr. Sidonia schlief tief. In ihren Träumen flog sie in scharfem Ritt die Pappelalleen Flanderns entlang, sah den weiten Himmel, atmete die Salzluft und genoss den Wind, der ihr über den Nacken strich, kühl über ihren Rücken kroch und jäh zwischen ihre Schenkel fuhr.
Mit einem unterdrückten Schrei schreckte Sidonia aus dem Traum hoch und spürte eine Hand an ihrer Scham.