Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 34
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ОглавлениеGabriel Zimenes zog an dem Seil, das er über die Gartenmauer geworfen hatte, es straffte sich, die Eisenkralle hatte auf der anderen Seite Halt gefunden. Noch einmal drehte er sich zu dem Karren und dem Pferd um. Das Pferd zupfte an einem Büschel Löwenzahn. Behände erklomm Gabriel am Seil die Mauer und schwang sich hinüber. Er landete in einem Gebüsch, ging in die Hocke und spähte in den Garten.
»¡Madre de Dios!«, zischte er, als er Sidonias zusammengesunkene Gestalt auf einer Bank erblickte. Im letzten Licht der Abendsonne blinkte das Messer, das ihrer Hand entglitten war. Blut tropfte von ihrem linken Handgelenk herab.
Mit einem Sprung befreite er sich aus dem Gebüsch und huschte zu der ohnmächtigen Sidonia hinüber. Er riss einen Zweig vom Pflaumenbaum und trennte mit seinem Degen einen Streifen Stoff von Sidonias Untergewand ab. Er presste den Zweig auf ihren Arm und schlang den Stoff darum, bis die Blutung zum Stillstand kam. Prüfend betrachtete er den waagerechten Schnitt, den sie sich zugefügt hatte.
»Nicht schräg genug, albernes Kind«, murmelte er. Behutsam bettete er Sidonia auf die Bank. Suchend schaute er sich im Garten um, entdeckte ein Kräuterbeet und eilte hinüber. Mit einem Busch Pfefferminze und Pfefferkraut kehrte er zur Bank zurück und zerrieb die Blätter vor Sidonias Gesicht.
»Komm schon, wach auf«, flüsterte er ungeduldig. Sidonias Mund entschlüpfte ein Stöhnen. Gabriel versetzte ihr eine Ohrfeige. Sidonia fuhr hoch. »Rühr mich nicht an, nie mehr«, rief sie voll Ekel und hob abwehrend die Arme.
»Ich halte dich nur so lange fest, bis du dich beruhigt hast. Der Verband darf nicht verrutschen.«
Sidonia riss die Augen auf und schaute in Zimenes’ Gesicht: »Du? Was machst du hier?«
»Alberne Mädchen davon abhalten, mit Messern zu spielen!«
Sidonia richtete sich in seinen Armen auf. Ihr schwindelte, sie betrachtete ihr verbundenes Handgelenk. »Ich bin nicht tot?«
Gabriel Zimenes lachte auf. »Nach diesem Schnitt hätte es Tage gebraucht, bis alles Blut aus dir herausgeflossen wäre, und du wärest dabei nur vor Langeweile umgekommen. Wen wolltest du mit dieser Posse ärgern? Hat dein Vater dir ein Kettchen verweigert oder ein Kleid?«
Wut verlieh Sidonia die Kraft, sich aus Gabriels Armen zu befreien. Sie wollte sich erheben, doch sie war zu benommen. Stöhnend ließ sie sich auf die Bank zurücksinken.
»Wo ist euer Brunnen?«, fragte Gabriel knapp. Verwirrt wies Sidonia in eine Ecke des Gartens.
»Hm«, machte Gabriel, »scheint weit genug von den heimlichen Gemächern und der Sickergrube entfernt.« Wenig später kehrte er mit dem Schöpfeimer zurück. »Steck deinen Kopf hinein und trink«, befahl er.
»Wasser?«
»Wasser! Es wird dein feuriges Temperament kühlen, Mars scheint dein Geburtsplanet zu sein.«
Zögernd tauchte Sidonia ihr Gesicht in das klare Nass und trank.
»Brav«, sagte Gabriel, als lobe er sein Reitpferd. »Du brauchst viel Flüssigkeit, um dein Blut zu ersetzen, und eine Mahlzeit. So, und nun, da ich dein Leben gerettet habe, hätte ich gern einen Lohn.«
Sidonia wich zurück, als er an sie heranrückte. »Komm mir nicht zu nahe«, flüsterte sie. Panik spiegelte sich in ihrem Gesicht.
Gabriel rückte an das andere Ende der Bank. »Gezierte Unschuld ist mir zuwider, ich will etwas anderes ...«
Sidonia unterdrückte einen Entsetzensschrei und fiel von der Bank auf die Knie. »Bitte nicht das, bitte ...«, flehte sie.
Gabriel schüttelte entgeistert den Kopf. »Es scheint, dass der Blutverlust mehr angerichtet hat, als ich dachte. Er trübt deinen Verstand. So anregend unser Tanz auf dem Fest auch war, ich habe keine Zeit, unsere Freundschaft zu vertiefen. Ich möchte eine Auskunft.«
Sidonia klammerte sich an die Bank. Der Stimme des Spaniers war anzuhören, dass ihn keine Begierde trieb. Sie hasste sich für ihre neue Furchtsamkeit. Würde sie von nun an in jedem Mann einen Feind oder Verführer sehen?
»Wo finde ich Lunetta? Ich bin gekommen, um sie fortzubringen.«
»Lunetta?« Mühsam hob Sidonia den Kopf. »Sie ist nicht mehr hier. Sie hat unser Haus schon vor einer Woche verlassen.«
»¡Maldito!«, entfuhr es Gabriel. Er erhob sich.
»Was willst du von ihr. Wer bist du? Und ...« Sie biss sich auf die Lippen, aber sie musste diese Frage stellen. »Und warum hast du mich vor dem Ritter gewarnt? Wieso hast du gewusst, dass er mich nicht glücklich machen würde?«
Gabriel schaute auf sie hinunter. »Hat er es denn versucht? Ist er tatsächlich hier?«
Sidonia wandte den Blick ab. Der Degenträger war der letzte Mensch, dem sie ihre Schande offenbaren wollte.
»Nein, er ist noch nicht da. Es ... es heißt, er sei tot«, brach es aus ihr hervor. Weinend schlug Sidonia sich die Hände vors Gesicht und schluchzte mit bebenden Schultern.
Gabriel kniete sich betroffen neben sie hin und streichelte ihr geflochtenes Haar.
»Du trauerst um einen dir unbekannten Mann? So heftig, dass du versucht hast, dich umzubringen? Was bist du für ein Kind. Das würde er nicht wollen, falls er noch lebt, glaube mir.«
Sidonia hob jäh ihr Gesicht: »Falls er noch lebt? Was soll das heißen? Ist er nicht beim Untergang seines Schiffs vor Spanien ertrunken?«
Sie wischte ihre Tränen fort, setzte sich auf und legte ihre Hand auf seinen Arm. Unwillkürlich umschloss Gabriel ihre Finger und beobachtete das lebhafte Mienenspiel der jungen Frau, das ihr besser zu Gesicht stand als ihr Zusammenbruch von eben. Sidonias Gedanken arbeiteten fieberhaft.
»Oh bitte, bitte sag mir alles. Du weißt nicht, was für mich davon abhängt!« Der Ritter war der einzige Mensch, der die Machenschaften seines Bruders Aleander gefahrlos aufdecken konnte. Wenn er der Mann von Ehre war, als den man ihn bezeichnete, würde er seinen Bruder vernichten, der es auf sein Erbe und seinen Titel abgesehen hatte. Vielleicht würde er sie sogar als seine Frau anerkennen, die sie auf dem Papier ja war!
»Ist Adrian von Löwenstein nicht ertrunken?«
Gabriels Miene verschloss sich. »Ich selbst war Arzt an Bord der Amorosa und habe den Untergang des Schiffes überlebt.«
»Und der Ritter?«
Gabriel stand auf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er niemals vorhatte, dem Befehl seines Vaters zu gehorchen und dich zu heiraten. Er würde niemals dein Mann werden. Begrabe deine Mädchenträume! Du bist jung und reizvoll. Du wirst einen anderen betören.«
In Sidonias Augen funkelte Hass: »Hier geht es nicht um Mädchenträume! Ich will keine Träume. Es geht um einen Vertrag!« Verächtlich schaute Gabriel auf sie hinab: »Dann galten deine Tränen also nur dem Verlust des Grafentitels und einer Adelshochzeit? Ich war kurz davor, dich nicht für derart eitel und herzlos zu halten.«
»Mein Herz geht niemanden etwas an!«
»Da du keines zu haben scheinst, würde es auch niemanden interessieren. Um dem Ehegeschäft eurer Väter zu entgehen, wählte Adrian von Löwenstein den Weg in die Neue Welt. Er wollte sich und den seinen als Konquistador ein neues Vermögen erkämpfen.« Heißblütiger Narr, der er war, fügte Gabriel in Gedanken hinzu. Löwensteins Kampf um seine Ritterehre und lohnende Beute hatte vielen Indios das Leben gekostet. Doch das würde der Tochter eines gewinnsüchtigen Kaufmanns wohl kaum die Lust am Adelsstand verderben: »Eine Heirat mit dir kam für den Ritter nie in Frage. Gleichgültig für wie begehrenswert du dich hältst.«
Auch Sidonia richtete sich auf. Die Dämmerung war in Finsternis übergegangen, ein Käuzchen schlug an. Ihr Gesicht hob sich bleich gegen die Dunkelheit ab.
»Was kannst du darüber wissen? Hat er einem armseligen Schiffsarzt etwa seine Pläne offenbart?«
»Adrian von Löwenstein hat nur eine Frau geliebt«, erwiderte Zimenes. »Meine Schwester Mariflores. Eine Frau, die es wert war, geliebt zu werden, obwohl sie keinen Ochavo besaß. Er hat sie vor seiner Abreise in die Neue Welt geheiratet.«
»Das ... das ist eine Lüge«, stammelte Sidonia. »Eine Lüge!«
»Ihre Tochter, meine Nichte Lunetta, ist der Beweis seiner jahrelangen Zuneigung!« Gabriel kämpfte gegen den Schmerz, der in ihm aufstieg. Mariflores hatte die Liebe des Ritters teuer bezahlen müssen! Wenigstens ihr Kind musste er retten.
»Lunetta?« Sidonia schnappte nach Luft und ballte ihre Hände. Die Schnittwunde an ihrem linken Handgelenk jagte einen rasenden Schmerz durch ihren Leib, doch der wog gering gegen die Verletzungen, die Gabriel ihrem Stolz zufügte. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen: »Das Mädchen ist elf oder zwölf Jahre alt und eine Gauklerin! Sie spielt mit ketzerischen Karten herum ... Sie ...«
»... ist die Tochter des Ritters.«
»Wenn Adrian deine Schwester erst vor seiner Abreise heiratete, dann ist Lunetta ein Bastard, ein Kind der Schande ...«
Gereizt bis aufs Blut unterbrach Gabriel sie: »Durch die Heirat ist sie eine von Löwenstein! Mehr als du je sein wirst!«
»Aber deine Schwester ist und bleibt eine ...«, Sidonia hielt inne, dann spie sie ihm das Wort ins Gesicht, »eine Dirne! Eine Hure!«
Gabriels Miene versteinerte. »Womit die Heirat ein umso deutlicherer Beweis für die aufrichtige Liebe des Ritters Adrian von Löwenstein wäre. Aber davon scheinst du nichts zu verstehen. Und nun entschuldige mich, ich muss das Kind finden, bevor es ein anderer tut.«
Als Gabriel verschwunden war, sank Sidonia auf die Bank und schlug die Hände vors Gesicht. Eine böse Lust hatte sie dazu getrieben, dem Spanier das Wort Hure entgegenzuschleudern. So als könne sie es damit von sich abstreifen. Aber es verschaffte ihr keine Erleichterung. Im Gegenteil. Sie bereute ihren Ausbruch und fand sich nur noch abscheulicher. Lunetta war doch nur ein Kind! Ein Kind mit sehr traurigen Augen. Wer wusste schon, was das Schicksal ihr angetan hatte. Immerhin gab es einen Menschen, der alles riskieren würde, um sie zu retten. Wehmütig betrachtete sie die Mauer, über die Gabriel verschwunden war. Wenn sie nur auch ihrem Schicksal entfliehen dürfte, wenn es nur einen Menschen gäbe, der ihr Geld geben und zur Flucht verhelfen könnte.
»Komm ins Haus, Sidonia, ich habe mit dir zu reden!«
Sidonia fuhr herum und wusste mit einem Mal, dass im Eingang zum Weinkeller die einzige Person stand, die verzweifelt und entschlossen genug war, um sich mit ihr zu verbünden.