Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 45

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Bis in den Golf von Biscaya hielt der nordöstliche Wind an. Die Negrona kam gut voran. Dann setzte eine Flaute ein, während sich am südlichen Horizont Wolken bildeten. Das Schiff schwieg bis auf ein leichtes Knarren des Holzes. In der Biscaya kündigten Flauten oft das Aufeinandertreffen verschiedener Wetterzonen an, die den Himmel von einem Moment zum nächsten in eine Gewitterhölle verwandelten.

Der Kapitän ließ alles Zeug reffen. Mit trockenem Baum lenzte das Schiff in der schwachen Dünung. Die Matrosen wurden erbarmungslos auf Trab gehalten, um nicht ins Denken zu verfallen. Die Negrona dümpelte unterhalb von Bordeaux vor einer Flussmündung, die als Piratennest bekannt war.

Wie ein fetter Käfer im Netz einer Spinne hing das Schiff fest. Bei ablandigem Wind aus den Pyrenäen würde es den wendigen Küstenkaravellen der Korsaren ein Leichtes sein, die schwer beladene Galeone aufzubringen, bevor sie volle Fahrt aufnehmen könnte. Besonders gefährdet wäre im Fall eines Angriffs die Karacke, die in einigem Abstand auf dem Wasser schaukelte.

Auf der Negrona wurden der Schiffsrumpf nachgeteert, die Pumpen überholt, Segel geflickt und Taue gespleißt. Die Mannschaft fluchte, die Passagiere standen überall im Weg. Es war einfacher für die Besatzung, wenn das Schiff Fahrt machte, dann musste nur das Notwendige getan werden, und dazwischen gab es Ruhe.

Die Kölner Pilger versammelten sich an der Reling des Achterkastells, um den Herrn des Wetters mit Gebeten gnädig zu stimmen. So kurz vor dem Ziel – in der Ferne schwebte die baskische Nordküste – überfiel sie Ungeduld. Sie bekräftigten ihre Bitte um Wind mit dem Versprechen, in jeder Kapelle auf dem Camino Inglés, auf dem sie von La Coruña bis Santiago wandern würden, einen Rosenkranz zu beten.

Der Brauer Sebald Rieter übertrumpfte seine Reisegenossen mit einem Versprechen von fünfzig Dukaten für die Kathedrale von Burgos, die während der letzten Jahrzehnte von einer Kölner Baumeistersippe gestaltet worden war. Seine Großzügigkeit entsprach seinem kölnischen Geschäftssinn. Die Spende würde auch Kaiser Karl gefallen und ihn vermuten lassen, dass von den Herren der Domstadt noch mehr Geld zu erwarten war.

Rieter lag daran, Köln als Ratsherr würdig zu vertreten. Es hing viel vom Wohlwollen des Kaisers ab. Etwa der Entzug der Braurechte für die Klöster der Domstadt. Der Rat würde einiges dafür springen lassen müssen, um das zu erreichen. Dukaten nahm Karl wie Birnen, er brauchte sie für seine Feldzüge. Im Osten drohten Türken, auf italienischem Boden kämpfte er mit Frankreichs König und dem Papst, in Deutschland gegen den Ketzer Luther und überall gegen Piraten. Er hatte riesige Schulden. Die Zinsen überstiegen die Einnahmen aus der Alten und der Neuen Welt. Gegen bares Geld war vom Kaiser manches zu haben: Schürfrechte in Peru, Quecksilberminen in Österreich, das Handelsmonopol für Negersklaven, das sich die deutschen Welser gesichert hatten, außerdem spanische Bischofshüte, Hofämter, Landgüter sowie Zoll- und Steuerrechte, die den Kölnern wie Riete am Herzen lagen.

»Diese Narren behandeln Gott wie einen Krämer«, knurrte Aleander in seinem weißen Zelt. Er saß an einem Brettertisch, der ihm als Schreib- und Essplatz diente. Die Ration Schweinepökel, die ihm ein Schiffsjunge gebracht hatte, stand unberührt da. Er hatte nach Hühnchen verlangt, doch der Schiffsjunge hatte den Wunsch ignoriert. Sidonia hatte nur Zwieback verspeist.

Ein Bretterverhau bildete die Rückwand des Zeltes, davor war ein Bettgestell mit Vorhängen im Deck verankert. Auf diesem Bett lag Sidonia und fächelte sich Luft zu. Die Frische der Nacht war brütender Hitze gewichen. Widerwillig betrachtete sie Aleanders blonde Tonsur und seinen langen Rücken. Mit gebeugten Schultern saß er an seiner Theorie über das pyramidale Schweigen des Buchstabens A. Eine Feder kratzte über Papier.

Als sie zum ersten Mal einen Blick auf den Stapel Blätter geworfen hatte, die er mit spinnendürren Buchstaben füllte, hatte sie Neugier überfallen. Was schrieb dieser Dämon? Eine Offenbarung seiner nachtschwarzen Seele? Anklageschriften?

In den Momenten seines Schlafes – und Aleander schlief viel – hatte sie einige Seiten gelesen und wurde enttäuscht. Es handelte sich um eine Schrift für die Pariser Universität, mit der er einen Professorentitel zu erlangen suchte. Paris! Hatte dort nicht auch Gabriel studiert? Was der Dominikaner verfasste, war langweilig und gespreizt. Soviel sie verstand, ging es um den Ursprung der Sprache aus Gott und das Mysterium der Buchstaben. Er ließ sie gegeneinander antreten wie Soldaten, lobte das A für sein »pyramidales Schweigen« und seine göttliche Perfektion, kritisierte das B für seine Behäbigkeit und belegte seine Ansichten mit Wortketten und Zitaten aus der scholastischen Lehre. Seine Beweise waren geschwätzig und unglaubwürdig. Zu gerne hätte sie einen Kommentar Gabriels darüber gehört.

Beim Buchstaben C hatte Sidonia beschlossen, diesen Unsinn für Unsinn zu halten, zumal Aleander einen Denkfehler machte: Gottes erste Sprache – so es eine solche gab – müsste das Hebräische sein, nicht das Lateinische. Und für wen hielt er sich überhaupt, Gottes Sprache auf die Schliche kommen zu können? Fast war es ihr peinlich zu entdecken, dass der Dominikaner bei aller Schläue unendlich dumm war – oder waren das am Ende viele der großen Gelehrten der Theologie? Nicht alle. Gabriel war anders. Seufzend ließ sie sich ins Kissen sinken. Wieso quälte sie sich mit Gedanken an diesen Mann. Ihre Lage war schlimm genug.

Aleander fuhr herum. »Du störst mich bei der Arbeit!« Sein Gesicht war rot vor Zorn und Hitze. Sie ahnte den Grund: Der Kampf mit den Buchstaben war ein vergeblicher, und bei aller Eitelkeit schien er seinen Mangel an Intellekt zu ahnen.

»Ist mein Schweigen nicht pyramidal genug?«, entschlüpfte es Sidonia. Sie bereute ihre Frechheit sofort.

Aleander stieß seinen Stuhl nach hinten und näherte sich dem Bett. »Du hast in meinen Papieren geschnüffelt!«

Sidonia zog sich an die Bretterwand zurück. »Ich habe nur einen Blick darauf geworfen.«

»Und nichts verstanden. Nichts! Ich werde dir wohl wieder zeigen müssen, wozu du auf der Welt bist.«

Roh riss er ihr das lose Hemd herab. In der ersten Nacht hatte Sidonia sich freiwillig entkleidet, um ihre Schätze – das Buch von Mariflores, ihr Geld und die Karten – unbemerkt in ihrem Kleiderbündel verbergen zu können. Nackt bis aufs Hemd schlief sie mit Aleander in dem Bett. Er hatte seine Annäherungen nach einer heftigen Vereinigung in der Nacht ihrer Entdeckung nicht wiederholt. Jetzt schien ihm die Zeit gekommen, die Demütigung zu erneuern.

Abwehrend hob Sidonia die Hände. »Wage es nicht, oder ich schreie.«

»Schrei so viel du willst, ich werde dir das Maul schon stopfen.«

Er stieß sie nach hinten. Sidonia prallte gegen die Wand, richtete sich auf, obwohl sie wusste, dass sie unterliegen würde und dass diese Kämpfe ihm Lust verschafften und seine Machtgefühle stärkten. Draußen stimmten die Pilger einen Lobgesang an. Es war, als sollte sie inmitten einer Messe vergewaltigt werden. Ähnliches schien auch Aleander zu imaginieren. Feierlich streifte er seine Kutte ab und präsentierte sich in seiner Nacktheit.

»Küss mich«, befahl er. »Du weißt, wie.«

Sidonia verschloss die Lippen. Dieser Mann war verworfener als Satan selbst. Er stand vor dem Bett und packte sie bei den Schultern. »Knie dich hin.« Er hob drohend seine Rechte. Draußen auf dem Achterkastell erklang das Vaterunser. Aleander betete es mit.

Sidonia schüttelte voll Ekel den Kopf. »Eher sterbe ich!«

Aleander lächelte. »Oh, das hat noch Zeit, und ich weiß, dass du nicht sterben willst. Du hast – anders als ich – eine Schwäche für das Leben.«

Er stieß sie zurück auf das Bett und warf sich auf sie. Seine Kraft war beängstigend. Sidonia fragte sich, was ihm solche Stärke verlieh, denn sein Leib war eher sehnig als muskulös. Taub für ihre eigenen Empfindungen, spürte sie die Wölbungen der Narben, die über seinen Oberkörper liefen, auf ihrer Brust. Sie fühlte mit einem Mal den Schmerz, den ihm diese Verletzungen verursacht haben mussten, und wusste, dass der Schmerz, den er ihr zufügte, dem Schmerz und den Demütigungen gleichen sollte, die er nicht von sich abschütteln konnte. Ihn trieb die Lust einer hässlichen Seele, Rache am Schönen zu nehmen, an der Lust genau wie am Leben selbst.

Was, wenn sie keine Schmerzen mehr empfinden würde bei dem, was er tat? Wenn sie nicht mehr sein Opfer wäre, das sich hilflos wehrte und dadurch sein Gefühl von Macht nur nährte? Sie schloss die Augen. Sie dachte an das Haus ihres Vaters, reiste in Gedanken zurück in ihre Kindheit, sah sich als kleines Mädchen, spielend und voll Unschuld. Sie war keine Frau. Wenigstens in Gedanken konnte sie sich aus ihrem Leib und der Gegenwart entfernen. Was geschah, geschah nicht ihr, sondern einem toten Leib, der keine Schmerzen kannte.

Aleander drang in sie ein. Sie öffnete die Augen nicht, sondern zwang sich gleichmütig zu atmen und nichts zu empfinden. Sie konnte das Treiben zweier fremder Körper ohne Teilnahme beobachten. Der Dominikaner hielt verblüfft inne. Weder sie noch Aleander bemerkten die Hand, die die Zeltbahnen des Eingangs teilte, und das Augenpaar, das kurz ins Zelt blickte.

»Hör nicht auf«, flüsterte Sidonia einer Eingebung folgend. Zu ihrer Verwunderung fiel ihr die Vortäuschung von Lust leichter als vergeblicher Widerstand. Nichts zu empfinden verschaffte ihr wenigstens die Macht, die Demütigung zu verkürzen. Der Dominikaner würde sie nie dorthin verfolgen können, wo sie nun war. Im Land ihrer Kindheit, sorglos, beschützt und geliebt. Sollte er mit ihrem Leib nur verfahren, wie er wollte, über ihre Empfindungen würde er keine Macht gewinnen.

Unvermittelt zog Aleander sich aus ihr zurück. Sidonia riss die Augen auf – hatte sie den Satan besiegt?

»Glaube nicht, dass du Spiele mit mir treiben kannst, kleine Hure«, zischte der Dominikaner. »Das haben schon viele Weiber vor dir versucht. Die Frau meines Bruders habe ich dafür brennen lassen. Und glaube mir, sie war reizvoll und – wahrhaft demütig.«

Mit einer raschen Bewegung riss er ihr Kleiderbündel hoch, schüttelte es aus. Die Geldbörse plumpste heraus, Mariflores’ Buch fiel hinterher, die Tarotkarten verteilten sich flatternd über den Boden.

»Auch ich habe in deinen Papieren geschnüffelt! Du weißt also, wer Mariflores war und wie sie starb. Lass es dir eine Warnung sein, und betrüge mich niemals.«

Sidonia lag erstarrt auf dem Bett.

Der Dominikaner schlüpfte in seine Kutte. »Eine Frau wie dich wird in Spanien jeder Dorfrichter ohne Prozess hängen.«

Er hob die Lederbörse auf und entleerte sie auf dem Bett. Er griff nach dem Amulett. »Und sei es wegen Diebstahls. Woher hast du dieses indianische Götzenbild, Weib?«

Sidonia schaute zu Boden.

»Nun? Wer macht dir solche exotischen Geschenke? Wen kennst du, der im Neuen Indien war?«

Sidonia schwieg beharrlich.

»Einen Inquisitor kann man nicht täuschen. Ich weiß bereits, dass Gabriel Zimenes an Bord ist. Er reiste an der Seite meines Bruders. Du bist eine Närrin, wenn du glaubst, dass dieser Mann dir helfen wird.«

Überrascht fuhr Sidonia hoch. Sie hatte es geahnt: Aleander kannte Zimenes! Aber wie kam der Mönch darauf, dass ausgerechnet Gabriel ihr helfen würde? Er verachtete sie. So wie sie ihn verachtete. »Ich kenne niemanden mit diesem Namen.«

Aleander lächelte böse: »So? Glaube mir, dieser Mann ist bereits tot. Ich habe ihn gestern vom Kommandanten des Schiffes verhaften lassen.«

Sidonia unterdrückte einen Laut des Entsetzens.

»Solltest du zarte Gefühle für ihn hegen, so wird es mir ein Vergnügen sein, sein Sterben besonders prächtig zu inszenieren! Schließlich hat er in Köln den bedauernswerten Pancheo abgestochen, wie der Soldat der Kölner Gesandtschaft bezeugen konnte. In seiner Kabine fand sich ein Haufen Ketzerlektüre, und in Spanien liegt ein Urteil der Heiligen Inquisition gegen ihn vor.«

»Er tötete Pancheo in Notwehr«, protestierte Sidonia.

Aleander hob das Haupt, und Sidonia erkannte, dass er sie absichtlich provoziert hatte, um das Geständnis ihrer Bekanntschaft mit Gabriel zu erwirken.

Sie senkte den Blick.

Zimenes! Seine spöttischen Augen, seine schneidende Stimme, sein kalter Zorn – alles vereinigte sich in ihr mit einem Mal zum Bild des einzigen Mannes, der es mit Aleander aufnehmen konnte. Es war ein lichtumflossenes Bild – so dunkel Zimenes auch war mit seinen schwarzen Locken, seinen tiefbraunen Augen, seiner Düsternis. Anders als Aleander verachtete er das Leben nicht, gleichgültig, wie kalt er sich gab. Seine leidenschaftliche Rede im Hafen hatte ihn verraten. Er verachtete den Tod in jeder Form, besonders den Mord an Seelen! Und das könnte ihm genau die Macht und Stärke verleihen, die dem Dominikaner gefährlich war. Zimenes war ein Krieger des Lichts, kein Sklave der Finsternis wie Aleander. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schwerthieb. Sie hätte bei Zimenes bleiben sollen! Er wäre der gute Stern gewesen, den die Karte ihr in seiner Kabuse angekündigt hatte. Dass sie die Karte verkehrt herum gezogen hatte, war ein Hinweis gewesen, bei ihm zu verharren.

Alles kommt zu dem, der warten kann, hatte Mariflores notiert. Wie Recht sie hatte. Sidonias Mut sank. Ungeduld war schon immer ihre größte Untugend gewesen. Zum ersten Mal begriff sie etwas von der versteckten Botschaft der Karten. Auch eine Warnung konnte ein Geschenk sein, ein Hindernis, eine Chance, über sich hinauszuwachsen.

Ihre Augen suchten den Boden ab und blieben an dem Bild eines reitenden Skeletts hängen. Es war die Karte La muerte. Der Tod ritt auf einem weißen Pferd vor hellem Himmel über die Leiche eines Königs hinweg. Ein Kind und ein Bischof gingen ihm freudig entgegen. Sicher war es Mariflores am Ende so ergangen. Der Tod bedeutete das Ende aller Schmerzen und Irrtümer. Der Tod konnte ein Verbündeter sein – wenn auch der letzte. Verflucht! Sie wollte nicht sterben. Und sie wollte nicht, dass Gabriel starb. Sie hob den Kopf. »Mich interessiert dieser Mann nicht«, sagte sie mit gespielter Kälte.

Aleander streichelte ihr über das Haar.

»Oh Sidonia, was für ein schlechter Versuch, mich zu täuschen. Wie hättest du ohne männliche Hilfe hierher gelangen können? Zimenes ist ein Held der Frauen, der in lächerlicher Liebe an seiner Schwester hing. Die Damen schätzen ihn, und ausgerechnet du mit deinen Träumen von Rittern und Abenteurern willst die Ausnahme sein?«

Bevor Sidonia antworten konnte, erscholl der Ruf »¡Viento!« – Wind. Mehr als Wind. Ein Sturm zog hoch, in der Ferne rollte ein Donner. Das Schiff verfiel in rollende Bewegungen, die nichts Gutes verhießen. War das die Antwort Gottes auf die Gebete der Pilger?

Oder, dachte Sidonia wütend, war es die Antwort des Tarots auf ihren Wunsch nach Leben?

Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band

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