Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 33

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»Mein Kind, ich werde dich jetzt verlassen, bei Einbruch der Dämmerung sind Juden in Köln unerwünscht. Ich muss die Fähre zum anderen Rheinufer erreichen.«

Meister Siebenschön beugte sich zu Lunetta hinab und legte ihr seine rechte Hand auf die Schulter. Sie standen im Schatten des Domes nahe dem Apostelportal. Über ihnen ragte der Südturm in den Himmel. Wie eine Hutfeder saß ein Holzkran auf dem unvollendeten Dach, während sein nördlicher Turmzwilling nur ein Fragment war. In der Dombauhütte hinter der Kathedrale verhallten letzte Hammerschläge. Das Abendläuten würde das Tagwerk der Schmiede beenden.

»Nimm diesen Pilgerbrief und die Muschel, sie sind deine wichtigsten Ausweise. Mit ihnen bist du von Wegzöllen befreit. Solltest du allein gehen, dann frage nach den Pilgerhospitälern, von denen ich dir eine Liste gab«, sagte der jüdische Arzt zu dem Kind. »Zur Not schlafe unter freiem Himmel! Und öffne den Saum deines Kleides nur, wenn keiner hinschaut. Niemand darf wissen, dass du dein Geld dort eingenäht trägst.«

Er prüfte die Lederriemen des Beutels, den Lunetta über der Brust trug, und schnürte die Kürbisflasche fester. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun, aber Köln ist kein sicherer Ort für dich. Vertraue darauf, dass dein Weg immer auf Gott zugeht, gleichgültig, welcher Gott es ist. Der Herr spricht alle Sprachen, sagt Padre Fadrique.«

Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Mädchens.

»Lunetta, ich kannte ihn in Spanien. Wir studierten gemeinsam in Toledo. Damals gab es noch keine Schranken zwischen Spaniens Christen, Juden und Mauren. Wir waren frei und hofften die Welt Gott näher zu bringen. Fadrique ist ein guter Mann, auch wenn er deine Mutter nicht retten konnte, so half er doch unzähligen anderen wie mir. Versprich, dass du wieder zu ihm gehst.«

Lunetta nickte vorsichtig.

Vornehme Kirchgänger – die Damen behängt mit Perlenschnüren, die Herren in marderbesetzten Schauben – bahnten sich den Weg durch das Bettlervolk vor der Kathedrale. Brezel- und Süßwarenhändler schrien mit langgezogenen Tönen ihre letzten Waren aus. Beginen teilten aus Kannen das Freibier des Domklosters für die Bettlerwaisen aus. Meister Siebenschön betrachtete suchend die Schar der Kinder, die sich um die Frauen drängte.

»Ah, dort ist ein Freund von mir! Folbert, komm her.«

Ein Junge von dreizehn Jahren löste sich humpelnd aus der Kindergruppe. Unter seiner linken Achselhöhle klemmte eine mit Lumpen umwickelte Krücke. Sein rechtes Bein war kurz unterhalb des Knies abgetrennt.

Als er Meister Siebenschön erreichte, zog er eine Kappe vom Kopf.

»Hast du noch Schmerzen in deinem Knie?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Streichst du auch jeden Abend meine Salbe auf?«

Folbert schaute halb zaghaft, halb schelmisch drein. »Gestern hab ich sie gegessen, weil sie so lecker nach Gänseschmalz und Gewürzen roch und ich nichts zu essen hatte.«

Der Arzt schmunzelte. »Tja, dann werde ich die Kräuter beim nächsten Mal wohl mit Petroleum anmischen müssen. Nein, nein, es ist schon gut.«

Er kramte in einer Tasche, die er an der Seite trug, und warf Folbert drei Weißpfennige in die Kappe. »Davon kannst du dir Brot für ein paar Tage kaufen.« Der Junge wollte sich auf seiner Krücke umdrehen, um sich sein Bier zu sichern. Meister Siebenschön hielt ihn zurück.

»Dieses Mädchen muss eine Nacht im Dom verbringen.«

»Im Dom?« Folbert schüttelte den Kopf. »Warum nicht auf der Treppe am Südportal wie wir alle? Es ist ein warmer Sommerabend.«

Der Jude senkte die Stimme. »Ich möchte nicht, dass der Bettlervogt sie sieht. Er würde sie in seine Dienste zwingen wollen, hübsch wie sie ist.« Folbert betrachtete Lunetta genauer. »Hmm, hübsch, aber mager. Und was ist ihr Gebrechen?«

»Sie ist stumm.«

»Das taugt noch weniger als irre sein oder die Fallsucht«, sagte der kleine Bettler abschätzig. »Dafür lässt sich nichts abschnappen. Stummsein nimmt einem keiner ab. Da müsste sie schon ein paar Kniffe lernen. Ist sie flink mit den Händen?«

»Sie ist nicht hier, um Taschendiebereien zu erlernen, und du lass auch die Finger davon, wenn du sie behalten willst!«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Mein Stumpf ist mein Trumpf, sagt der Bettlervogt, und dann knöpft er mir meine halben Einnahmen dafür ab, dass ich beim Dom sitzen darf.«

»Nun, Lunetta wird morgen mit einem Rheinschiff, das die Jakobsbruderschaft der Brauer gemietet hat, nach Antwerpen reisen. Von dort will sie zum Grab des Sant Jago in Compostela aufbrechen, um für ihre Heilung zu beten. Damit sie bis dahin keiner belästigt, möchte ich, dass du ihr eines eurer Verstecke im Dom zeigst, die ihr in Winternächten nutzt. Du kennst dich doch aus.«

Folbert nickte.

»Gut, hol dir Bier, und wenn die große Glocke zu läuten beginnt, mischst du dich mit Lunetta unter die Betenden.«

Während Folbert sich zu den Beginen drängte, wandte Meister Siebenschön sich ein letztes Mal an Lunetta. Er ging in die Knie. »Ich habe ein Geschenk für dich, das du noch besser verbergen musst als das Geld von Doña Rosalia.«

Rasch schaute er sich um, dann drückte er Lunetta ein Päckchen in die Hand. »Ich habe es vor vielen Jahren aus Florenz mitgebracht.« Lunetta fühlte, um was es sich handelte, und versenkte das Päckchen in einer Rocktasche. Ein Lächeln streifte ihr Gesicht. Sie legte ihre Arme um Meister Siebenschöns Schultern und presste sich an ihn.

»Heda, Judensohn, was treibst du mit der kleinen Pilgerin? Deinesgleichen hat mit Christenkindern nichts zu schaffen«, schnauzte ein Kaufherr in Seide und spuckte aus. Sein Rotz traf Siebenschöns Wange. Neben dem Kaufherrn tänzelte ein Jagdhund.

Der Arzt löste sich aus der Umarmung Lunettas, erhob und verneigte sich. Lunetta stellte sich auf die Zehenspitzen, wischte ihm die Spucke aus dem Gesicht. Der Kaufmann hob seine Hundepeitsche und riss das Mädchen von dem Arzt fort.

»Weißt wohl nicht, was diese Christusmörder mit Kindern wie dir anstellen? Im Chorgestühl des Doms gibt’s schöne Bilder von der Judensau! Diese perversen Schweine fressen Mädchen wie dich am Karfreitag!«

Meister Siebenschön blieb traurig lächelnd stehen, während die Glocken des Doms zum ersten Geläut aufschwangen. Es war Folbert, der Lunetta aus dem Griff des Kaufmanns befreite. Bettelnd drängte er sich auf den Mann zu. Der ließ Lunetta fahren, um nach dem Jungen zu schlagen.

»Pack dich, du Lausesack, oder ich jag dir meinen Hund auf den Leib! Ich wähl mir meine Bettler selbst, und du siehst mir nicht aus wie einer, der ein anständiges Vaterunser für mich zu sprechen weiß.«

Mit diesen Worten verschwand er im Dunkel der Kathedrale. Folbert schickte ihm einen Fluch hinterher und zog Lunetta zum Domportal. Das Mädchen wagte einen Blick auf die schlanke Jakobusfigur mit der Muschel, die neben den anderen Aposteln im Portalbogen thronte. Sein zweigeteilter Lockenbart erinnerte an Meister Siebenschön und daran, dass Jakobus genau wie Jesus Christus Jude war.

Endlich tauchte sie in das Lichtmosaik ein, das die bunten Glasfenster auf den Boden der Kirche malte. Sie eilte Folbert hinterher, der auf den Kapellenkranz hinter dem Hochaltar zuhumpelte. Gerade noch rechtzeitig huschten sie in die Kreuzkapelle. Nur wenige Augenblicke nach ihnen betrat ein weiß gewandeter Dominikaner das Südschiff. Er wurde von zwei Stockknechten begleitet, die sich nach allen Seiten umschauten.

Nachlässig schlugen sie das Kreuz, während von der Sakristei her der Zelebrant und die Ministranten dem Altar zustrebten.

Weihrauch und die lateinischen Gesänge des Introitus füllten das Kirchenschiff, als Lunetta in der Seitenkapelle unter ein Altartuch schlüpfte. Folbert verschwand. Sie kauerte sich gegen den Stein und lauschte dem Mönchschor. Verse des 34. Psalms schlossen den Eröffnungsgesang: »Domine evagina gladium ...«

Lunetta erschrak, als sie die Stimme eines Mannes vernahm, der die Sätze stockend ins Deutsche übersetzte: »Herr, zücke das Schwert« ... »etpraeoccupa ex adverso persequentum ...« »und schütze mich gegen meine Verfolger ...«

Unter dem Saum des Altartuchs erkannte Lunetta die Beine zweier Kniender. Sie mussten sich auf sehr leisen Sohlen hergeschlichen haben.

»... ihr Weg soll finster und schlüpfrig sein, und der Engel des Herrn verfolge sie ... denn sie haben mir ohne Ursache ein Netz gestellt ... Errette meine Seele ... vor den Löwen.«

»Fliestedten, das ist gut und wahr. Wir brauchen kein Messbuchkauderwelsch, keine Pfaffen, die nur ausgewählte Stellen zitieren. Wir brauchen eine deutsche Bibel, die ganze Wahrheit für jedermann! Die Zeit ist reif.«

Lunetta kannte die aufgeregte Stimme des jungen Mannes, der den Übersetzer auf diese Weise anspornte.

»Ich schwöre dir, weiter dafür zu kämpfen, dass jeder die Heilige Schrift lesen und verstehen lernt!«

Die Stimme gehörte Lambert, Sidonias Bruder.

»Ich wette, nicht einmal der Priester versteht, was der Chor da singt. Wie ich die feisten Kuttenhengste und Pfaffenärsche verachte ...«

»Steht auf und folgt mir«, unterbrach die Stimme eines Stockknechts das Geflüster. »Was ich gerade gehört habe, genügt, um euch im Frankenturm festzusetzen!«

»Aber«, begann Lambert zu protestieren, als ein Stockhieb ihn zum Schweigen brachte.

»Halt’s Maul, du Erzketzer. Gegen dich liegt eine Anzeige des Heiligen Tribunals vor. Endlich haben wir dich!«

Lunetta sah den Saum einer weißen Kutte und wusste, wer für die Anzeige gesorgt hatte. Der Löwe des Glaubens hatte wieder zugeschlagen. Nach Kinderart drückte sie die Hände vor ihr Gesicht und kniff die Augen zusammen, so als könne sie das vor der Entdeckung schützen.

Anders als auf dem Seil holte sie diesmal nicht die Erinnerung an Flammen und Brandgeruch ein. Diesmal schmeckte sie Blut in ihrem Mund und sah Sidonias Gesicht. Lunettas Herz schlug in rasendem Takt.

Während die Gemeinde im Dom das Kyrieeleison anstimmte, wurden die beiden Männer abgeführt.

Als der Priester seine Predigt begann, atmete Lunetta auf und zog Meister Siebenschöns Päckchen aus der Rocktasche. Sie schlug das Wachstuch auf und entnahm ihm bunt bemalte Karten. Ein Tarotdeck! Rasch zählte sie die Karten. Es waren 56 Stück. Ein Satz der so genannten kleinen Geheimnisse. Lunetta biss sich auf die Lippen. Nun ja, Meister Siebenschön hatte nicht wissen können, dass ihre 22 großen Trümpfe, die zu einem vollständigen Spiel gehörten, noch im Haus van Berck lagen. Gleichwohl: Mit den 56 kleinen Trümpfen, die in Schwert-, Münz-, Stab- und Kelchkarten aufgeteilt waren und mit diesen Symbolen die Stände der Kämpfer, der Händler, der Bauern und Priester bebilderten, ließ sich das Schicksal durchaus ebenfalls deuten.

Während die Gemeinde dem Gottesdienst lauschte, zog Lunetta ein Bild. Die Frage, die sie dabei stellte, galt nicht ihrem eigenen Schicksal, sondern dem Sidonias. Mit Entsetzen sah sie die Karte der zehn Schwerter: Ihre Klingen durchbohrten den Rücken eines am Seeufer liegenden Mannes. Etwas Entsetzliches musste Sidonia geschehen sein. Der Tod aller Hoffnung oder Schlimmeres. Lunetta faltete die Hände zum Gebet. Die Domgemeinde sprach das Credo. Das Mädchen sog den Duft brennender Altarkerzen ein.

Sie erinnerte sich der Worte ihrer Mutter, die sie im Deuten der Karten unterwiesen hatte: Es gibt keine schlechten Karten, und die guten tragen stets eine Warnung in sich. Padre Fadrique sagt, dass Licht und Finsternis eins sind. Jedem Ende wohnt ein Anfang inne, und in jedem Anfang ist das Ende bereits eingeschlossen. Nur wenn etwas vergeht, kann Neues entstehen.

Immerhin, tröstete Lunetta sich weiter: Die Karte der zehn Schwerter war die kleine Gegenkarte zur großen Trumpfkarte des Teufels. Mit einem Gewaltakt musste es Sidonia gelungen sein, sich dem Zugriff des Mönches zu entziehen, der gerade ihren Bruder ins Verderben gerissen hatte.

Lunetta lüftete das Altartuch und betrachtete die Schwertkarte im Schein der Opferkerzen. Jetzt erkannte sie das Licht am Horizont des Sees und hoffte, dass es Rettung für Sidonia gab. An den Ufern ihres bisherigen Lebens musste sie gescheitert sein, doch vor ihr lag – wie auf dieser Karte – vielleicht das Meer des Lebens.

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