Читать книгу Wie viele Sekunden hat das Glück - Marita Schöneweiß - Страница 5

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Einleitung

Die alte Turmuhr der kleinen Kirche, die mitten im Ort stand, unterbrach mit ihrem dumpfen Schlag die Stille des Nachmittags.

Der Himmel zeigte sich heute grau in grau über dem kleinen Dorf, das so friedlich an dem Flüsschen lag.

Etwas über 120 Einwohner zählte der Ort und die Bewohner kannten sich untereinander. Hier gab es keine Geheimnisse. Alles, was geschah, ob ein Bewohner erkrankte oder etwas Erfreuliches passierte, war sehr schnell Gesprächsstoff in der kleinen Gemeinde.

Auch die Hilfsbereitschaft der hier Ansässigen untereinander konnte nicht besser sein. So war es schon früher gewesen und bis heute hatte sich nichts daran geändert.

Zwar war die Zeit viel hektischer geworden und dennoch fanden die Leute noch Zeit, sich hin und wieder zu treffen und miteinander zu feiern.

Schon seit Tagen lag der Schneegeruch in der Luft und eine Schar von Schneegänsen war vor Kurzem lärmend über den Ort hinweggezogen.

Schließlich zeigte das Kalenderblatt immerhin den 5. November und in den früheren Jahren lag in dieser Zeit bereits schon Schnee.

Aber in den letzten Jahren war das nicht mehr so. Das Klima hatte sich wohl verändert und der Winter hielt viel später seinen Einzug.

Auch war es nicht mehr so eisig und so schneereich wie früher. Dafür gab es nun verstärkt Stürme, Regen, Überschwemmungen und gravierende Temperaturunterschiede, die vielen Menschen große Beschwerden bereiteten.

So grau, wie sich heute der Himmel gab, sah auch das kleine Dorf in dieser Jahreszeit aus. Die Menschen, die hier lebten, stellten zwar schon bei Herbstbeginn Blumenschalen mit Heidekraut, Tannenzweigen oder anderen herbstlichen Gewächsen auf die Treppenstufen oder Hofeinfahrten, aber das machte dieses Dorf in der trüben Jahreszeit auch nicht viel freundlicher.

Da war es im Frühjahr und in den Sommermonaten anders, wenn in dem ganzen Dorf die Blumen blühten. Jeder Bewohner war bemüht, sein Haus, Balkon oder Fenster mit den herrlichsten Blumen zu verschönern.

Die Geranien in leuchtenden Farben schmückten die Balkone oder sie hingen prachtvoll von den Fensterbänken herab.

Auch die Blumen in den Gärten und Vorgärten trugen dazu bei, dass alles so freundlich und einladend aussah.

Frauen hörte man auf der Dorfstraße miteinander reden und lachen. Am Abend stieg oft der Grillgeruch aus den einzelnen Gärten empor, die Kinder tollten herum, die Amseln und Meisen saßen in den Zweigen, erfreuten jeden, der sich im Freien befand, mit ihrem herrlichen Gesang und die Enten und Gänse auf dem kleinen Fluss schnatterten den lieben langen Tag. Sie ließen sich von der ruhigen und schwachen Strömung des Wassers hin und her schaukeln.

Das Sonnenlicht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche wieder und es sah so aus, als ob tausende funkelnde Diamanten das Flussbett bedeckten.

Hier unten an dem Flüsschen konnte wirklich jeder, der die Natur nur ein wenig liebte, Ruhe und Entspannung finden, so herrlich und beruhigend war dieses Fleckchen Erde.

Die umliegenden Wälder gaben dem kleinen Dorf noch den nötigen romantischen Charme dazu.

So war es im Frühjahr, wenn das erste Grün der Bäume sichtbar wurde, in den Sommermonaten, wenn alles in voller Blüte stand und auch noch in der Herbstzeit, wenn sich die Blätter der Sträucher und Bäume in ihre herbstlichen Farben verwandelten.

Aber in den trüben Novembertagen, wenn die Bäume ihre Äste kahl zum Himmel streckten, die Vögel verstummten, kein Schnattern der Enten und Gänse zu hören war, keine Kinder auf den Straßen spielten und nicht ein einziger Sonnenstrahl sichtbar wurde, sah auch dieses Dorf trüb und grau aus.

Heute jedoch, wenn man hoch zum Himmel blickte, könnte es fast möglich werden, dass sich die Wolken öffneten, die Schneeflocken zur Erde fielen und in kurzer Zeit die Landschaft mit einem weißen Mantel bedeckten.

Im Wohnzimmer der Familie Neubauer aber saß zu dieser Zeit eine kleine Geburtstagsgesellschaft und feierte den 89. Geburtstag der einstigen Bäuerin Katharina Neubauer. Sie war die älteste Mitbürgerin dieses Ortes und vor genau 74 Jahren, am 20. Oktober 1927, heiratete sie den ältesten Sohn von dem Neubauer Hof.

Zwei Söhne und eine Tochter schenkte sie ihrem Mann Heinrich.

Der Neubauer Hof hatte im weiten Umkreis einen sehr guten Namen für die vortreffliche Bewirtschaftung des Hofes, die Gastfreundlichkeit und das gute Miteinanderleben auf diesem Hof. Für das alles waren die Bewohner bekannt.

Heute aber saß die einstige Bäuerin im Kreise ihrer Kinder, Enkel und Urenkel, feierte ihren 89. Geburtstag und freute sich, dass alle den Weg zu ihr gefunden hatten.

Ansonsten saß Katharina in ihrem geliebten Ohrensessel, dessen festen Platz vor dem großen Wohnzimmerfenster war, sah hinaus auf den Hof und bestaunte die neuen großen Maschinen, welche im Laufe der Jahre Einzug in die Landwirtschaft gefunden hatten.

Von der modernen Technik wollte Katharina nicht mehr so viel wissen. Sie staunte zwar sehr darüber, wie viele Maschinen es heute gab, aber schüttelte mit dem Kopf, als ihr Enkelsohn sie darüber aufklärte, dass der Computer die Fütterungsmenge der Tiere ausrechnete, ihnen es auch zuteilte und dass jede Kuh im Computer gespeichert war. Das kam ihr zu kompliziert vor und sie wehrte dann, Hände hebend ab, um nicht noch mehr zu erfahren.

Zu ihrer Zeit war alles anders gewesen. Die Arbeit war zwar hart und dennoch hatte sie die Landwirtschaft immer geliebt. Es war herrlich gewesen, wenn das Heu heimgefahren wurde, die Ernte gut war und in den Wintermonaten am Abend alle beieinander saßen.

Heute aber war einfach alles anders. Vor einem Jahr hatte ihr ältester Sohn Franz, seinem Sohn Michael den Hof überschrieben. Zur Zeit lebten auf dem Neubauer Hof vier Generationen unter einem Dach zusammen.

Wie schon früher aßen auch heute noch die Neubauers und zwar gemeinsam in der großen Küche, Michael mit seiner Frau Monika und ihren Kindern, Katharina und ihr Sohn Franz mit seiner Frau Anna. Jede Familie jedoch hatte ihren eigenen Wohnbereich. Nach dem Abendbrot zogen sie sich dorthin zurück. Und so waren sie tagsüber die meiste Zeit zusammen. Am Abend war jedoch jede Familie für sich alleine. Dann konnte jeder das tun, was er gerade wollte und keiner brauchte Rücksicht auf die anderen zu nehmen. So gab es auf dem Neubauer Hof so gut wie keine Streitigkeiten untereinander, denn jedes Familienmitglied hatte seine Aufgaben, für die es verantwortlich war.

Der Neubauer Hof war ein sehr schöner, alter Hof, im Fachwerk erbaut, sehr sauber und im Sommer gab es reichlich Blumen, die jeden Besucher erfreuten.

Blickte Katharina aus ihrem Schlafzimmerfenster, sah sie weit über Felder und Wiesen hinweg, im Hintergrund das vielfältige Grün der Wälder, sie hörte das lustige Zwitschern der Vögel in den Bäumen und das aufgeregte Schnattern der Enten und Gänse auf dem kleinen Fluss.

So oft Katharina hinaussah, war es für sie immer wieder ein ganz neues Erlebnis und die Freude über diesen schönen Anblick wurde sie nicht leid.

Große Wiesen grenzten an den Stall, sodass die Kühe gleich ins Freie laufen konnten.

Nach und nach hatten die meisten Dorfbewohner ihre Landwirtschaft abgegeben, weil sie nicht die Größe hatten, um alle Familienmitglieder zu ernähren oder die jungen Leute wollten einfach mehr Freizeit. Sie hatten ihren eigenen Beruf und noch nebenbei in der Landwirtschaft zu arbeiten, das wollten sie einfach nicht.

Doch für die Neubauers kam das nicht in Frage. Sie liebten die Landwirtschaft und in den letzten Jahren kauften sie sogar noch Land oder pachteten es dazu.

Jeder in der Familie konnte es sich nicht vorstellen, irgendetwas anderes zu machen, trotz des frühen Aufstehens oder das immer Bereitstehen zum Beispiel wenn Kälber geboren wurden oder ein Tier erkrankte. Auch das nicht in den Urlaub fahren, wenn andere fuhren, das alles akzeptierten sie. Anders kannten sie es nicht und sie wollten es auch nicht anders haben.

Katharina hoffte, dass auch ihr Urenkel Moritz diesen Hof einmal weiter bewirtschaftet, aber dies würde sie nicht mehr erleben.

So wie diese Geschichte über das Leben der einstigen Bäuerin Katharina Neubauer mit all seinen Höhen und Tiefen wiedergibt, so hätte sie sich überall in einem kleinen Dorf abspielen können.

Irgendwo auf einem Bauernhof, nicht nur in dem kleinen Dorf in Nordhessen.

Überall, wo die Menschen jahrein - jahraus auf den Feldern ihre Arbeit verrichten, die nicht die Lust an der Landwirtschaft verloren haben und die Liebe für Land und Tier bis in die heutige Zeit behielten. Die den Kampf aufnahmen mit den Kräften der Natur, sich abfinden mussten und müssen mit Trockenheit, Regen, Hagel und Sturm. Überall! Aber dort, wo das Wasser des kleinen Flüsschens in aller Stille dahinfließt, dort steht das Bauernhaus, der Neubauer Hof.

Wie viele Sekunden hat das Glück

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